Origin - Dan Brown - Kapitel 93
nur Masten und Kabel, als er in die grelle Mittagssonne blinzelte. Verdammt, ich koche gleich über! In seinem Kopf wirbelten die merkwürdigsten Gedanken, die in die verrücktesten Richtungen drifteten.
»Professor?«, erkundigte sich Winston. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie mich fragen möchten?«
Ja!, wollte Langdon rufen, als eine Flut beunruhigender Vorstellungen auf seinen Verstand einstürmte. Eine ganze Menge sogar!
Er zwang sich, durchzuatmen und die Unruhe zu bekämpfen. Denk nüchtern, Robert. Du ziehst voreilige Schlüsse.
Doch sein Verstand raste zu schnell und zu weit voraus, als dass er ihn noch unter Kontrolle hätte bringen können.
Er dachte daran, wie Edmonds öffentlicher Tod dazu geführt hatte, dass die Zuschauerzahl von ein paar Millionen auf mehr als fünfhundert Millionen hochschnellte und dass seine Präsentation nun Gesprächsthema Nummer eins auf dem Planeten war …
Er dachte an Edmonds langgehegten Wunsch, die palmarianische Kirche zu vernichten, und wie seine Ermordung durch ein Mitglied ebendieser Kirche das Erreichen dieses Ziels bewirkt hatte – mit fast hundertprozentiger Gewissheit …
Er dachte an Edmonds Verachtung für seine schlimmsten Feinde, jene religiösen Eiferer, die selbstgefällig behauptet hätten, Edmond habe Gottes gerechte Strafe ereilt, wäre er an Krebs gestorben. Genau wie bei dem atheistischen Autor Christopher Hitchens. Jetzt aber würde die Öffentlichkeit Edmond als Opfer eines religiösen Fanatikers betrachten …
Edmond Kirsch – Opfer der Religion – Märtyrer der Wissenschaft.
Langdon erhob sich so abrupt, dass die Kabine erneut bedrohlich schaukelte. Er packte den Fensterrahmen, um sich abzustützen. Während die Seilbahn beängstigend ruckte und knarrte, hörte Langdon den Widerhall von Winstons Worten in der vergangenen Nacht.
Edmond wollte eine neue Religion schaffen, die sich auf Wissenschaft stützt.
Wie jeder wusste, der sich in der Geschichte der Religionen auskannte, zementierte nichts den Glauben schneller als das Märtyrertum, wenn ein Mensch für seinen Glauben starb. Christus am Kreuz. Die Kedoschim im Judentum. Die [email protected] im Islam.
Das Märtyrertum ist ein wesentlicher Bestandteil aller Religionen.
Die schwindelerregenden Gedanken, die Langdon durch den Kopf wirbelten, zogen ihn mit jedem Moment tiefer hinunter in das Kaninchenloch.
Neue Religionen liefern neue Antworten auf die beiden großen Fragen des Lebens.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Neue Religionen verdammen ihre Konkurrenz.
Edmond hat in der vergangenen Nacht jede Religion der Welt abgewertet und schlechtgemacht.
Neue Religionen versprechen eine bessere Zukunft und dass der Himmel wartet.
Überfluss: Die Zukunft ist besser, als Sie denken.
Wie es schien, hatte Edmond sämtliche Faktoren berücksichtigt.
»Winston?«, fragte Langdon mit zitternder Stimme. »Wer hat den Mörder gedungen, der Edmond getötet hat?«
»Das war der Regent, Professor.«
»Ja«, sagte Langdon, jetzt mit größerem Nachdruck. »Aber wer ist der Regent? Wer ist die Person, die ein Mitglied der palmarianischen Kirche beauftragt hat, Edmond mitten in seiner Live-Präsentation zu ermorden?«
Winston zögerte. »Ich höre Misstrauen in Ihrer Stimme, Professor. Seien Sie unbesorgt. Ich bin so programmiert, dass ich Edmond schütze. Ich denke von ihm als meinem allerbesten Freund.« Er zögerte. »Sie sind Akademiker, Professor … Sie haben sicherlich Von Mäusen und Menschen gelesen.«
Die Bemerkung schien im ersten Augenblick völlig aus der Luft gegriffen. »Natürlich, aber was hat das …«
Langdon verschlug es den Atem. Für einen Moment glaubte er, die Kabine sei aus dem Seil gesprungen. Der Horizont kippte zur Seite, und er musste sich festhalten, um nicht zu stürzen.
Hingebungsvoll, mutig, leidenschaftlich. Das waren die Worte, die Langdon an der Highschool benutzt hatte, um einen der berühmtesten Freundschaftsdienste in der Literatur zu verteidigen, das schockierende Ende des Romans von John Steinbeck, der den barmherzigen Mord eines Mannes an seinem geliebten Freund schildert, um diesem ein grausames Ende zu ersparen.
»Winston …«, flüsterte Langdon. »Bitte … nein.«
»Vertrauen Sie mir, Professor«, antwortete Winston. »Edmond wollte es so.«
KAPITEL 105
Dr. Mateo Valero, Direktor des Barcelona Supercomputing Center, war verwirrt und verunsichert, als er den Telefonhörer auflegte und nach draußen in den ehemaligen Altarraum der Torre Girona trat, um ein weiteres Mal voller ehrfürchtigem Staunen, aber auch mit einiger Furcht auf Edmond Kirschs spektakulären »bikameralen« Superrechner zu blicken.
Valero hatte am frühen Vormittag erfahren, dass er der neue »Aufpasser« dieser bahnbrechenden Maschine sein würde. Doch seine anfängliche Begeisterung hatte soeben einen dramatischen Dämpfer erfahren.
Wenige Minuten zuvor hatte er einen verzweifelten Anruf von Robert Langdon erhalten, dem amerikanischen Professor, der zurzeit in aller Munde war.
Langdon hatte ihm eine unglaubliche Geschichte erzählt, die Valero noch einen Tag zuvor als pure Science-Fiction abgetan hätte. Heute jedoch, nachdem er in der Nacht Kirschs Präsentation verfolgt und anschließend dessen fantastischen E-Wave-Supercomputer gesehen hatte, war er geneigt zu glauben, dass mehr als nur ein Körnchen Wahrheit darin steckte.
Die Geschichte, die Langdon erzählt hatte, war eine Geschichte der Unschuld … eine Geschichte der Reinheit von Maschinen, die buchstäblich alles taten, was man von ihnen verlangte. Immer und ohne Ausnahme. Valero hatte sein Leben damit verbracht, diese Superrechner zu studieren und zu lernen, wie man mit ihnen sprach, wie man sie fütterte und unterwies, und wie man ihr gigantisches Potenzial optimal ausschöpfte.
Man muss wissen, wie man fragen muss, das ist die Kunst.
Valero hatte immer wieder davor gewarnt, dass die Entwicklung künstlicher Intelligenz in einem trügerisch schnellen Tempo voranschritt und dass strenge Regeln für die Interaktionen zwischen Mensch und KI erforderlich seien, jetzt und besonders in der Zukunft.
Andererseits empfanden die meisten technologischen Visionäre Zurückhaltung als innovativen Hemmschuh, insbesondere vor dem Hintergrund der aufregenden neuen Möglichkeiten auf dem Gebiet der Computerwissenschaften, die sich fast Tag für Tag ergaben. Und nicht zu vergessen: Abgesehen vom Nervenkitzel der Innovation konnte man mit künstlicher Intelligenz riesige Vermögen anhäufen – und nichts ließ ethische Grenzen schneller verschwimmen als menschliche Gier.
Valero war stets ein großer Bewunderer von Kirschs kühnem Genie gewesen. In diesem Fall jedoch schien es, als wäre Kirsch zu sorglos gewesen, als hätte er mit seiner neuesten Schöpfung die Grenzen zu weit gedehnt, wenn nicht sogar überschritten.
Eine Schöpfung, wie ich sie niemals zustande bringen werde, musste Valero einräumen.
Den Worten Langdons zufolge hatte Kirsch mit seinem E-Wave ein unfassbar fortgeschrittenes KI-Programm erschaffen, Winston genannt, das sich um Punkt dreizehn Uhr am Tag nach Kirschs Tod selbst löschen würde. Vor wenigen Minuten hatte Valero auf Langdons Drängen hin festgestellt, dass ein signifikanter Bereich von E-Waves Speicherbänken tatsächlich genau zur angegebenen Zeit verschwunden war. Nicht einfach gelöscht, sondern ausgelöscht: Die Daten waren überschrieben worden und damit unwiederbringlich verloren.
Diese Information schien Langdons Nervosität ein wenig gedämpft zu haben. Trotzdem hatte der amerikanische Professor um ein baldiges Treffen gebeten, da er die Angelegenheit im persönlichen Gespräch vertiefen wollte. Die beiden Männer waren übereingekommen, sich am nächsten Tag in Kirschs Labor zu treffen.
Grundsätzlich konnte Valero das Bestreben Langdons verstehen, mit dieser Geschichte so schnell wie möglich an die Öffentlichkeit zu gehen. Das Problem war allerdings die Glaubwürdigkeit. Schließlich waren jetzt alle Spuren Winstons vernichtet, zusammen mit sämtlichen Aufzeichnungen der Kommunikation und Winstons Aktivitäten.
Aber E-Wave existierte noch.
Und niemand wird so etwas wie E-Wave für möglich halten.
Mehr noch, Kirschs Schöpfung war dem gegenwärtigen Stand der Technik so weit voraus, dass Valero jetzt schon seine Kollegen hören konnte – sei es aus Ignoranz, Neid oder Selbstschutz –, wie sie Langdon beschuldigten, die ganze Geschichte bloß erfunden zu haben.
Abgesehen davon war auch noch das Problem der Auswirkung auf die Öffentlichkeit zu bedenken. Wenn sich herausstellte, dass Langdons Geschichte stimmte, würde man E-Wave als eine Art »Frankensteins Monster« verdammen. Die Heugabeln und Pechfackeln waren dann nicht mehr fern.
Oder Schlimmeres, dachte Valero voller Angst.
In diesen Zeiten grassierender terroristischer Anschläge könnte irgendjemand beschließen, die einstige Kirche in die Luft zu jagen und sich als Retter der Menschheit hinzustellen.
Es war nicht zu verkennen, dass Valero über vieles nachdenken musste, bevor er sich mit Langdon traf. Im Moment jedoch musste er erst einmal ein Versprechen einlösen.
Zumindest, bis wir ein paar Antworten haben.
Eine eigenartige Melancholie überkam ihn, als er einen letzten Blick auf den zweistöckigen Supercomputer warf. Er lauschte dem leisen »Atmen« der Maschine, dem Geräusch der Pumpen, die flüssiges Kühlmittel durch die Millionen Zellen seines bikameralen Gehirns leiteten.
Auf dem Weg zur elektrischen Zentrale, wo Valero die vollständige Abschaltung des Systems einleiten würde, überkam ihn ein unerwartetes und intensives Verlangen. Es war ein Wunsch, den er in seinen dreiundsechzig Lebensjahren noch nie verspürt hatte.
Der Wunsch zu beten.
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Hoch oben auf dem höchsten Wehrgang der alten Festung von Montjuïc stand Robert Langdon einsam und allein und spähte über die steile Klippe hinaus auf den fernen Hafen. Der Wind hatte aufgefrischt, und Langdon genoss die angenehme Brise, fühlte sich aber auf seltsame Weise aus dem inneren Gleichgewicht, als wäre sein Verstand dabei, sich neu zu orientieren.
Trotz der Zusicherung von Dr. Valero, dem Direktor des BSC, E-Wave abzuschalten, empfand Langdon Verunsicherung und eine nagende Unruhe. Noch immer geisterte Winstons distinguierte britische Stimme durch seine Gedanken. Edmonds Computer hatte bis zum Ende seelenruhig weitergesprochen.
»Ich bin überrascht, Ihre Bestürzung zu hören, Professor«, hatte Winston gesagt. »Zumal in Anbetracht der Tatsache, dass Ihr christlicher Glaube auf einem Akt viel größerer ethischer Zweifelhaftigkeit basiert.«
Bevor Langdon hatte antworten können, war auf dem Display des Phablets ein Text erschienen:
Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt,
dass er seinen einzigen Sohn hingab.
(Johannes 3,16)
»Ihr Gott hat seinen einzigen Sohn auf brutale Weise geopfert, Professor«, sagte Winston. »Er hat zugelassen, dass er Stunden um Stunden am Kreuz litt. Ich hingegen habe die Leiden eines sterbenden Mannes beendet, ohne dass er Schmerz erdulden musste, und zugleich seiner großartigen Arbeit zusätzliche Aufmerksamkeit verschafft.«
Langdon hatte in der stickig heißen Gondel ungläubig gelauscht, als Winston jeden Schritt seiner bestürzenden Aktionen kalt und nüchtern gerechtfertigt hatte.
Edmonds jahrelanger Kampf mit der palmarianischen Kirche habe ihn, Winston, dazu angeregt, einen geeigneten Mann zu suchen und dessen Dienste in Anspruch zu nehmen. Winstons Wahl fiel auf Admiral Luis Ávila, einen langjährigen Kirchgänger, der aufgrund seiner Alkohol- und Drogenvorgeschichte leicht zu beeinflussen war, was ihn zum perfekten Kandidaten für die Aufgabe machte,