Origin - Dan Brown - Kapitel 76
wurde, nun tatsächlich zur nächsten vollen Stunde (03.00 Uhr Ortszeit Barcelona) in einem Livestream offenbart wird – überall auf der Welt!
Die Zuschauerzahlen schießen Meldungen zufolge explosionsartig in die Höhe. Nie zuvor haben sich weltweit so viele Menschen ins Netz eingeloggt.
Einer damit im Zusammenhang stehenden Nachricht zufolge sind Robert Langdon und Ambra Vidal soeben dabei beobachtet worden, wie sie die Torre Girona betreten haben, eine ehemalige Kirche und Sitz des Barcelona Supercomputing Center, wo Kirsch dem Vernehmen nach während der letzten Jahre gearbeitet hat.
Ob der Livestream von dort aus gesendet wird, kann ConspiracyNet zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestätigen.
Bleibt dran für Kirschs epochale Präsentation – als Livestream hier auf ConspiracyNet!
KAPITEL 86
Als Prinz Julián durch das eiserne Tor in den Berg vordrang, beschlich ihn das beklemmende Gefühl, nie wieder das Tageslicht zu sehen.
Das Tal der Gefallenen. Was tue ich hier?
Der Raum hinter der Schwelle war kalt und dunkel, nur schwach erhellt von zwei elektrischen Fackeln. Die Luft roch nach feuchtem Stein.
Vor ihnen stand ein Mann in Uniform, einen Ring mit leise klimpernden Schlüsseln in der zittrigen Hand. Julián war nicht überrascht, dass der Offizier der Patrimonio Nacional nervös war: Ein halbes Dutzend Agenten der Guardia Real standen in einer Reihe hinter ihm in der Dunkelheit.
Mein Vater muss hier sein, erkannte Julián. Ohne Zweifel war der Offizier mitten in der Nacht hierherbeordert worden, um Francos heiligen Berg für den König zu öffnen.
Einer der Agenten trat vor. »Príncipe Julián, Excelencia Valdespino – wir haben Sie erwartet. Hier entlang, bitte.«
Der Mann führte sie zu einer massiven schmiedeeisernen Tür, auf der das finstere Emblem der Franquisten zu sehen war, ein grimmig blickender Adler, der an die Symbole der Nazis erinnerte.
»Seine Majestät befindet sich am Ende der Halle«, sagte der Agent und winkte sie durch die halb geöffnete Tür.
Julián und der Bischof wechselten einen unsicheren Blick, ehe sie über die Schwelle traten. Dahinter wurden sie von zwei bedrohlich aussehenden Metallskulpturen empfangen: zwei Todesengel mit Schwertern in Gestalt eines Kreuzes.
Noch mehr religiös-militärische Symbole der Franquisten, dachte Julián, während er und Valdespino den langen Weg durch das ausgedehnte tunnelartige Gewölbe antraten.
Die unterirdische Halle, die sich vor ihnen auftat, war so stilvoll ausgestattet wie der Ballsaal im königlichen Palast von Madrid. Der Boden bestand aus poliertem schwarzen Marmor; die hohe Decke war mit einem geschwungenen Kassettensystem ausgekleidet. Alles wurde erhellt von einer scheinbar endlosen Reihe von Wandleuchten, die Fackeln nachgebildet waren.
In dieser Nacht wirkten die Lichtquellen in der Halle noch weitaus dramatischer als sonst. Dutzende von Behältern – Schalen, wie Pistenfeuer arrangiert – flackerten den ganzen Weg entlang und blendeten die Besucher. Traditionell wurden diese Feuer nur zu bedeutenden Anlässen entzündet. Offenbar zählte die nächtliche Ankunft des Königs auch dazu.
Die Reflexionen der tanzenden Flammen auf dem polierten Boden verliehen der Halle eine beinahe übernatürliche Atmosphäre. Julián konnte die Geister der Männer förmlich spüren, die dieses Gewölbe geschaffen hatten, nur mit Picke und Schaufel, Hammer und Meißel ausgerüstet, über Jahre voller Mühsal, Hunger und Kälte hinweg. Viele waren gestorben. Und das alles zum Ruhm Francos, dessen Grab tief im Innern dieses Berges lag.
Wieder hörte Julián die Worte seines Vaters: Sieh genau hin, mein Sohn, eines Tages wirst du es abreißen.
Doch Julián hatte seine Zweifel. Wahrscheinlich würde er nicht einmal als König die Macht haben, dieses Bauwerk zerstören zu lassen. Es verwunderte ihn allerdings, dass das spanische Volk nicht längst gehandelt hatte, besonders, wenn man den Eifer bedachte, mit dem das Land die dunklen Jahre der Tyrannei hinter sich zu lassen versuchte, um in eine neue Ära aufzubrechen. Andererseits gab es noch immer jene, die den vergangenen Zeiten nachtrauerten: Jedes Jahr an Francos Geburtstag versammelten sich Hunderte alternder Franquisten an diesem Ort, um dem toten Diktator ihren Respekt zu zollen.
»Don Julián«, sagte der Bischof so leise, dass die anderen ihn nicht hören konnten, während sie tiefer in die Halle vordrangen. »Wissen Sie, warum Ihr Vater uns hierherbeordert hat?«
Julián schüttelte den Kopf. »Ich hatte gehofft, Sie könnten es mir sagen.«
Valdespino seufzte tief. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Wenn nicht einmal der Bischof die Beweggründe meines Vaters kennt, ging es Julián durch den Kopf, dann kennt sie niemand.
»Ich hoffe sehr, es geht ihm gut«, fügte Valdespino erstaunlich sanft hinzu. »Einige seiner Entscheidungen in letzter Zeit …«
»Zum Beispiel, ein Treffen im Innern eines Berges zu arrangieren, wo er doch eigentlich in einem Krankenhaus liegen sollte?«
Der Bischof lächelte schwach. »Zum Beispiel.«
Julián fragte sich, warum die Leibwache seines Vaters nicht eingeschritten war und sich geweigert hatte, den todkranken alten Mann aus dem Hospital an diesen unheimlichen Ort zu bringen. Auf der anderen Seite waren die Agenten der Guardia Real dazu ausgebildet, zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen – erst recht, wenn der Befehl von allerhöchster Stelle kam.
»Ich habe hier sehr lange nicht mehr gebetet«, meinte Valdespino und ließ den Blick durch die dämmrige Halle schweifen.
Julian wusste, worauf der Bischof anspielte: Dies hier war kein gewöhnliches Gewölbe, das tief in den Berg reichte – es war das Hauptschiff einer zur Basilika erhobenen katholischen Kirche. Weiter vorn konnte der Prinz die ersten Reihen der Kirchenbänke erkennen.
La basílica secreta, hatte Julián sie als Kind genannt. Die geheime Basilika.
Am Ende des Gewölbes hatte man eine halbrunde Apsis aus dem Granit des Berges gehauen, ein vergoldeter Altarraum in einer der erstaunlichsten unterirdischen Kirchen der Welt. Es hieß, die gesamte Anlage mit ihren sechs vom Hauptgewölbe abzweigenden Kapellen habe eine größere Grundfläche als der Petersdom in Rom.
Genau über dem Altarraum, oben auf der Bergspitze, stand das gigantische Kreuz.
Als sie sich dem Hauptaltar näherten, ließ Julián den Blick durch das Gewölbe wandern, in der Hoffnung, seinen Vater zu entdecken. Doch die Basilika schien leer und verlassen zu sein.
»Wo ist er?«, fragte der Bischof mit angespannter Stimme.
Julián teilte die Besorgnis Valdespinos. Er befürchtete, die Agenten der Guardia Real hätten seinen Vater allein an diesem einsamen Ort zurückgelassen. Der Prinz eilte vorwärts, spähte in das Kreuzschiff zu beiden Seiten des Altarraums. Nichts. Kein Lebenszeichen. Er ging weiter, umrundete den Altar und erreichte die Apsis.
Und hier, im entlegensten Winkel des Berges, entdeckte er seinen Vater.
Er blieb abrupt stehen.
Der König von Spanien, eingehüllt in eine schwere Decke, war mutterseelenallein und saß zusammengesunken in einem Rollstuhl.
KAPITEL 87
Im Hauptschiff der einstigen Kirche in Barcelona folgten Langdon und Ambra der Stimme Winstons, als dieser sie um Edmonds zweistöckigen Supercomputer herumdirigierte. Durch das dicke Glas war ein tiefes, vibrierendes Brummen zu hören, das aus der kolossalen Maschine zu dringen schien. Langdon hatte das unheimliche Gefühl, in einen Käfig zu blicken, in dem eine wilde Bestie gefangen war.
Das Geräusch stammte Winstons Worten zufolge nicht von der Elektronik, sondern von der Unzahl von Ventilatoren, Kühlern und Kühlmittelpumpen, die notwendig waren, den Koloss vor dem Überhitzen zu bewahren.
»Der Lärm dadrinnen ist ohrenbetäubend«, sagte Winston. »Und es ist klirrend kalt. Glücklicherweise befindet sich Edmonds Labor im ersten Stock. Wenn Sie bitte diese Treppe hinaufsteigen würden …«
Eine freistehende Wendeltreppe unweit der Glaswand führte nach oben. Langdon und Ambra stiegen hinauf und fanden sich auf einer Metallplattform vor einer Drehtür wieder.
Zu Langdons Erheiterung war der futuristische Eingangsbereich von Edmonds Labor wie der Eingang eines Vorstadthauses gestaltet – komplett mit Fußmatte, künstlicher Topfpflanze und sogar einer kleinen Bank, unter der ein Paar Pantoffeln stand, das vermutlich Edmond gehört hatte, wie Langdon schmerzlich bewusst wurde.
Über der Tür hing ein gerahmtes Schild.
Erfolg ist die Fähigkeit,
Von einem Misserfolg zum nächsten zu gehen,
Ohne die Begeisterung zu verlieren.
»Wieder mal Churchill?«, fragte Langdon und zeigte auf das Schild.
»Ja. Es war Edmonds Lieblingszitat«, meldete sich Winston zu Wort. »Er sagte, das sei die größte Stärke von Computern.«
»Von Computern?«, fragte Ambra.
»In der Tat. Computer sind unendlich beharrlich. Ich kann Millionen Fehlschläge verarbeiten, ohne dass ich frustriert wäre. Ich unternehme den milliardsten Versuch, ein Problem zu lösen, mit der gleichen Energie wie den ersten. Menschen können das nicht.«
»Stimmt«, sagte Langdon. »Ich gebe normalerweise nach dem millionsten Versuch auf.«
Ambra lächelte und trat zur Tür.
»Der Boden dahinter ist gläsern«, warnte Winston, als die Tür sich automatisch in Bewegung setzte. »Wenn Sie also bitte Ihre Schuhe ausziehen würden.«
Sekunden später hatte Ambra die Schuhe von den Füßen getreten und ging barfuß durch das rotierende Portal. Als Langdon ihr folgte, sah er, dass die Fußmatte eine ungewöhnliche Nachricht trug:
Es gibt keinen Ort wie 127.0.0.1.
»Was ist das?«, fragte Langdon. »Ich verstehe den Sinn nicht.«
»Localhost«, antwortete Winston.
Langdon las die Aufschrift erneut. »Wenn du es sagst«, murmelte er, obwohl er kein Wort verstanden hatte, und setzte den Weg durch die Drehtür fort.
Als er auf der anderen Seite den Glasboden betrat, wurden ihm für einen Moment die Knie weich. In Socken auf einer glatten, transparenten Fläche zu stehen war schwierig genug, aber wenn man dabei über dem riesigen MareNostrum-Computer stand, der sich ein Stockwerk unter einem ausbreitete, war es doppelt beunruhigend. Aus dieser Vogelperspektive fühlte Langdon sich beim Anblick der Phalanx von Server-Racks an die berühmte Ausgrabung von Xi’an in China mit der Armee von Terrakotta-Soldaten erinnert.
Er atmete tief durch und ließ den Blick über das bizarre Labor schweifen, das vor ihm lag.
Der von transparenten Wänden umschlossene Raum wurde von dem metallenen, blau-grauen Riesenwürfel beherrscht, den er bereits von unten gesehen hatte und dessen Hochglanzflächen die Umgebung spiegelten. Zur Rechten des Würfels, auf einer Seite des Raumes, standen eine Sitzgruppe und ein Ergometer auf einem Orientteppich.
Ein Supercomputer-Herrenzimmer, dachte Langdon.
Vermutlich hatte Edmond hier nicht nur gearbeitet, sondern während der Arbeit an seinem Projekt auch geschlafen. Was hat er hier oben entdeckt? Langdons anfängliche Zögerlichkeit war völlig verschwunden, und er spürte das Erwachen seiner intellektuellen Neugier – das Verlangen, endlich herauszufinden, welche Geheimnisse und Rätsel an diesem Ort enthüllt worden waren. Was hatten das Genie und