Origin - Dan Brown - Kapitel 9
drehte sich zu ihm um und musterte ihn von oben bis unten. »Ach, wirklich? Dann erläutern Sie mir doch bitte dieses Kunstwerk.«
Mit dem größten Vergnügen. Langdon trat vor die primitiven Zeichnungen, die in die Lehmoberfläche gedrückt worden waren.
»Nun, als Erstes hat Edmond dieses Stück in Lehm als Hommage an die früheste Schriftsprache der Menschheit betitelt: Keilschrift.«
Die Frau blinzelte verwirrt.
»Die drei tief eingedrückten Zeichen in der Mitte«, fuhr Langdon fort, »stehen für das Wort ›Fisch‹ auf Assyrisch. So etwas nennt man Piktogramm. Wenn Sie Ihre Fantasie ein wenig bemühen, erkennen Sie einen Fisch, der mit offenem Maul nach rechts schwimmt, sowie die dreieckigen Schuppen auf seiner Haut.«
Die Besucher betrachteten das Lehmbild mit neu erwachtem Interesse und schief gelegtem Kopf.
»Und hier«, fuhr Langdon fort und deutete auf eine Reihe von Vertiefungen links von dem Fisch, »sehen Sie Fußspuren im Lehm. Sie versinnbildlichen den evolutionären Schritt des Lebens vom Wasser auf das Land.«
Mehrere Umstehende nickten anerkennend.
»Und schließlich dieses unregelmäßige Sternchen ganz rechts – das Symbol, das der Fisch anscheinend verschlingen will«, erläuterte Langdon. »Es ist eines der ältesten Symbole der Menschheit für Gott.«
Mrs. Botox musterte ihn stirnrunzelnd. »Ein Fisch, der Gott frisst?«
»So sieht es aus. Es ist eine verspielte Version des Darwin-Fisches: Die Evolution frisst die Religion.« Langdon zuckte die Schultern. »Wie ich bereits sagte, sehr durchdacht.«
Als er davonging, konnte er die Menge hinter sich murmeln hören. Winston lachte. »Sehr amüsant, Professor. Edmond hätte sich über Ihren improvisierten Vortrag sehr gefreut. Nicht viele Menschen sind imstande, dieses Werk zu entziffern.«
»Nun ja«, sagte Langdon. »Genau genommen ist das mein Beruf, nicht wahr?«
»Ja. Und ich verstehe jetzt, warum Mr. Kirsch mich aufgefordert hat, Sie als besonderen Gast zu behandeln. Er hat mich sogar gebeten, Ihnen etwas zu zeigen, das keiner der anderen Gäste heute Nacht zu sehen bekommt.«
»Ach wirklich? Und was?«
»Sehen Sie rechts von den Fenstern den Gang mit der Absperrung davor?«
Langdon blickte in die angegebene Richtung. »Ja, sehe ich.«
»Gut. Dann halten Sie sich jetzt bitte an meine Anweisungen.«
Ein wenig unsicher befolgte Langdon Winstons Schritt-für-Schritt-Instruktionen. Er ging zu der Absperrung, blickte sich suchend um, ob jemand ihn beobachtete, drückte sich diskret hinter den Pfosten hindurch und schlüpfte in den Gang, sodass er aus dem Blickfeld verschwand.
Nachdem er die Menge im Atrium hinter sich gelassen hatte, ging er ein Dutzend Schritte weiter bis zu einer Tür mit einem numerischen Tastenfeld.
»Tippen Sie die folgenden sechs Ziffern ein«, sagte Winston und nannte die Kombination.
Langdon tippte den Code ein. Das Schloss klickte vernehmlich.
»Gut, Professor. Bitte treten Sie ein.«
Langdon verharrte einen Moment, unsicher, was ihn erwartete. Dann gab er sich einen Ruck und drückte die Tür auf. Der Raum dahinter lag in nahezu völliger Dunkelheit.
»Ich mache das Licht für Sie an. Schließen Sie bitte die Tür hinter sich.«
Langdon schob sich vorsichtig weiter nach vorn, wobei er angestrengt in die Dunkelheit spähte. Das Schloss klickte, als er die Tür hinter sich zudrückte.
Nach und nach erstrahlte weiches Licht und gab den Blick frei auf einen der größten Säle, die Langdon je gesehen hatte, so gigantisch wie ein Hangar für eine ganze Flotte von Jumbo-Jets.
»Dreitausendzweihundert Quadratmeter«, sagte Winston in Langdons Kopf.
Der Saal ließ das Atrium geradezu winzig erscheinen.
Als das Licht immer intensiver wurde, erblickte Langdon eine Ansammlung wuchtiger, hausgroßer Umrisse auf dem Steinboden – sieben oder acht gedrungene Silhouetten, wie Dinosaurier auf einer Weide.
»Was ist das denn, um Himmels willen?«, fragte er entgeistert.
»Professor, darf ich Ihnen The Matter of Time vorstellen? Mit mehr als vierhundertfünfzig Tonnen ist es das schwerste Objekt im Museum.«
Langdon hatte immer noch Mühe, sich zurechtzufinden. »Und warum bin ich alleine in diesem Saal?«
»Wie ich bereits sagte, Mr. Kirsch hat mich gebeten, Ihnen diese erstaunlichen Objekte zu zeigen.«
Die Leuchtkraft hatte nun das Maximum erreicht. Der Saal wurde von weichem Licht durchflutet.
Sprachlos blickte Langdon auf die Szenerie, die sich ihm darbot.
Großer Gott, ich bin in einem Paralleluniversum!
KAPITEL 7
Almirante Luis Ávila erreichte die Sicherheitskontrolle des Museums und warf einen Blick auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass er im Zeitplan lag.
Perfekt.
Ávila legte den Angestellten mit der Gästeliste sein Documento Nacional de Identidad vor, den Personalausweis. Für einen Moment ging sein Puls schneller, als sie seinen Namen nicht auf der Liste entdecken konnten. Dann aber fanden sie ihn – ganz unten, hinzugefügt in letzter Minute. Ávila durfte eintreten.
Genau wie der Regent mir versichert hat, ging es ihm durch den Kopf.
Wie er das fertiggebracht hatte, vermochte Ávila nicht zu sagen: Die Gästeliste an diesem Abend war angeblich vollkommen »wasserdicht«.
Er setzte seinen Weg zum Metalldetektor fort, wo er sein Mobiltelefon auf den Tisch legte, ehe er mit äußerster Vorsicht einen außergewöhnlich schweren Rosenkranz aus der Jackentasche zog und über das Handy legte.
Vorsichtig, ermahnte er sich. Ganz vorsichtig.
Der Sicherheitsmann winkte ihn durch den Metalldetektor und trug die Schale mit den persönlichen Gegenständen außen herum zur anderen Seite.
»Qué rosario tan bonito«, sagte der Mann bewundernd beim Anblick des metallenen Rosenkranzes, der aus einer dicken Perlenkette mit einem massiven, abgerundeten Kreuz bestand.
»Gracias«, bedankte sich Ávila. Ich habe ihn selbst entworfen.
Er durchquerte den Detektor ohne Zwischenfall. Auf der anderen Seite nahm er sein Handy und den Rosenkranz wieder an sich und verstaute beides vorsichtig in den Taschen, bevor er seinen Weg zu einer zweiten Kontrolle fortsetzte, wo man ihm ein ungewöhnliches Audio-Headset reichte.
Ich brauche keinen Audioguide. Ich bin hier, um zu arbeiten.
Als er das Atrium durchquerte, ließ er das Headset diskret in einen Mülleimer fallen.
Das Herz schlug Ávila bis zum Hals, als er nach einer Stelle Ausschau hielt, an der er ungestört sein würde. Er musste den Regenten kontaktieren und ihn wissen lassen, dass er ohne Probleme ins Museum gelangt war.
Für Gott, Vaterland und König, dachte er. Vor allem für Gott.
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In einem der abgelegensten Winkel der im Mondlicht schimmernden Wüste von Dubai kroch in genau diesem Augenblick der ehrwürdige, achtundsiebzigjährige Al-‘Allāma Syed al-Fadl mit letzter Kraft durch den tiefen Sand.
Al-Fadls Haut war verbrannt und von Blasen übersät und seine Kehle so rau, dass er kaum noch Luft bekam. Der heulende Wind, der den körnigen Sand vor sich herpeitschte, hatte ihn bereits vor Stunden geblendet, doch er quälte sich immer noch voran. Einmal glaubte er, das ferne Brummen von Wüstenbuggys zu hören, doch es war vermutlich nur das Orgeln des Windes. Al-Fadls Zuversicht, dass Gott ihn retten würde, war längst tiefer Resignation gewichen. Die Geier kreisten nicht mehr über ihm; sie hüpften neben ihm her.
Der große Spanier, der al-Fadl in der vergangenen Nacht in dessen eigenem Wagen entführt hatte, hatte kaum ein Wort gesprochen, als er immer tiefer in die Wüste vorgedrungen war. Nach einer Stunde Fahrt hatte er angehalten, al-Fadl aus dem Wagen geworfen und ohne Wasser und Nahrung in der Dunkelheit zurückgelassen.
Al-Fadls Entführer hatte weder seine Identität offenbart, noch hatte er eine Erklärung für sein Tun geliefert. Der einzige Hinweis war ein seltsames Emblem in der rechten Handfläche des Spaniers gewesen – ein Symbol, das al-Fadl nicht kannte.
Stundenlang hatte der alte Mann sich mühsam durch den Sand geschleppt und mit brüchiger Stimme vergeblich um Hilfe gerufen. Irgendwann war er entkräftet und nahezu völlig ausgetrocknet in den erstickenden Sand gesunken. Er hatte gespürt, wie sein Herz nach und nach aufgab, während er sich eine allerletzte Frage stellte – die gleiche Frage, die ihm seit Stunden immer wieder durch den Kopf gegangen war.
Wer will meinen Tod?
Erschreckenderweise fand er darauf nur eine einzige schlüssige Antwort.
KAPITEL 8
Robert Langdons Blick schweifte von einem der kolossalen Exponate zum nächsten. Jedes Stück war ein riesiges Blech aus angerostetem Stahl, schwungvoll gebogen und behutsam auf die Kante gestellt, sodass es eine gewölbte, freistehende Wand bildete. Die stählernen Ungetüme waren fast fünf Meter hoch und besaßen verschiedene fließende Formen. Es gab ein welliges Band, einen offenen Kreis, eine weite Spirale.
»The Matter of Time«, wiederholte Winston. »Der Stoff der Zeit von Richard Serra. Da die Wände nicht abgestützt sind, entsteht angesichts des tonnenschweren Materials die Illusion von Instabilität, nicht wahr? In Wirklichkeit sind diese Wände extrem standfest. Wenn Sie sich eine Dollarnote vorstellen, die Sie um einen Stift wickeln, bleibt sie von allein stehen, sobald Sie den Stift wegziehen, gestützt durch ihre eigene Geometrie.«
Langdon verharrte vor dem riesigen Ring aus Metall. Das Material war oxidiert und schimmerte in einem braunen Kupferton, der eine beinahe organische Beschaffenheit zu besitzen schien. Alle sieben Objekte strahlten ungeheure Wucht und Schwere aus, vermittelten zugleich aber den Eindruck eines empfindlichen, exakt ausgewogenen Gleichgewichts.
»Ihnen ist sicher aufgefallen, Professor, dass die erste Figur nicht ganz geschlossen ist.«
Langdon umrundete das Gebilde und stellte fest, dass die Enden der Wand sich nicht ganz trafen – als hätte ein Kind versucht, einen Kreis zu malen, und sich beim Schließen dieses Kreises knapp verschätzt.
»Die schräge Lücke bildet einen Durchgang ins Innere, der den Besucher einlädt, den negativen Raum darin zu erkunden.«
Es sei denn, dieser Besucher leidet an Klaustrophobie, dachte Langdon und ging rasch weiter.
»Ich darf Ihre Aufmerksamkeit nun auf die drei wellenförmigen Bänder aus Stahl lenken. Wie Sie sehen, stehen sie in paralleler Anordnung und so nahe beieinander, dass sie zwei geschwungene Gänge von mehr als dreißig Metern Länge bilden. Dieses Werk heißt The Snake. Besonders unsere jungen Besucher haben ihren Spaß daran, durch das Objekt hindurchzurennen. Und noch etwas ist interessant: Zwei Personen, die an entgegengesetzten Enden des Objekts stehen, können sich im Flüsterton unterhalten. Es hört sich für sie an, als stünden sie einander direkt gegenüber.«
»Sehr bemerkenswert, Winston. Aber würdest du mir bitte verraten, warum Edmond so daran gelegen ist, dass du mir diese Objekte zeigst?« Schließlich weiß er, dass ich mit dieser Art von Kunst nicht viel anfangen kann.
»Darauf komme ich gleich. Das Objekt, auf das ich Ihre besondere Aufmerksamkeit lenken soll,