Origin - Dan Brown - Kapitel 18
– von denen, die wir lieben, denen wir vertrauen und die wir achten: Eltern, Lehrer und Priester. Deshalb dauert es Generationen, einen religiösen Wandel herbeizuführen. Und oftmals geschieht das nicht ohne Schmerz und Blutvergießen.«
Das Geräusch klirrender Schwerter und gellender Schreie begleitete das allmähliche Verschwinden der Götterbilder. Schließlich blieb das Bild eines einzigen Gottes übrig – das Gesicht eines greisen Mannes mit wallendem weißen Bart.
»Zeus«, deklarierte Langdon mit Nachdruck. »In späterer Zeit der römische Jupiter. Vater der Götter und Menschen. Die am meisten gefürchtete und am tiefsten verehrte aller heidnischen Gottheiten, die ihrer Auslöschung länger und heftiger Widerstand leistete als jede andere. Er raste, tobte und zettelte eine wütende Schlacht gegen seinen Untergang an – so wie die älteren Götter vor ihm, die von ihm selbst verdrängt worden waren.«
An der Decke erschienen Bilder von Stonehenge, von sumerischen Keilschrifttafeln und den ägyptischen Pyramiden, ehe wieder die Büste des Zeus zu sehen war.
»Zeus/Jupiter blieb auch in nachheidnischer Zeit so stark, dass der aufkommenden Christenheit keine Wahl blieb, als das Antlitz des Zeus als Gesicht ihres Gottes zu vereinnahmen.«
An der Decke wich die bärtige Büste des Zeus in einer nahtlosen Überblendung einem Fresko, auf dem ein nahezu identisches bärtiges Gesicht zu sehen war – das des christlichen Gottes, wie Michelangelo es in der Erschaffung Adams an der Decke der Sixtinischen Kapelle dargestellt hatte.
»Heutzutage glauben wir nicht mehr an Legenden wie der des Zeus – eines Jungen, der von Nymphen erzogen, von einer Ziege genährt und von Dämonen beschützt wird und der seine Waffen, die Blitze und Donnerkeile, von den Zyklopen erhält. Heutzutage werden die alten Göttergeschichten allesamt als Mythologie klassifiziert – originelle, bisweilen bizarre Märchen, die uns einen unterhaltsamen Einblick in unsere abergläubische Vergangenheit gewähren.«
In der Kuppel war nun das Bild eines staubigen Bücherregals mit ledergebundenen Folianten über antike Mythologie neben Büchern über Naturgottheiten zu sehen – den Gott Baal aus dem heutigen Syrien, die sumerische Inanna, den ägyptischen Osiris und zahlreiche andere frühe Gottheiten.
»Heute liegen die Dinge vollkommen anders«, deklarierte Langdon. »Wir sind die Menschen der Moderne.«
An der Decke erschienen neue Bilder, gestochen scharfe Fotos in leuchtenden Farben, die die Mondlandung und die Internationale Raumstation zeigten, Nanotechnologie und Computer, ein medizinisches Labor, einen Teilchenbeschleuniger, riesige Kreuzfahrtschiffe und Großraumjets.
»Wir sind intellektuell vorangeschritten und technologisch hoch entwickelt. Wir glauben nicht mehr an Götterschmieden unter Vulkanen oder an launische Gottheiten, die Ebbe und Flut verursachen oder Krankheiten und Tod schicken. Was das angeht, sind wir ganz anders als unsere Ahnen.«
Oder vielleicht doch nicht?, sprach Langdon in Gedanken sein nächstes Zitat aus der Vorlesung mit.
»Oder vielleicht doch nicht?«, sagte der Robert Langdon, dessen Bild an die Decke projiziert wurde. »Wir betrachten uns als moderne, rationale Individuen, und doch beinhaltet die am weitesten verbreitete Religion unserer Spezies ein ganzes Sammelsurium magischer Elemente: Menschen, die auf unerklärliche Weise von den Toten auferstehen, wundersame Unbefleckte Empfängnis, ein rachsüchtiger Gott, der Flut und Plagen schickt, mystische Versprechungen von einem Leben in einem Himmel über den Wolken oder in einer feurigen Hölle.«
Während Langdon dozierte, erschienen an der Decke Bilder und Gemälde, die die Wiederauferstehung Christi zeigten, die Jungfrau Maria, die Arche Noah, die Teilung des Roten Meeres, Himmel und Hölle.
»Lassen Sie uns für einen Moment über die Reaktion zukünftiger Historiker und Anthropologen auf unser Weltbild spekulieren. Werden sie, mit dem Vorteil überlegenen Wissens und veränderter Perspektive, auf uns und unsere religiösen Ansichten zurückblicken und sie als Mythen einer dunklen Epoche betrachten? Werden sie unsere Götter so sehen wie wir heute den Zeus und all die anderen? Werden sie unsere heiligen Schriften auf das staubige Regal der Geschichte verbannen?«
Langdon ließ diese Fragen bewusst lange im Raum stehen.
Dann dröhnte unvermittelt die Stimme von Edmond Kirsch in die Stille hinein.
»Ja, Professor«, rief der Futurologe aus der Höhe herab. »Ja, ich glaube, das alles wird geschehen. Ich glaube, zukünftige Generationen werden sich fragen, wie eine technologisch fortgeschrittene Spezies wie die unsere auch nur ansatzweise glauben konnte, was unsere modernen Religionen uns lehren.«
Kirschs Stimme wurde eindringlicher, während eine neue Folge von Bildern über die Decke zog. Adam und Eva, wie sie aus dem Paradies vertrieben werden, eine Frau in einer Burka, ein Feuerlauf der Hindus.
»Ich bin überzeugt, dass zukünftige Generationen auf unsere jetzigen Traditionen zurückblicken und dabei zu dem Schluss gelangen werden, dass wir in einem unaufgeklärten Zeitalter gelebt haben. Als Beweis werden sie unseren Glauben anführen, in einem Zaubergarten von einem Gott erschaffen worden zu sein. Sie werden anführen, dass unser Gott verlangt, dass unsere Frauen ihre Häupter verhüllen, oder dass wir das Wagnis eingehen, unsere Körper zu verbrennen, um unsere Götter zu ehren.«
Weitere Bilder erschienen – eine fotografische Montage von religiösen Bräuchen aus der ganzen Welt: Exorzismen, Taufen, Körperpiercing, Tieropfer. Die Diashow endete mit einem verstörenden Video, das einen indischen Priester zeigte, der ein kleines Kind über den Rand eines fünfzehn Meter hohen Turms hielt. Plötzlich ließ er los, und das Kind stürzte in die Tiefe – geradewegs in ein aufgespanntes Laken, das von hilfreichen Dorfbewohnern wie ein Feuerwehr-Sprungtuch gehalten wurde.
Der Tempelsturz von Grishneshwar, dachte Langdon. Das Ritual sollte dem Kind die Gunst des Himmels sichern.
Gott sei Dank endete damit die Bilderfolge.
In völliger Dunkelheit fuhr Kirsch mit seinem Monolog fort. »Wie kann es sein, dass ein moderner menschlicher Geist, fähig zu präziser logischer Analyse, gleichzeitig religiöse Glaubenssätze zulässt, die ad absurdum geführt würden, sobald man sie mit rationalem Scharfsinn betrachtet?«
Der Sternenhimmel erstrahlte wieder.
»Wie sich zeigen wird, ist die Antwort darauf ganz einfach«, fuhr Kirsch fort.
Die Sterne wurden heller, größer. Fäden wurden sichtbar, die von jedem Stern zu seinen jeweiligen Nachbarn führten, bis ein unübersichtliches Geflecht aus miteinander verbundenen Knoten entstanden war.
Ein neuronales Netz, begriff Langdon in dem Moment, als Edmond sich wieder zu Wort meldete.
»Das menschliche Gehirn«, deklarierte er. »Warum glaubt es, was es glaubt?«
Im Geflecht an der Decke der Kuppel blitzten mehrere Knoten auf und sandten elektrische Impulse an andere Neuronen.
»Das Gehirn ist wie ein organischer Computer«, fuhr Kirsch fort. »Es besitzt ein Betriebssystem – eine Reihe von Regeln, die den chaotischen Input, der den ganzen Tag hereinströmt, filtern und ordnen: Sprache, eine eingängige Melodie, eine Sirene, der Geschmack von Schokolade. Wie Sie sich vorstellen können, ist der Strom der einstürmenden Informationen unglaublich vielfältig, und er gerät nie ins Stocken. Das Gehirn muss dies alles aufnehmen und so verarbeiten, dass es einen Nutzen bringt. Tatsächlich ist es genau dieses Betriebssystem, die Programmierung des Gehirns, die definiert, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen, unsere Realität. Unglücklicherweise sind wir damit die Angeschmierten, denn wer immer das Programm für das menschliche Hirn geschrieben hat – er hatte einen verdammt schrägen Humor. Mit anderen Worten, es ist nicht unser Fehler, dass wir die verrückten Dinge glauben, die wir glauben.«
Die Synapsen in der Kuppel zischten, und vertraute Bilder kochten aus dem Innern des Gehirns hoch: astrologische Karten, Jesus, wie er auf dem Wasser wandelt, L. Ron Hubbard, der Gründer von Scientology, die ägyptische Göttin Osiris, Ganesha, der vierarmige hinduistische Elefant, und schließlich eine Statue der Jungfrau Maria, die echte Tränen weinte.
»Als Programmierer müsste ich mir die Frage stellen, welches absonderliche Betriebssystem einen solch unlogischen Output generiert. Wenn wir in den menschlichen Verstand blicken und sein Betriebssystem auslesen könnten, würden wir etwas in dieser Art hier finden …«
Vier Worte in riesigen Lettern erschienen an der Decke.
VERACHTE CHAOS
SCHAFFE ORDNUNG
»Das ist das Grundprogramm unseres Gehirns«, fuhr Edmond fort. »Deswegen sind wir, wie wir sind. Gegen jedes Chaos und mit dem Hang zur Ordnung.«
Mit einem Mal erbebte der Saal in einer Kakophonie misstönender Klavierklänge. Sie widersprachen so grundlegend jedem musikalischen und harmonischen Empfinden, dass es in den Ohren schmerzte.
»Das Geräusch, das entsteht, wenn jemand blindlings in die Tasten hämmert, ist für uns unerträglich!«, rief Edmond über den Lärm hinweg. »Aber wenn wir die Klänge auf eine andere, harmonische Weise ordnen …«
Das wirre Geklimper verstummte, und Debussys besänftigende Melodie »Clair de Lune« war zu hören.
Langdon spürte, wie seine Muskeln sich nach dem Ansturm schräger Töne entspannten.
»Wir reagieren mit Erleichterung«, sagte Edmond. »Die gleichen Noten, das gleiche Instrument. Doch Debussy hat Ordnung geschaffen. Diese Freude an der Ordnung bringt Menschen dazu, Puzzles zu legen oder schief hängende Bilder an einer Wand gerade zu hängen. Unsere Veranlagung, alles zu organisieren, liegt in unseren Genen, daher sollte es keine Überraschung sein, dass eine der größten Erfindungen des menschlichen Geistes der Computer ist – eine Maschine, dazu gemacht, uns zu helfen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Das spanische Wort für Computer ist ordenador – der, der Ordnung schafft.«
Das Bild eines Supercomputers erschien. Vor dem einzigen Terminal saß ein junger Mann.
»Stellen Sie sich einen ungeheuren Rechner vor, der Zugang zu sämtlichen Informationen auf der Welt hat. Sie dürfen ihm jede Frage stellen, die Sie möchten. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden Sie nach einiger Zeit zwei fundamentale Fragen formulieren, die uns Menschen beschäftigen, seit wir ein Bewusstsein entwickelt haben.«
Der Mann tippte etwas ins Terminal. An der Decke erschien:
Woher kommen wir?
Wohin gehen wir?
»Mit anderen Worten, Sie würden nach unserem Ursprung und unserer Bestimmung fragen. Wenn Sie diese Fragen stellen, bekämen Sie vom Computer folgende Antwort.«
Das Terminal blinkte.
DATEN UNZUREICHEND FÜR EXAKTE BERECHNUNG
»Nicht besonders hilfreich«, sagte Kirsch, »aber zumindest eine ehrliche Antwort.«
In der Kuppel erschien das Bild eines menschlichen Gehirns.
»Fragen Sie hingegen diesen vergleichsweise kleinen biologischen Computer, woher wir kommen, geschieht etwas völlig anderes.«
Aus dem Gehirn kam ein unablässiger Strom religiöser Bilder: Gott, wie er Adam Leben einhauchte, Prometheus, der einen Menschen aus Lehm erschuf, Brahma, der seine Nachkommen aus den eigenen Körperteilen schuf, ein afrikanischer Gott, der die Wolken teilte und zwei Menschen zur Erde herabließ, eine nordische Gottheit, die einen Mann und eine Frau aus Treibholz schnitzte.
»Und was geschieht