Origin - Dan Brown - Kapitel 48
Kein einziger Anruf um die fragliche Zeit. Irgendjemand muss den Eintrag gelöscht haben.«
Martín musterte ihren Kollegen ein paar Sekunden nachdenklich, ehe sie fragte: »Und wer kann das? Wer hat die Berechtigung?«
»Das genau ist die Frage, die Valdespino mir auch gestellt hat. Und ich habe ihm wahrheitsgemäß geantwortet und ihm gesagt, dass ich als Chef der Seguridad Electrónica zwar die Berechtigung habe, dass ich es aber nicht gewesen bin. Und dass die einzige andere Person im Palast, die die gleichen Befugnisse hat, Comandante Garza ist.«
Martíns Augen wurden groß. »Sie glauben, Garza hat die Aufzeichnungen manipuliert?«
»Es ergibt Sinn«, sagte Suresh. »Garza hat die Aufgabe, den Palast zu schützen, und wenn es zu einer Untersuchung kommen sollte, hat dieser Anruf nie stattgefunden. Technisch gesehen können wir also glaubhaft dementieren. Den Eintrag zu löschen war aus Garzas Sicht das Sinnvollste, was er tun konnte. Der Palast ist fein raus.«
»Fein raus?«, rief Martín ungläubig. »Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass der Anruf stattgefunden hat! Ambra Vidal hat Ávila auf die Gästeliste gesetzt! Und der Empfang vom Guggenheim wird bestätigen …«
»Zugegeben, aber nun steht die Aussage einer jungen Mitarbeiterin am Empfangsschalter des Guggenheim gegen den gesamten königlichen Palast. Und soweit es unsere eigenen Aufzeichnungen betrifft, hat es den Anruf nie gegeben.«
Sureshs nüchterne Einschätzung der Lage erschien Martín viel zu optimistisch. »Und das haben Sie Valdespino alles erzählt?«
»Es ist nur die Wahrheit. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht weiß, ob Garza den Anruf getätigt hat, dass er aber den Eintrag in der Liste gelöscht haben könnte, um den Palast zu schützen.« Suresh zögerte. »Aber nach dem Gespräch mit dem Bischof ist mir noch etwas anderes klar geworden.«
»Und das wäre?«
»Rein technisch gibt es eine dritte Person mit Zugang zum Server.« Suresh blickte sich nervös um, erst dann kam er näher. »Prinz Julián hat unbeschränkten Zugang zu sämtlichen Systemen.«
Martín starrte ihn an. »Das ist lächerlich.«
»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte Suresh. »Aber der Prinz war im Palast. Er war zu der fraglichen Zeit alleine in seiner Suite. Er kann problemlos angerufen, sich anschließend in den Server eingeloggt und die Liste manipuliert haben. Die Software ist einfach zu benutzen, und der Prinz kennt sich sehr viel besser mit Technik aus, als manch einer vermutet.«
»Suresh!«, stieß Martín hervor. »Glauben Sie allen Ernstes, der zukünftige spanische König hätte hochpersönlich einen Attentäter ins Guggenheim-Museum geschickt mit dem Auftrag, Edmond Kirsch zu ermorden?«
»Ich weiß es nicht.« Suresh zuckte die Achseln. »Ich sage ja nur, dass es möglich ist.«
»Warum sollte der Prinz so etwas tun?«
»Das sollten gerade Sie am besten wissen. Erinnern Sie sich an all die negative Presse darüber, dass der Prinz viel Zeit mit Ambra Vidal verbracht hat? Die Geschichte, wie er mit ihr nach Barcelona gereist ist, zu seinem Apartment?«
»Sie haben gearbeitet! Das war rein geschäftlich!«
»In der Politik geht es nur um den Schein«, sagte Suresh. »Das haben Sie mich gelehrt. Sie und ich, wir wissen, dass der Heiratsantrag dem Prinzen nicht so viel positive PR eingebracht hat, wie er es sich gewünscht hätte.«
Sureshs Handy meldete sich, und er las die eintreffende Nachricht. Auf seinem Gesicht erschien ein ungläubiger Ausdruck.
»Was ist?«, fragte Martín.
Ohne ein weiteres Wort wandte Suresh sich um und rannte in Richtung seiner Zentrale davon.
»Suresh!« Mónica drückte hastig ihre Zigarette aus und eilte hinter ihm her. An einer der Arbeitsstationen seines Teams holte sie ihn ein. Der Techniker spielte soeben ein körniges Überwachungsvideo ab.
»Was ist das?«, fragte Martín.
»Der Hinterausgang der Kathedrale«, sagte der Techniker. »Vor fünf Minuten.«
Martín und Suresh beugten sich über den Bildschirm und verfolgten die Videoaufzeichnung. Sie zeigte einen jungen Akolythen, der aus der Tür an der Rückseite der Kathedrale kam, durch die relativ ruhige Calle Mayor eilte, einen alten, heruntergekommenen Opel aufschloss und einstieg.
Okay, dachte Martín. Er fährt nach der Messe nach Hause. Na und?
Auf dem Bildschirm schwenkte der Opel vom Straßenrand weg, fuhr ein kurzes Stück und blieb ungewöhnlich dicht neben dem Hinterausgang der Kathedrale stehen – dem gleichen Ausgang, durch den der Akolyth wenige Augenblicke zuvor gekommen war.
Fast im gleichen Moment schlüpften zwei dunkle Gestalten nach draußen, rannten tief geduckt zum Opel und kletterten in den Fond. Die beiden Passagiere waren – ohne jeden Zweifel – Bischof Valdespino und Prinz Julián.
Augenblicke später raste der Opel davon, bog um eine Ecke und war verschwunden.
KAPITEL 51
Das 1906 erbaute Meisterwerk von Antoni Gaudí, die Casa Milà an der Ecke des Carrer de Provença und der Passeig de Gràcia, ist teils Wohngebäude, teils zeitlose Kunst.
Konzipiert als endlose Kurvenlinie, ist das neunstöckige Bauwerk sofort an seiner wogenden Kalksteinfassade erkennbar. Die geschwungenen Balkone und die unregelmäßige Geometrie verleihen ihm eine Aura von etwas Gewachsenem, als hätten Millennien peitschender Stürme Hohlräume und Biegungen ausgeschliffen wie in einem Wüstencanyon.
Obwohl Gaudís schockierender Entwurf von den Bewohnern der Gegend anfangs als abstoßend empfunden wurde, hatten Kunstkritiker weltweit die Casa Milà geradezu schwärmerisch gelobt, und sie war rasch zu einem von Barcelonas strahlendsten architektonischen Juwelen geworden. Drei Jahrzehnte lang hatte Pere Milà, der Geschäftsmann, der das Gebäude in Auftrag gegeben hatte, zusammen mit seiner Frau in der fast tausend Quadratmeter großen Beletage residiert, während die anderen zwanzig Wohnungen vermietet worden waren. Bis zum heutigen Tag gilt die Casa Milà an der Passeig de Gràcia 92 als eine der exklusivsten und begehrtesten Adressen in ganz Spanien.
Als Robert Langdon den Tesla durch den spärlichen nächtlichen Verkehr auf der eleganten, von Bäumen gesäumten Prachtstraße lenkte, konnte er spüren, dass sie ihrem Ziel näher kamen. Die Passeig de Gràcia war Barcelonas Version der Champs-Élysées in Paris – die breiteste und grandioseste aller Straßen, tadellos gepflegt und gesäumt von teuren Designerboutiquen.
Chanel … Gucci … Cartier … Longchamp …
Endlich sah Langdon das Gebäude, zweihundert Meter voraus.
Weich von unten angestrahlt, stach die helle Kalksteinfassade mit den langen Balkongalerien der Casa Milà schon von Weitem aus den rechtwinkligen Nachbarn hervor – wie ein wunderschönes, phosphoreszierendes Stück Meereskoralle, das ans Ufer gespült worden war und nun auf einem Strand inmitten trister Betonklötze ruhte.
»Das hatte ich befürchtet«, sagte Ambra unvermittelt. »Sehen Sie.«
Langdon richtete den Blick auf den breiten Bürgersteig vor dem Haus. Dort parkte ein halbes Dutzend Übertragungswagen; eine Traube aufgeregter Reporter berichtete live, wobei Edmonds Residenz als Hintergrund herhalten musste. Mehrere Sicherheitsleute waren vor der Casa Milà postiert, um die Reporter vom Eingang fernzuhalten. Edmonds Tod hatte offenbar restlos alles, was mit Kirsch zu tun hatte, zu einer Story für die Nachrichten werden lassen.
Langdon suchte die Passeig de Gràcia nach einer Parklücke ab, doch wie zu erwarten gab es keine, und der rege Verkehr ließ ein Anhalten nicht zu.
»Ducken Sie sich«, sagte er zu Ambra, als ihm klar wurde, dass ihm keine andere Wahl blieb, als direkt an dem Haus vorbeizufahren, vor dem sich die Medienvertreter drängten.
Ambra glitt vom Sitz und duckte sich in den Fußraum, sodass sie von draußen nicht mehr zu sehen war. Langdon schaute zur Casa Milà, als sie an der bevölkerten Straßenecke vorbeifuhren.
»Sieht so aus, als würden die Reporter den gesamten Eingangsbereich belagern«, sagte er. »Da kommen wir niemals ungesehen rein.«
»Die nächste links ab«, meldete sich Winston zu Wort. Seine Stimme klang heiter und zuversichtlich. »Ich hatte mir schon gedacht, dass es so kommen würde.«
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Der Blogger Hector Marcano schaute traurig hinauf zur Penthousewohnung der Casa Milà. Es fiel ihm immer noch schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der große Edmond Kirsch tot war.
In den vergangenen drei Jahren hatte Hector für Barcinno.com, einer beliebten partnerschaftlichen Plattform für Barcelonas Unternehmer und innovative Start-ups, über neue Technologien und Entwicklungen berichtet. Den großartigen Edmond Kirsch hier in Barcelona zu wissen, war ein zusätzlicher Ansporn für Hector gewesen.
Vor etwas mehr als einem Jahr hatte er Kirsch sogar persönlich kennengelernt, als der Zukunftsforscher sich großzügigerweise einverstanden erklärt hatte, bei FuckUp-Night, einem monatlich stattfindenden Seminar und Flaggschiff von Barcinno, einen Vortrag zu halten, bei dem er über seine größten Fehlschläge referierte. Kirsch hatte kleinlaut zugegeben, innerhalb von sechs Monaten mehr als vierhundert Millionen Dollar verbrannt zu haben für einen Traum, den er E-Wave nannte – einen Quantencomputer mit einer so hohen Rechengeschwindigkeit, dass nie da gewesene Fortschritte auf sämtlichen Gebieten der Wissenschaft möglich geworden wären, insbesondere auf den Gebieten der Darstellung und Analyse komplexer Systeme.
»Ich fürchte«, hatte Kirsch erklärt, »der erhoffte Quantensprung auf dem Gebiet des Quantencomputers war ein Blindgänger.«
Als Hector erfahren hatte, dass Kirsch an diesem Abend eine weltbewegende Entdeckung enthüllen wollte, war er gespannt gewesen, ob es sich dabei möglicherweise um E-Wave handelte. Hat er den Schlüssel gefunden, um den Superrechner funktionsfähig zu machen? Aber nach Kirschs philosophischer Einleitung war Hector klar geworden, dass es bei dieser Entdeckung um etwas vollkommen anderes ging.
Ich frage mich, ob wir je erfahren werden, was Kirsch herausgefunden hat, überlegte er nun. Seine Trauer war so tief gewesen, dass er zu Edmond Kirschs Apartment gekommen war – nicht um zu bloggen, sondern um ihm die letzte Ehre zu erweisen.
»E-Wave!«, rief jemand dicht neben ihm. »E-Wave!«
Überall rings um Hector richteten die versammelten Medienvertreter ihre Kameras auf einen schicken schwarzen Tesla, der langsam auf die Plaza rollte und sich mit aufgeblendeten Scheinwerfern der Menge näherte.
Voller Staunen starrte Hector auf das vertraute Fahrzeug.
Kirschs Tesla X mit seinem E-Wave-Kennzeichen war in Barcelona so bekannt wie das Papamobil in Rom. Kirsch hatte sich häufig einen Spaß daraus gemacht, auf dem Carrer de Provença in zweiter Reihe vor dem Juwelierladen von DANiEL ViOR zu halten und auszusteigen, um Autogramme zu geben. Die Menge war jedes Mal aus dem Häuschen, wenn der führerlose Wagen plötzlich auf einer vorprogrammierten Route ein Stück die Straße hinauf bis zum Tor der privaten Tiefgarage unter der Casa Milà fuhr. Das Tor glitt auf wie