Origin - Dan Brown - Kapitel 6
»Die Transducer-Plättchen werden nicht auf das Ohr aufgesetzt, sondern unmittelbar davor.« Sie legte das Metallgestell hinter Langdons Kopf und platzierte die Transducer so, dass sie federleicht auf dem Bereich zwischen Kieferknochen und Schläfe aufsaßen.
»Aber wie …«
»Knochenübertragung, Sir. Die Transducer übermitteln den Schall auf die Kieferknochen und somit ohne Umweg auf die Hörschnecke des Innenohrs. Ich habe es selbst ausprobiert. Es ist wirklich erstaunlich – als spräche eine Stimme mitten im Kopf. Außerdem bleiben Ihre Ohren frei, und Sie können an Unterhaltungen teilnehmen, wann und wo es Ihnen gefällt.«
»Sehr einfallsreich.«
»Mr. Kirsch hat die Technologie vor mehr als einem Jahrzehnt erfunden. Heute ist sie in zahlreichen Geräten der verschiedensten Hersteller zu finden.«
Ich hoffe, Ludwig van Beethoven bekommt seine Prozente, dachte Langdon.
Tatsächlich hatte kein Geringerer als der große Komponist sich die Tatsache zunutze gemacht, dass Schall durch menschliche Knochen geleitet wurde. Nachdem er taub geworden war, gewöhnte Beethoven sich an, das eine Ende eines dünnen Holzstabs an sein Klavier zu drücken, während er sich das andere Ende zwischen die Zähne klemmte. Auf diese Weise gelangten die akustischen Schwingungen über den Holzstab und die Zähne an den Kieferknochen und weiter an das Innenohr, sodass Beethoven zumindest ahnungsweise »hören« konnte, was er komponierte.
»Wir hoffen, Sie genießen Ihre Tour«, sagte die Frau. »Sie haben ungefähr eine Stunde Zeit, das Museum zu erkunden, bevor Mr. Kirschs Präsentation beginnt. Ihr Audioguide wird Sie informieren, wann es Zeit ist, sich nach oben ins Auditorium zu begeben.«
»Danke. Muss ich auf irgendetwas drücken oder so?«
»Nein, das Gerät aktiviert sich von allein. Ihre geführte Tour beginnt, sobald Sie sich in Bewegung setzen.«
»Ja, natürlich«, sagte Langdon, lächelte die Frau an und machte sich dann auf den Weg, schlenderte durch das Atrium auf eine Gruppe anderer Gäste zu, die vor den Aufzügen warteten und allesamt die gleichen Kopfhörer trugen wie er selbst.
Er hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, als tief im Innern seines Kopfes eine Männerstimme erklang. »Guten Abend und willkommen im Guggenheim-Museum in Bilbao.«
Obwohl Langdon wusste, dass die Stimme aus dem Kopfhörer gekommen war, hielt er verdutzt inne und drehte sich um. Die Wirkung war verblüffend – genau, wie die junge Frau es beschrieben hatte: Als spräche eine Stimme mitten im Kopf.
»Ein herzliches Willkommen, Professor Langdon«, fuhr die Stimme freundlich und mit schwungvollem britischen Akzent fort. »Mein Name ist Winston. Ich habe die Ehre, Sie am heutigen Abend durch das Museum zu führen.«
Wen haben die hier als Sprecher unter Vertrag? Hugh Grant?
»Tun Sie sich keinen Zwang an. Streifen Sie nach Lust und Laune durch das Guggenheim, und sehen Sie sich an, was immer Sie interessiert«, fuhr die beschwingte Stimme fort. »Ich werde mich nach Kräften bemühen, Ihnen zu erklären, was Sie sich gerade anschauen.«
Anscheinend war jeder Kopfhörer – zusätzlich zu einem individuellen Erzähler, personalisierten Aufzeichnungen und Knochenleittechnologie – obendrein mit einem GPS-Sender ausgestattet, sodass das Gerät exakt bestimmen konnte, wo der Besucher stand und welcher Kommentar zu welchem Kunstwerk aktiviert werden musste.
»Mir ist bewusst, Sir, dass Sie als Kunstprofessor einer unserer fachlich versiertesten Gäste sind«, fuhr die Stimme fort. »Vielleicht benötigen Sie meine Hilfe deshalb nur in geringem Maße oder gar nicht. Schlimmer noch – es wäre möglich, dass Sie völlig anderer Meinung sind als ich, was die Analyse bestimmter Museumsobjekte betrifft.« Langdon stutzte: Die Stimme kicherte verlegen!
Du meine Güte, ging es ihm durch den Kopf. Wer hat bloß dieses Skript geschrieben? Der fröhliche Tonfall und der personalisierte Dienst waren zugegebenermaßen ein charmanter Einfall, aber Langdon konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie viel Mühe es gekostet haben mochte, Hunderte von Kopfhörern auf diese Weise individuell vorzubereiten.
Zum Glück verstummte die Stimme in diesem Moment. Anscheinend hatte sie ihren programmierten Willkommensgruß abgespult.
Langdons Blick schweifte durch das Atrium und richtete sich auf ein weiteres riesiges Banner, das über der Menge hing:
EDMOND KIRSCH
HEUTE ABEND BEGINNT DIE ZUKUNFT
Was um alles in der Welt wird er wohl ankündigen?
Langdon wandte den Blick zu den Aufzügen, wo eine Gruppe plaudernder Gäste stand, einschließlich zweier berühmter Gründer globaler Internetkonzerne, eines prominenten indischen Schauspielers und mehrerer anderer gut gekleideter VIPs, von denen Langdon überzeugt war, sie kennen zu müssen, ohne dass er wusste, wen er vor sich hatte. Er war auch nicht willens – und noch weniger darauf vorbereitet –, Smalltalk über Sinn und Unsinn sozialer Netzwerke oder den künstlerischen Wert von Bollywood-Filmen zu führen, also bewegte er sich in eine andere Richtung, hin zu einem riesenhaften Werk moderner Kunst an der gegenüberliegenden Wand der Halle.
Die Installation war in eine dunkle Grotte eingebettet und bestand aus neun schmalen Fließbändern, die aus Schlitzen im Boden kamen und steil in die Höhe führten, bis sie in der Decke verschwanden. Die Bänder erinnerten an motorisierte Gehwege, nur dass sie vertikal statt horizontal verliefen. Jedes Band transportierte eine illuminierte Botschaft, die nach oben scrollte:
Ich bete laut … ich rieche dich auf meiner Haut … ich sage deinen Namen.
Als Langdon näher trat, erkannte er, dass die Bänder sich in Wirklichkeit gar nicht bewegten. Die Illusion wurde durch eine »Haut« aus winzigen LEDs auf den verschiedenen Bändern erschaffen, die in rascher Folge aufblinkten und auf diese Weise Worte formten, die sich aus dem Fußboden materialisierten und hinauf zur Decke schossen, wo sie verschwanden.
Ich weine bitterlich … überall Blut … niemand hat mir etwas gesagt.
Langdon bewegte sich um die vertikalen Bänder herum und nahm das gesamte Objekt in sich auf.
»Ein reizvolles Kunstwerk, nicht wahr?«, sagte der Audioguide, plötzlich wieder aktiv. »Es trägt den Titel Installation für Bilbao und wurde von der Konzeptkünstlerin Jenny Holzer geschaffen. Es besteht aus neun LED-Bändern, jeweils zwölf Meter hoch. Jedes dieser Bänder transportiert Zitate auf Baskisch, Spanisch und Englisch, die sich allesamt auf die Schrecken beziehen, die Aids heraufbeschworen hat, und den Schmerz, den die Hinterbliebenen der Aids-Opfer erlitten haben.«
Langdon musste einräumen, dass die Wirkung hypnotisch war und auf eigenartige Weise sein Inneres berührte.
»Vielleicht haben Sie früher schon Arbeiten von Jenny Holzer gesehen?«
Langdon blickte wie gebannt auf den nach oben scrollenden Text.
Ich vergrabe meinen Kopf … ich begrabe deinen Kopf … ich begrabe dich.
»Mr. Langdon?« Die Stimme im Innern seines Schädels wurde drängend. »Können Sie mich hören? Funktioniert Ihr Headset?«
Langdon schreckte aus seinen Gedanken. »Entschuldigung … was? Hallo?«
»Ja, hallo«, entgegnete die Stimme. »Ich glaube, wir haben uns bereits begrüßt. Ich wollte mich nur vergewissern, ob Sie mich hören.«
»Ich … es tut mir leid«, stammelte Langdon, drehte sich um und ließ den Blick durch das Atrium schweifen. »Ich dachte, du wärst eine Aufzeichnung. Mir war nicht bewusst, dass ich es mit einer lebenden Person zu tun habe.«
Er stellte sich eine lange Reihe von Kabinen vor, bemannt mit einer Armee von Kuratoren, bewaffnet mit Kopfhörern und Museumskatalogen.
»Nicht weiter schlimm, Sir. Ich bin heute Abend Ihr persönlicher Guide. Ihr Headset ist mit einem Mikrofon ausgestattet. Dieses Programm ist als interaktive Erfahrung ausgelegt. Sie können einen Dialog über Kunst mit mir führen.«
Erst jetzt sah Langdon, dass auch andere Gäste mit sich selbst zu reden schienen. Sogar diejenigen, die als Paare oder in der Gruppe gekommen waren, hatten sich mehrere Schritte voneinander entfernt und wechselten verwirrte Blicke, während sie mit ihren persönlichen Dozenten private Konversationen führten.
»Hat heute Abend jeder Gast seinen eigenen Museumsführer?«, fragte Langdon.
»So ist es, Sir. Heute Abend wird jeder der dreihundertachtzehn Gäste individuell betreut.«
»Also … das ist wirklich unglaublich!«
»Wie Sie wissen, Sir, ist Edmond Kirsch ein glühender Verehrer von Kunst und Technologie. Er hat dieses System eigens für Museen entwickelt, in der Hoffnung, Gruppenführungen zu ersetzen, von denen er persönlich rein gar nichts hält. Auf die von ihm erdachte Weise kann jeder Besucher seine ganz persönliche Führung genießen, das Tempo selbst bestimmen, mit dem er sich durch die Ausstellungsräume bewegt, und Fragen stellen, die er in einer Gruppe aus Verlegenheit oder aus welchen Gründen auch immer möglicherweise nicht stellen würde. Die Erfahrung eines Museumsbesuchs ist auf diese Weise viel intensiver und intimer.«
»Ich möchte ja nicht altmodisch erscheinen, aber weshalb wird nicht jeder Besucher von einer Person aus Fleisch und Blut herumgeführt?«
»Logistik«, erklang es aus dem Headset. »Private Guides bei einem Museumsevent würden die Zahl der im Museum anwesenden Personen verdoppeln und somit die Zahl möglicher Besucher zu jedem gegebenen Zeitpunkt halbieren. Und das babylonische Sprach- und Stimmengewirr, das entstehen würde, wenn alle Dozenten gleichzeitig ihre Vorträge hielten, wäre in höchstem Maße ablenkend. Hinter dem System von Mr. Kirsch steht der Gedanke, das Zwiegespräch mit dem Dozenten zu einer reinen und unverfälschten Erfahrung zu machen. Den zwischenmenschlichen Dialog zu fördern ist eines der großen Ziele aller Kunst, wie Mr. Kirsch zu sagen pflegt.«
»Das ist es ja gerade«, entgegnete Langdon. »Dieser zwischenmenschliche Dialog ist der Grund, weshalb viele Leute ein Museum zusammen mit einem Ehepartner, mit Freundin oder Freund besuchen. Diese Headsets könnte man ohne Weiteres als antisozial betrachten, findest du nicht?«
»Keineswegs«, erwiderte die Stimme in Langdons Kopf. »Wenn Sie mit einer Begleitung kommen, besteht die Möglichkeit, zwei Headsets dem gleichen Dozenten zuzuweisen und eine Gruppendiskussion zu genießen. Die Software ist sehr weit entwickelt.«
»Du scheinst auf alles eine Antwort zu haben.«
»Das ist mein Job, Professor.« Die Stimme lachte verlegen und wechselte das Thema. »Wenn Sie nun das Atrium durchqueren, Sir, und zu den Fenstern gehen, können Sie dort das größte Gemälde des Museums genießen.«
Als Langdon sich auf den Weg machte, kam er an einem attraktiven Paar vorbei, beide Mitte dreißig, beide mit weißen Baseballmützen im Partnerlook. Auf der Vorderseite der Mützen prangte statt eines Firmenlogos ein unerwartetes Emblem:
Es war ein Symbol, das Langdon sehr gut kannte, doch auf einer Mütze hatte er es noch nie gesehen. In den vergangenen Jahren war der durchstilisierte Buchstabe A zum weithin bekannten Zeichen für eine der am schnellsten wachsenden