Origin - Dan Brown - Kapitel 65
sind bald zurück.«
Fonseca blickte missmutig drein, wagte aber keinen Widerspruch.
Padre Beña begann mit dem Abstieg, dem goldenen Licht entgegen. Ambra und Langdon folgten ihm.
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Agent Díaz war dankbar für einen Moment der Ruhe, während er den drei einsamen Gestalten hinterherschaute, wie sie die gewundene Treppe hinunterstiegen, denn ihm machte die wachsende Missstimmung zwischen Agent Fonseca und Ambra Vidal zu schaffen, die besorgniserregend geworden war.
Wir sind es nicht gewöhnt, dass die Leute, die wir beschützen, uns mit Entlassung drohen. Das kann nur Comandante Garza.
Díaz konnte Garzas Verhaftung immer noch nicht begreifen. Merkwürdigerweise hatte Fonseca ihm nicht sagen wollen, von wem der Befehl dazu gekommen war und wer die falsche Entführungsgeschichte in die Welt gesetzt hatte.
»Die Lage ist kompliziert.« Mehr hatte Fonseca nicht gesagt. »Und zu Ihrem eigenen Schutz ist es besser, wenn Sie nichts wissen.«
Wer erteilt denn nun die Befehle?, fragte sich Díaz. Vielleicht der Prinz persönlich? Es schien zweifelhaft, dass Julián die Sicherheit seiner Verlobten riskierte, indem er eine erfundene Entführungsgeschichte verbreiten ließ. War es Valdespino? Díaz wusste nicht, ob der Bischof über so viel Einfluss verfügte.
»Ich bin gleich wieder zurück«, sagte Fonseca in diesem Moment und ging davon, angeblich, um eine Toilette aufzusuchen. Ehe Fonseca mit der Dunkelheit verschmolz, sah Díaz, wie er sein Smartphone hervorzog, wählte und ein leises Gespräch begann.
Díaz blieb allein in der dunklen Stille des Altarraums zurück, zunehmend beklommen bei dem Gedanken an Fonsecas Heimlichtuerei.
KAPITEL 70
Die Treppe zur Krypta wand sich drei Stockwerke in die Tiefe, bevor sie Langdon, Ambra und Padre Beña in einem weiten, eleganten Bogen in das unterirdische Gewölbe entließ.
Eine der größten Krypten Europas, erinnerte sich Langdon mit einem bewundernden Blick durch den weiten, nahezu runden Raum. Genau wie er es in Erinnerung hatte, war das unterirdische Mausoleum der Sagrada Familia eine hoch aufragende Rotunde mit Kirchenbänken für Hunderte von Andächtigen. Goldene Öllampen in regelmäßigen Abständen entlang der Wände beleuchteten einen Mosaikboden aus verdrehten Ranken, Wurzeln, Zweigen, Blättern und anderen Symbolen aus der Natur.
Eine Krypta war dem Namen nach ein »verborgener Ort«, und Langdon fand es nahezu unvorstellbar, dass es Gaudí gelungen war, ein derart riesiges Gewölbe unter der Kirche zu verstecken. Sie hatte nichts gemein mit der verspielten »schiefen« Krypta in Colònia Güell, der ebenfalls von Gaudí entworfenen Industrieansiedlung unweit von Barcelona – dies hier war ein asketischer, neugotischer Raum mit Säulen, Bögen und verzierten Gewölben. Es war totenstill, und die Luft roch schwach nach Weihrauch.
Am Fuß der Treppe, zur Linken, befand sich eine tiefe Nische. Auf dem hellen Sandstein lag eine schmucklose graue Platte, umgeben von roten Lampen.
Hier liegt er begraben, dachte Langdon und las die Inschrift auf der Platte.
ANTONIUS GAUDI
CORNET
Wieder verspürte Langdon den schmerzlichen Verlust von Edmond Kirsch. Er hob den Blick zur Statue der Jungfrau Maria über dem Grab, als ihm ein nicht vertrautes Zeichen im Sockel ins Auge fiel.
Was um alles in der Welt …
Langdon betrachtete das merkwürdige Symbol.
Es kam selten vor, dass er ein Symbol nicht zumindest einordnen konnte. In diesem Fall handelte es sich um den griechischen Buchstaben Lambda, der seines Wissens aber in der christlichen Symbolsprache nicht vorkam. Das Lambda war ein wissenschaftliches Symbol, verbreitet auf den Gebieten der Mathematik, der Physik, der Kosmologie – und der Evolutionstheorie. Noch merkwürdiger war, dass aus der Oberseite des Lambda, auf das Langdon nun schaute, ein christliches Kreuz hervorwuchs.
Religion gestützt durch Wissenschaft? Langdon hatte etwas Derartiges nie zuvor gesehen.
»Rätseln Sie, was es bedeutet?«, fragte Padre Beña und trat neben ihn. »Damit sind Sie nicht allein. Viele fragen danach. Es ist lediglich eine modernistische Interpretation eines Kreuzes auf einem Berg.«
Langdon trat ein Stück vor und sah nun, dass drei blass vergoldete Sterne das Symbol begleiteten.
Drei Sterne in dieser Stellung?, dachte Langdon. Das Kreuz auf dem Berg Karmel! »Es ist ein Karmeliter-Kreuz.«
»Ganz recht. Gaudí liegt unter dem Bildnis der allerseligsten Jungfrau Maria vom Berg Karmel.«
»War Gaudí Karmeliter?« Es fiel Langdon schwer zu glauben, dass der Architekt des katalanischen Jugendstils zu den Anhängern jener strengen Interpretation des Katholizismus gezählt haben soll, wie dieser Orden aus dem zwölften Jahrhundert sie vertrat.
»Er selbst sicher nicht«, erwiderte Beña mit einem Lachen. »Aber seine Pflegerinnen. Eine Gruppe von Karmeliter-Nonnen, die bei ihm lebten und ihn in seinen letzten Jahren versorgten. Und da sie glaubten, es würde ihm gefallen, wenn auch nach seinem Tod jemand über ihn wacht, haben sie großzügigerweise diese Kapelle gestiftet.«
»Sehr aufmerksam«, sagte Langdon, dem die Fehlinterpretation eines so schlichten Symbols ziemlich peinlich war. Anscheinend hatten die vielen Verschwörungstheorien dieser Nacht selbst ihn dazu gebracht, Dinge heraufzubeschwören, die es nicht gab.
»Ist das dort Edmonds Buch?«, fragte Ambra in diesem Augenblick.
Beide Männer drehten sich um und sahen, wie sie in die Schatten hinter Gaudís Grabkapelle zeigte.
»Ja«, antwortete Beña. »Bitte entschuldigen Sie die schlechte Beleuchtung.«
Ambra eilte zu der Vitrine, und Langdon folgte ihr. Das Buch wurde in einer dunklen Ecke ausgestellt, halb versteckt hinter einer massiven Säule rechts von Gaudís Grab.
»Normalerweise legen wir hier Informationsbroschüren aus«, erklärte Beña. »Aber ich habe sie woanders deponiert, um für das Buch von Señor Kirsch Platz zu machen. Niemand scheint es bemerkt zu haben.«
Langdon gesellte sich zu Ambra, die vor einer Vitrine mit einem schrägen Deckel aus Glas stand. Im Innern lag, aufgeschlagen auf Seite 163, kaum erkennbar in der schummrigen Beleuchtung, ein großes, schweres Buch – die Gesamtausgabe von William Blake.
Wie Beña bereits gesagt hatte, zeigte die fragliche Seite kein Gedicht, sondern eine Illustration. Langdon, der sich gefragt hatte, welches von Blakes Gottesbildern wohl zu sehen sein würde, hatte mit diesem am wenigsten gerechnet.
Der Alte der Tage. Langdon blinzelte, als er die berühmte kolorierte Radierung von 1794 vor sich sah.
Langdon war überrascht, dass Beña diese Illustration als »Porträt Gottes« bezeichnet hatte. Zugegebenermaßen schien das Bildnis den christlichen Gott darzustellen, wie man ihn von unzähligen Abbildungen kannte – einen bärtigen, weißhaarigen alten Mann in den Wolken, aber dieser Eindruck täuschte. Beña hätte durch ein wenig Recherche leicht herausfinden können, dass dieses Bild nicht den Gott der Christenheit zeigte, sondern eine Gottheit mit Namen Urizen, die Blake selbst ersonnen hatte und die auf dieser bunten Druckgrafik mit einem riesigen Geometerzirkel den Himmel vermaß – eine Huldigung an die universellen Naturgesetze.
Das Bild war so modern und wegweisend, dass der Physiker Stephen Hawking es gut zwei Jahrhunderte später als Cover für sein Buch God created the Integers verwendet hatte. Darüber hinaus wacht Blakes zeitloser Schöpfergott über dem Rockefeller Center in New York City, wo dieser uralte Weltenvermesser von einer Art-déco-Skulptur namens Wisdom, Light and Sound herunterblickt.
Langdon betrachtete das Buch und fragte sich einmal mehr, weshalb Edmond keine Kosten und Mühen gescheut hatte, es gerade hier auszustellen. War es Rachsucht gewesen? Ein Schlag ins Gesicht der katholischen Kirche?
Edmonds Krieg gegen die Religion ist nie erlahmt, dachte Langdon, während er Blakes Gottheit betrachtete. Sein immenser Reichtum hatte es Edmond ermöglicht, sich fast jeden Wusch zu erfüllen – selbst den, blasphemische Kunst im Herzen einer christlichen Kirche auszustellen.
Zorn und Rachsucht, dachte Langdon. Vielleicht ist es ganz einfach. Ob gerecht oder nicht, in Edmonds Augen war die organisierte Religion schuld am Tod seiner Mutter.
»Natürlich ist mir bewusst, dass dieses Bild nicht den Gott der Christen zeigt«, sagte Beña in diesem Augenblick.
Langdon drehte sich überrascht zu dem alten Geistlichen um. »Tatsächlich?«
»Ja. Señor Kirsch hat keinen Hehl daraus gemacht – was im Übrigen nicht nötig war. Ich bin durchaus vertraut mit den Ideen von William Blake.«
»Und trotzdem haben Sie kein Problem damit, das Buch auszustellen?«
»Professor«, sagte der Priester leise lächelnd. »Dies hier ist die Sagrada Familia. Innerhalb dieser Mauern hat Gaudí Gott, die Wissenschaft und die Natur verschmolzen. Das Thema von Blakes Bild ist für uns nichts Neues.« In seinen Augen lag ein rätselhaftes Funkeln. »Vielleicht sind nicht alle Geistlichen so aufgeschlossen wie ich, aber wie Sie wissen, ist das Christentum im ständigen Wandel – für uns alle.« Er lächelte sanft und nickte in Richtung des Buches. »Ich bin allerdings froh, dass Señor Kirsch nicht darauf bestanden hat, die Leihkarte neben dem Buch auszustellen. In Anbetracht seines Rufes bin ich nicht sicher, wie ich das hätte erklären sollen, schon gar nicht nach seiner Präsentation heute Nacht.« Beña zögerte und blickte Langdon ernst an. »Ich habe das Gefühl, Señor, dass dieses Bild nicht das ist, was Sie zu finden gehofft haben, nicht wahr?«
»Das stimmt. Wir suchen nach einer Gedichtzeile Blakes.«
»›Tyger Tyger, burning bright, in the forests of the night‹?«, zitierte Beña.
Langdon lächelte, beeindruckt, dass Beña die erste Zeile von Blakes berühmtestem Gedicht kannte – einer zweifelnden Frage in sechs Strophen, ob der gleiche Gott, der den furchterregenden Tiger erschaffen hatte, auch der Schöpfer des sanften Lamms war.
»Padre Beña?«, fragte Ambra, die sich nach vorn beugte und angestrengt durch das Glas in die Vitrine spähte. »Haben Sie vielleicht eine Taschenlampe zur Hand?«
»Nein, tut mir leid. Soll ich eine Lampe aus Antonis Grab holen?«
»Würden Sie das tun? Das wäre sehr hilfreich«, sagte Ambra.
Beña eilte davon.
Kaum war er gegangen, winkte Ambra Langdon zu sich. »Robert!«, flüsterte sie. »Edmond hat die Seite 163 nicht wegen dieser Abbildung ausgesucht!«
»Was wollen Sie damit sagen?« Es steht sonst nichts auf der Seite.
»Es ist ein Ablenkungsmanöver!«
»Ich verstehe nicht …« Ratlos betrachtete Langdon die Illustration.
»Edmond hat die Seite ausgewählt, weil es unmöglich ist, sie ohne die gegenüberliegende Seite zu zeigen – Seite 162!«
Langdons Blick ging nach links, zur vorangehenden Seite. Im schwachen Licht konnte er nicht viel erkennen, außer, dass sie vollständig aus handgeschriebenem Text bestand.
Beña kehrte mit einer Lampe zurück und reichte sie Ambra, die sie über das Buch hielt. Als der sanfte Lichtschein auf die Seiten fiel, verschlug es Langdon den Atem.
Seite 162 zeigte tatsächlich nur Text – handgeschrieben, wie die meisten Originalmanuskripte