Origin - Dan Brown - Kapitel 39
dass der Prinz sein Mobiltelefon weggeschlossen haben sollte – in einer Nacht wie dieser, wo Kommunikation so entscheidend war.
Wo ist er überhaupt hin?
Als Nächstes versuchte er Valdespinos Nummer, in der Hoffnung, dass der Bischof antwortete. Zu seiner Verblüffung summte ein zweites Mobiltelefon im Wandsafe.
Valdespino hat sein Handy ebenfalls weggeschlossen? Im Wandsafe von Prinz Julián?
Panik erfasste Garza, als er aus der Suite rannte. Während der nächsten Minuten hetzte er durch Flure und Treppenhäuser, wobei er Juliáns und Valdespinos Namen rief.
Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!
Als Garza schließlich ausgepumpt stehen blieb, befand er sich am Fuß der eleganten Prunktreppe von Francesco Sabatini. Niedergeschlagen senkte er den Kopf. Das Tablet in seiner Hand war jetzt dunkel, und im Display sah er die Spiegelung des weltbekannten Deckenfreskos hoch über ihm.
Die Ironie war beinahe unerträglich. Das Fresko war Corrado Giaquintos »Triumph der Religion und der Kirche« – eine Hommage an den Glauben und ein Sinnbild der Grandezza der spanischen Monarchie.
KAPITEL 42
Während die Gulfstream G550 auf Reiseflughöhe stieg, starrte Langdon in Gedanken versunken durch das ovale Fenster nach draußen. Die beiden letzten Stunden waren ein Wirbelwind aus Emotionen gewesen – die Aufregung von Edmonds Präsentation, seine vorbereitenden Worte, das unaussprechliche Entsetzen, seine Ermordung mit ansehen zu müssen. Und das Mysterium seiner Entdeckung schien immer rätselhafter zu werden, je länger Langdon darüber nachdachte.
Was für ein Geheimnis hatte Edmond entschleiert?
Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Edmonds Worte in Richard Serras stählerner Spirale früher am Abend hallten in Langdons Innerem wider: Robert, meine Entdeckung gibt Antwort auf diese Fragen. In aller Klarheit und jenseits aller Zweifel.
Wenn Edmond tatsächlich zwei der größten Mysterien des Lebens gelöst hatte – was konnte daran so gefährlich und zerstörerisch sein, dass man ihn ermordet hatte, um ihn daran zu hindern, seine Entdeckung der Welt zu offenbaren?
Langdon hatte keine Ahnung. Er wusste nur eines mit Sicherheit: Die Entdeckung hatte mit dem Ursprung und der Bestimmung des Menschen zu tun.
Was kann so schockierend sein am Ursprung des Menschen?
An seiner Bestimmung?
Edmond hatte einen optimistischen Eindruck gemacht, voller Elan und Begeisterung, also konnte es sich bei seiner Entdeckung schwerlich um etwas Düsteres, Apokalyptisches handeln.
Was aber kann die Gelehrten der großen Religionen so tief beunruhigt haben?
»Robert?« Ambra erschien mit einer Tasse Kaffee neben ihm. »Schwarz, sagten Sie?«
»Ja, perfekt, danke sehr.« Langdon nahm den Becher entgegen. Vielleicht half das Koffein, seine wirren Gedanken zu ordnen.
Ambra setzte sich ihm gegenüber und schenkte sich aus einer kunstvoll gravierten Karaffe ein Glas Rotwein ein. »Edmond hat einen Vorrat an Château Montrose an Bord. Eine Schande, ihn hier ungenutzt herumstehen zu lassen.«
Langdon nickte. Er hatte diesen berühmten Bordeauxwein selbst einmal getrunken, in einem alten geheimen Weinkeller unter dem Trinity College in Dublin, als er wegen seiner Forschungen zu einem Manuskript dort gewesen war, dem Book of Kells.
Ambra hielt ihr Weinglas in beiden Händen. Als sie es an die Lippen brachte, schaute sie Langdon über den Rand hinweg an. Nicht zum ersten Mal fühlte er sich merkwürdig entwaffnet von der natürlichen Eleganz dieser Frau.
»Ich habe nachgedacht«, sagte sie. »Sie hatten vorhin erwähnt, dass Edmond in Boston war und mit Ihnen über verschiedene Schöpfungsgeschichten diskutiert hat.«
»Ja, vor ungefähr einem Jahr. Er interessierte sich für die unterschiedlichen Erklärungen, die die großen Religionen auf die Frage nach der Herkunft des Menschen liefern.«
»Vielleicht wäre das ein guter Anfang für unsere Suche«, schlug Ambra vor. »Um zu enträtseln, woran Edmond gearbeitet hat.«
»Ich bin sehr dafür, mit der Frage nach der Herkunft des Menschen zu beginnen«, sagte Langdon, »zumal es lediglich zwei unterschiedliche Erklärungsversuche dafür gibt – den religiösen, nach dem Gott den Menschen erschaffen hat, wie wir es vor ein paar Stunden auf Michelangelos Fresko in der Sixtinischen Kapelle gesehen haben, und das darwinistische Modell, dem zufolge unsere vorzeitlichen Ahnen aus einer Ursuppe gekrochen sind und sich im Lauf von Jahrmillionen zu Menschen entwickelt haben.«
»Und was, wenn Edmond eine dritte mögliche Erklärung gefunden hat?«, fragte Ambra mit blitzenden Augen. »Wenn das zumindest ein Teil seiner großen Entdeckung ist? Wenn er bewiesen hat, dass die menschliche Spezies weder von Adam und Eva abstammt, noch Ergebnis der Darwin’schen Evolution ist?«
Langdon musste einräumen, dass eine solche Entdeckung – eine alternative Geschichte des menschlichen Ursprungs – eine wissenschaftliche Revolution wäre, in ihrer Wirkung den Ideen eines Kopernikus gleich, wie Edmond ja selbst behauptet hatte – mit unabsehbaren philosophischen und religiösen Konsequenzen. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese Entdeckung aussehen mochte. »Darwins Evolutionstheorie ist heutzutage fester Bestandteil unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse«, sagte er. »Sie basiert auf exakten beobachtbaren Fakten und zeigt folgerichtig, wie Organismen sich mit der Zeit verändern und an ihre Umwelt anpassen. Die klügsten Köpfe unserer Zeit haben diese Theorie akzeptiert.«
»Wirklich?«, fragte Ambra. »Ich habe Bücher gelesen, in denen behauptet wird, Darwin läge völlig falsch.«
»Und davon gibt es eine Menge«, meldete sich Winston per Phablet zu Wort, das mit dem Ladekabel verbunden auf dem Tisch zwischen ihnen lag. »Allein in den letzten zwei Jahrzehnten wurden mehr als fünfzig dahingehende Titel publiziert.«
Langdon hatte ganz vergessen, dass Winston online war.
»Einige dieser Bücher waren Bestseller«, fuhr Winston fort. »Jerry Fodors What Darwin Got Wrong, Philip Johnsons Defeating Darwinism, oder Darwin on Trial, Darwin’s Black Box – Biochemische Einwände gegen die Evolutionstheorie, von Michael J. Behe, The Dark Side of Charles Darwin …«
»Das alles ist richtig«, unterbrach Langdon ihn. »Es gibt eine gewaltige Zahl einschlägiger Bücher, deren Autoren behaupten, Darwin widerlegen zu können. Ich habe selbst zwei davon gelesen.«
»Und?«, drängte Ambra.
Langdon lächelte höflich. »Ich kann nicht über alle Autoren sprechen, aber diese beiden argumentieren von einem fundamental-christlichen Standpunkt aus. Einer stellte die reichlich gewagte These auf, Gott habe nur deswegen Fossilien in die Erde gelegt, um unseren Glauben auf die Probe zu stellen.«
Ambra runzelte die Stirn. »Verstehe. Ich nehme an, diese Bücher haben Ihre Überzeugung nicht ändern können.«
»Wohl kaum. Aber sie haben mich neugierig gemacht, also wandte ich mich an einen Kollegen, einen Professor für Biologie an der Harvard University, und bat ihn um seine Meinung. Dieser Professor war übrigens der verstorbene Stephen J. Gould.«
»Woher kenne ich den Namen?«, fragte Ambra.
»Stephen J. Gould«, sagte Winston ungefragt. »Gefeierter Evolutionsbiologe und Paläontologe. Seine Theorie vom punktuellen Gleichgewicht erklärt einige Lücken in der fossilen Überlieferung und ergänzt Darwins Evolutionsmodell.«
»Gould hat sich jedenfalls köstlich amüsiert«, sagte Langdon. »Er meinte, die meisten Anti-Darwin-Werke würden von Kreationisten publiziert, dem Institute of Creation Research beispielsweise, eine Organisation, die nach ihrer Selbstdarstellung die Bibel als unfehlbare schriftliche Aufzeichnung harter historischer und wissenschaftlicher Fakten betrachtet.«
»Was mit anderen Worten bedeutet«, sagte Winston, »diese Leute glauben, dass brennende Sträucher reden, Menschen sich in Salzsäulen verwandeln und Noah jede lebende Spezies auf einem einzigen Boot hat unterbringen können. Nicht das sicherste aller Fundamente für ein wissenschaftliches Forschungsinstitut.«
»Zugegeben«, sagte Langdon. »Aber es gibt auch eine Reihe nicht religiöser Werke, die Darwin von einem historischen Standpunkt aus zu widerlegen versuchen. Sie unterstellen ihm, er habe seine Theorie dem französischen Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck gestohlen, der als Erster die These aufgestellt hat, dass Organismen sich als Reaktion auf Veränderungen ihrer Umwelt weiterentwickeln.«
»Dieser Gedankengang ist irrelevant für das Problem«, sagte Winston. »Ob Darwin sich nun des Plagiats schuldig gemacht hat oder nicht, hat keinerlei Auswirkung auf die Richtigkeit der Evolutionstheorie.«
»Da hast du recht«, sagte Ambra. »Wenn Sie, Robert, Professor Gould gefragt hätten, woher wir kommen, hätte seine Antwort vermutlich gelautet, dass wir uns aus Affen entwickelt haben.«
Langdon lachte. »Wohl kaum. Wir haben vermutlich gemeinsame Vorfahren. Jedenfalls hat Gould meine Frage umformuliert. Sie sollte nicht lauten, ob Evolution stattfindet – schließlich können wir evolutionäre Veränderungen empirisch beobachten –, sondern warum sie stattfindet. Und wie hat alles angefangen?«
»Hat er Antworten geliefert?«, fragte Ambra.
»Keine, die ich verstanden hätte. Aber er hat seinen Standpunkt mit einem Gedankenexperiment verdeutlicht. Es nennt sich ›Infinite Hallway‹, unendlicher Korridor.« Langdon hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken.
»In der Tat eine hilfreiche Verdeutlichung«, übernahm Winston, bevor Langdon weiterreden konnte. »Es funktioniert folgendermaßen: Stellen Sie sich vor, Sie gehen einen Korridor hinunter, der so lang ist, dass Sie nicht sehen können, woher Sie gekommen sind oder wohin er führt. Dann plötzlich hören Sie in Ihrem Rücken das Geräusch eines hüpfenden Balls. Als Sie sich umdrehen, sehen Sie tatsächlich einen Ball, der auf Sie zuhüpft. Er kommt näher und näher, bis er schließlich an ihnen vorbeihüpft und nach einiger Zeit in der Ferne verschwindet.«
»Korrekt«, sagte Langdon. »Die Frage lautet nicht: Hüpft der Ball? Denn dass er hüpft, ist eindeutig – wir können es sehen. Die Frage ist: Warum hüpft er? Warum hat er angefangen zu hüpfen? Hat ihn jemand angestoßen? Getreten? Ist es ein besonderer Ball, der einfach nur gern hüpft? Oder sind die Gesetze der Physik in diesem Korridor so, dass der Ball gar keine andere Wahl hat, als für alle Zeiten zu hüpfen? Wir können es nicht sehen. Wir können lediglich sehen, dass der Ball hüpft.«
»Worauf Gould hinauswollte«, schloss Winston. »Genau wie bei der Evolution können wir nicht weit genug in die Vergangenheit schauen, um festzustellen, wie, wann und warum der Prozess angefangen hat. Wer hat dem Ball den ersten Anstoß gegeben? Wie geht es mit ihm weiter? Von daher deckt sich das mit der Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen.«
»Nicht übel, Winston«, sagte Langdon.
»Ganz ähnlich war es bei der Theorie vom Urknall«, fuhr Winston fort. »Den Big Bang zu verstehen war eine gewaltige Herausforderung. Kosmologen haben komplexe Formeln entwickelt, um das expandierende Universum zu jedem beliebigen Zeitpunkt T zu beschreiben, sei es in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Wenn sie aber versuchen, bis zum Urknall zurückzurechnen, wo T gleich Null ist, spielt die Mathematik verrückt und liefert eine