Perlmanns Schweigen - Teil 101
Tunnel. Der Laden der zahnlosen Alten lag im Dunkeln und kam ihm vor wie eine ausrangierte Traumkulisse. Es war Viertel nach sechs und noch finsterste Nacht.
Es konnten nur zwei, höchstens drei Kilometer sein. Nur einige wenige Kurven. Aber hinter dieser Biegung war es noch nicht, und hinter der nächsten auch nicht. Aus dieser Richtung betrachtet sah alles ganz anders aus. Plötzlich, so schnell, daß er es gar nicht glauben wollte, war er schon bei der Tankstelle, wo er den ersten Versuch gemacht hatte, Leskovs Text – auszusetzen. Ja, das war das treffende Wort. Er hielt vor dem dunklen Häuschen und versuchte sich zu erinnern, wie es danach gewesen war. Das Erinnern war zähflüssig, nichts kam von selbst zurück. Im Wagen war es heiß und stickig, er war die ganze Zeit mit voll aufgedrehter Heizung gefahren. Aber vom Lüften wurde ihm kalt, und er ließ die Scheibe wieder hochsurren. Die Gesichtshaut spannte und fühlte sich an wie Papier.
Wozu war er eigentlich hier? Am Ende würde er einen Stoß verdreckter und zerfetzter Blätter in der Hand halten. Und dann? Was in aller Welt wollte er Leskov denn sagen, wenn er ihm den Stoß überreichte? Es müßte, das war klar, eine Geschichte sein, die von einem Versehen, einer Ungeschicklichkeit, einer unbeabsichtigten Dummheit handelte. Und außerdem müßte aus dieser Geschichte hervorgehen, warum er seine Dummheit erst heute, gerade heute, entdeckt hatte. Perlmann spürte, wie sein Kopf leer wurde und wie sich diese Leere mit einer lähmenden Müdigkeit füllte. Es ließ sich mit dem besten Willen und auch bei Aufbietung aller, selbst der abenteuerlichsten Phantasie nicht erklären, wie der Text aus dem geschlossenen Handkoffer und dem geschlossenen Kofferraum hatte in den Dreck hinausgelangen können, ohne daß jemand seine Hände dabei planvoll im Spiel gehabt hatte.
Ein erster Schimmer von diffusem, grauem Licht erhellte die geschlossene Wolkendecke. Ab und zu kam jetzt ein Auto. Wenn er einfach nach Genua weiterfuhr, war er kurz vor acht am Flughafen, und dann würde bald der Schalter von AVIS aufmachen. Aber ich kann die Blätter doch nicht einfach hier liegen- und vermodern lassen. Das ist ausgeschlossen. Er muß den Text zurückbekommen. Irgendwie.
Perlmann fuhr langsam los, noch langsamer als am Montag. Dort vorn in der Kurve war der Lastwagen mit den aufgeblendeten Lichtern aufgetaucht, den er erst noch vorbeigelassen hatte. Und tatsächlich: Vor der Kurve lag auch schon das erste helle Blatt im Straßengraben. Der Anblick elektrisierte ihn, und mit einemmal war er hellwach. Hastig, als könne sich das Papier im letzten Moment seinem Zugriff entziehen, stieg er aus und bückte sich. Es war ein Stück halbdurchsichtiges, zerknittertes Einwickelpapier. Er konnte seine Hand nicht bremsen, sie mußte es anfassen. Jetzt hatte er Mayonnaise an den Fingern. Angeekelt rieb er sie an der Hose ab und stieg wieder ein.
Die nächste Kurve konnte es auch nicht gewesen sein, da war weit und breit kein Papier zu sehen. Es war die übernächste. Perlmann sah die vielen hellen Blätter im Graben schon von weitem und beschleunigte wie auf einer Zielgeraden. Er parkte mit zwei Rädern im Graben, kletterte aus dem schräg stehenden Wagen und lief atemlos hin. Die Blätter lagen oft weit auseinander, aber an zwei Stellen waren mehrere aufeinander gefallen und bildeten unregelmäßige Häufchen. Perlmann legte sie auf den Kühler. Gestern mußte hier die Sonne geschienen haben, die beiden obersten Blätter waren jeweils getrocknet. Das blasse Gelb war fast vollständig ausgeblichen, die Blätter wellten sich, und es sah aus, als hätten sie Blasen. Dann kamen einige, die feucht geblieben waren, und darunter mehrere, die in der Mitte gar keinen Regen abbekommen hatten. Nur an den Rändern waren sie alle naß und grau vor Schmutz. Auf den obersten Blättern war die Tinte zerlaufen, die beiden ersten waren nur noch schwer lesbar, dann wurde es besser.
Bisher waren es siebzehn Blätter, darunter die Seite 77. Jetzt kamen die einzelnen, weit verstreuten Blätter im Graben an die Reihe. Als Perlmann sich nach dem ersten bückte, fuhr ein Auto vorbei, und der Fahrtwind wehte drei Seiten vom Kühler herunter. Er hastete zurück und sammelte sie auf. Die eine Seite war unter die Räder geraten und eingerissen worden. Verärgert legte er den gesamten Stoß auf die Fußmatte vor dem Beifahrersitz. Aus dem Graben kamen zwei Dutzend Seiten zusammen. Die Hälfte war vollständig verschmiert, aber Leskov würde den Text noch rekonstruieren können. Bei den anderen, die mit der Schrift nach unten gelegen hatten, war es etwas besser. Aber auch bei ihnen hatten sich die runden Buchstaben von Leskovs sorgfältiger Handschrift häufig an den Rändern aufgelöst und flossen nach außen. An diesen Stellen war der Grund nicht mehr gelb, sondern ein verwaschenes Hellblau, das ins Grün hinüberschimmerte. Aber der Text war noch leserlich. Die Blätter, die in einer Schneise gelegen hatten, waren von der Sonne getrocknet worden und bogen sich, die anderen waren aufgeweicht und eklig anzufassen.
Danach mußte Perlmann die steile Böschung oft weit hinaufsteigen, um das nächste Blatt zu holen. An vielen klebte Erde, einige waren zerknittert und hatten Risse. Einmal glitt er auf dem feuchten Untergrund aus, aus dem Fußgelenk durchfuhr es ihn wie mit Messern, und er wäre fast gestürzt. Im letzten Moment konnte er sich an einem Grasbüschel festkrallen. Nun hatte er Erde unter den Fingernägeln. Von hier bekam er vierzehn Seiten zusammen, unter anderem die Seite 79, auf der zwar unten ein bißchen Raum war, die aber noch nicht die letzte sein konnte, da keine Adresse draufstand. Es fehlten also noch mindestens fünfundzwanzig Blätter. Erschöpft lehnte er sich an den Kühler und rauchte.
Mittlerweile war es zwanzig vor acht und taghell. Der Verkehr nahm zu, und jetzt kam ihm der erste Lastwagen entgegen. Er hatte eine viel zu schmale Stoßstange und einen ungeschützten Benzintank. Als er vorbei war, kam Perlmann, der mitten in einer schwarzen Rauchwolke stand, mit Staunen und Erleichterung zu Bewußtsein, daß das Herzklopfen ausgeblieben war. Nur die Zigarette war ihm unbemerkt auf die Straße gefallen. Es war, dachte er, als habe sich zwischen ihm und den Lastwagen eine erste dünne Trennwand gebildet, eine erste schützende Distanz, die sich mit der Zeit immer weiter vergrößern würde, bis er eines Tages auch den roten Nebel würde vergessen können. Vorausgesetzt, er hat seinen Text wieder.
Es waren erstaunlich viele Blätter auf die Böschung geweht worden, die auf der anderen Seite der Straße nach unten abfiel. Der Boden dort war weich und feucht, und einmal versank Perlmann bis über den Schuhrand im Morast. Die Blätter hatten auf den Grasspitzen aufgelegen und waren nur wenig verschmutzt. Mit zwei Ausnahmen hatten sie mit der Schrift nach unten gelegen und waren noch lesbar. Jetzt hatte er insgesamt siebenundsechzig Seiten geborgen. Er suchte mit den Augen einen größeren Umkreis ab, langsam, methodisch, Fleck für Fleck, das Ganze dreimal. Nicht das geringste Gelb war mehr auszumachen. Die aufgehende Sonne drückte durch die Wolkendecke, und Perlmann sah blinzelnd hoch. In den Spitzen zweier hoher Büsche hing noch je ein Blatt. Es dauerte zum Verzweifeln lang, bis sie schließlich heruntersegelten, und er mußte mit seinem wütenden Schütteln einen komischen Anblick geboten haben, denn der gelbe Schulbus fuhr auffallend langsam, und die Kinder zeigten lachend auf ihn.
Das eine Blatt war die erste Seite mit dem Titel. Name stand keiner darunter. Das Blatt war geknickt und hatte von einem Zweig ein Loch bekommen, aber das Lesen war kein Problem. Jetzt fehlten noch mindestens elf Seiten. Perlmann blickte auf die Räder der vorbeifahrenden Autos und stellte sich vor, wie die Blätter vielleicht an solchen Reifen haftengeblieben und dann rhythmisch zwischen Gummi und Asphalt gepreßt worden waren, um schließlich zerfetzt irgendwo liegenzubleiben.
Als die Straße für eine Weile leer blieb, fiel sein Blick auf ein braunes Rechteck, das einen Teil der weißen Markierung in der Straßenmitte verdeckte. Es war eine Seite von Leskovs Text, von Regen und Schmutz durchtränkt und zahllose Male überfahren. Er hob es an einer Ecke an, aber das Papier war mürbe und riß sofort ein. Eine Unterlage. Ratlos öffnete er das Handschuhfach und sah die Landkarte, die Signora Morelli ihm Samstag nacht geliehen hatte. Er faltete sie zur Hälfte auf und schob sie vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, unter das matschige Blatt. Auf dem Deckel des Kofferraums fing er an, die Seite mit dem Taschentuch sorgfältig abzutupfen, als sei es ein wertvoller archäologischer Fund.
Es war die Seite 58. In der Mitte hatte Leskov eine Zwischenüberschrift hingeschrieben. Es war gerade noch soviel zu erkennen, daß es sich um zwei ziemlich lange Wörter gehandelt hatte, davor die Ziffer 4. Aber die Tinte war nahezu vollständig zerlaufen, sie hatte sich mit dem Dreck vermischt, und es war nur noch ein Geschmiere übrig. Perlmann wischte mit einem anderen Zipfel des Taschentuchs noch einmal über die Wörter. Vielleicht ließ sich etwas von den alten Tintenspuren, die in St. Petersburg aufs Papier gekommen waren, freilegen, wenn man die verdünnte und zerlaufene Tinte, die nun darüber lag, wegtupfte. Und tatsächlich wurden Anhaltspunkte sichtbar. Aber sie reichten nicht, um eine eindeutige Wortfolge auszumachen. Er zündete eine Zigarette an. Das letzte Wort, da wurde er sich immer sicherer, mußte prosloe, Vergangenheit, gewesen sein. Aber er konnte sich nun mindestens drei Varianten vorstellen: iskaennoe prošloe, die entstellte Vergangenheit; pridumannoe prošloe, die erfundene Vergangenheit; obmančivoe prošloe, die trügerische Vergangenheit. Und sogar noch eine vierte: zastyvšee prošloe, die geronnene Vergangenheit. Daß er zastyvat’, gerinnen, kannte, hatte er einem Betrachter von Agnes’ Fotografien zu verdanken, der es gewagt hatte, ihre besondere Art, die lebendige Gegenwart im Bild festzuhalten, mit dem Prozeß der Gerinnung zu vergleichen. Ihr Zorn war