Nachtzug nach Lissabon - Teil 83
träumte. Es war ein melodiöser Traum ohne Instrumente und Töne, ein Traum aus Sonne, Wind und Worten. Die Fischer mit ihren rauhen Händen riefen einander rauhe Dinge zu, der salzige Wind verwehte die Wörter, auch das Wort, das ihm entfallen war, jetzt war er im Wasser und tauchte steil nach unten, er schwamm mit aller Macht immer tiefer und spürte die Lust und Wärme in den Muskeln, wenn sie sich gegen die Kälte stemmten, er mußte den Bananendampfer verlassen, es eilte, er versicherte den Fischern, es habe mit ihnen nichts zu tun, doch sie verteidigten sich und sahen ihn voller Fremdheit an, als er mit dem Seesack an Land ging, begleitet von Sonne, Wind und Worten.
VIERTER TEIL Die Rückkehr
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49 Silveira war längst aus seinem Gesichtsfeld verschwunden, da winkte Gregorius immer noch. »Gibt es in Bern eine Firma, die Porzellan herstellt?« hatte er auf dem Perron gefragt. Gregorius hatte aus dem Abteilfenster ein Bild geschossen: Silveira, der die Zigarette gegen den Wind abschirmte, um sie anzünden zu können.
Die letzten Häuser von Lissabon. Gestern war er noch einmal ins Bairro Alto zu der kirchlichen Buchhandlung gegangen, wo er die Stirn an die nebelfeuchte Scheibe gelehnt hatte, bevor er zum erstenmal beim blauen Haus klingelte. Damals hatte er gegen die Versuchung ankämpfen müssen, zum Flughafen zu fahren und mit der nächsten Maschine nach Zürich zu fliegen. Jetzt mußte er gegen die Versuchung ankämpfen, an der nächsten Station auszusteigen.
Wenn mit jedem Meter, den der Zug hinter sich brachte, eine Erinnerung gelöscht würde und wenn sich außerdem auch die Welt Stück für Stück zurückverwandelte, so daß, wenn er im Bahnhof von Bern ankam, alles wäre wie zuvor: Wäre dann auch die Zeit seines Aufenthalts vernichtet?
Gregorius holte den Umschlag hervor, den ihm Adriana gegeben hatte. Es zerstört alles. Alles. Was er gleich lesen würde, hatte Prado nach der Spanienreise geschrieben. Nach dem Mädchen. Er dachte an das, was sie über seine Rückkehr aus Spanien gesagt hatte: Unrasiert und hohlwangig war er aus dem Taxi gestiegen, hatte heißhungrig alles verschlungen, ein Schlafpulver genommen, einen Tag und eine Nacht geschlafen.
Während der Zug auf Vilar Formoso zufuhr, wo sie die Grenze passieren würden, übersetzte sich Gregorius den Text, den Prado in winzigen Buchstaben hingeschrieben hatte.
CINZAS DA FUTILIDADE. ASCHE DER VERGEBLICHKEIT. Es ist eine Ewigkeit her, daß mich Jorge mitten in der Nacht anrief, weil ihn die Angst vor dem Tode angefallen hatte. Nein, keine
Ewigkeit. Es war in einer anderen Zeit, einer vollkommen anderen Zeit. Dabei sind es gerade mal drei Jahre, drei ganz gewöhnliche, langweilige Kalendeijahre. Estefänia. Er sprach damals von Estefänia. Die Goldberg-Variationen. Sie hatte sie für ihn gespielt, und er hätte sie auf seinem Steinway gern selbst gespielt. Estefänia Espinhosa. Was für ein zauberhafter, betörender Name!, dachte ich in jener Nacht. Ich wollte die Frau niemals sehen, keine Frau konnte diesem Namen genügen, es müßte eine Enttäuschung sein. Wie konnte ich wissen, daß es umgekehrt war: Der Name konnte ihr nicht genügen.
Die Angst davor, daß das Leben unvollständig bliebe, ein Torso; das Bewußtsein, nicht mehr der werden zu können, auf den hin man sich angelegt hatte. So hatten wir die Angst vor dem Tode schließlich gedeutet. Doch wie kann man sich, fragte ich, vor der fehlenden Ganzheit und Stimmigkeit des Lebens fürchten, wo man sie doch, wenn sie einmal zur unwiderruflichen Tatsache geworden ist, gar nicht erlebt? Jorge schien es zu verstehen. Was sagte er?
Warum blättere ich nicht, warum sehe ich nicht nach? Warum will ich nicht wissen, was ich damals dachte und schrieb? Woher diese Gleichgültigkeit? Ist es Gleichgültigkeit? Oder ist der Verlustgrößer, tiefer?
Wissen wollen, wie man früher dachte und wie daraus wurde,
was man jetzt denkt: Auch das gehörte, wenn es sie gäbe, zur Ganzheit eines Lebens. Und so hätte ich also verloren, was den Tod angstvoll macht? Den Glauben an eine Stimmigkeit des Lebens, um die es sich zu kämpfen lohnt und die wir dem Tod ab
zuringen versuchen?
Loyalität, sagte ich zu Jorge, Loyalität. Darin erfinden wir unsere Stimmigkeit. Estefänia. Warum konnte die Brandung des
Zufalls sie nicht an einen anderen Ort schwemmen? Warum gerade zu uns? Warum mußte sie uns auf eine Probe stellen, der wir nicht gewachsen waren? Die wir beide nicht bestanden haben, jeder auf seine Weise?
>Du bist mir zu hungrig. Es ist wunderschön mit dir. Aber du bist mir zu hungrig. Ich kann diese Reise nicht wollen. Siehst du, es wäre deine Reise, ganz allein deine. Es könnte nicht unsere sein.< Und sie hatte recht: Man darf die anderen nicht zu Bausteinen des eigenen Lebens machen, zu Wasserträgern beim Rennen um die eigene Seligkeit.Finis terrae. Nie bin ich so wach gewesen wie dort. Und sonüchtern. Seither weiß ich: Mein Rennen ist zu Ende. Ein Rennen, von dem ich nicht gewußt habe, daß ich es lief schon immer. Ein Rennen ohne Konkurrenten, ohne Ziel, ohne Belohnung. Ganz/reif? Espejismo, sagen die Spanier, ich habe das Wort in jenen Tagen in der Zeitung gelesen, es ist das einzige, was ich noch weiß. Luftspiegelung. Fata Morgana.Unser Leben, das sind flüchtige Formationen aus Treibsand, vom einen Windstoß gebildet, vom nächsten zerstört. Gebilde aus Vergeblichkeit, die verwehen, noch bevor sie sich richtig gebildet haben.Er war nicht mehr er selbst, hatte Adriana gesagt. Und mit dem fremden, dem entfremdeten Bruder wollte sie nichts zu tun haben. Weit fort. Ganz weit fort.Wann war jemand er selbst? Wenn er so war wie immer? So, wie er sich selbst sah? Oder so, wie er war, wenn die glühende Lava der Gedanken und Gefühle alle Lügen, Masken und Selbsttäuschungen unter sich begrub? Oft waren es die anderen, die beklagten, daß jemand nicht mehr er selbst sei. Vielleicht hieß es dann in Wirklichkeit: Er ist nicht mehr so, wie wir ihn gerne hätten? War das Ganze also am Ende nicht viel mehr als eine Art Kampfparole gegen eine drohende Erschütterung des Gewohnten, getarnt als Kummer und Besorgnis um das angebliche Wohl des anderen?Auf der Weiterfahrt nach Salamanca schlief Gregorius ein. Und dann geschah etwas, was er noch nicht kannte: Er wachte direkt in den Schwindel hinein auf. Eine Flut irregeleiteter nervlicher Erregung schwappte durch ihn hindurch. Er drohte, in die Tiefe zu fallen, und hielt sich krampfhaft an den Armlehnen des Sitzes fest. Die Augen zu schließen, machte es noch schlimm er. Er schlug die Hände vors Gesicht. Es war vorbei.Aiox^ov. Alles in Ordnung.Warum war er nicht geflogen? Morgen früh, in achtzehn Stunden, war er in Genf, drei Stunden später zu Hause. Mittags bei Doxiades, der das weitere veranlassen würde.Der Zug fuhr langsamer, salamanca. Und ein zweites Schild: salamanca. Estefänia. Espinhosa.Gregorius stand auf, wuchtete den Koffer von der Ablage und hielt sich fest, bis der Schwindel vorbei war. Auf dem Bahnsteig trat er fest auf, um das Luftkissen zu zertreten, das ihn umfing.50 Wenn er später an seinen ersten Abend in Salamanca zurückdachte, kam es ihm vor, als sei er stundenlang, gegen den Schwindel ankämpfend, durch Kathedralen, Kapellen und Kreuzgänge gestolpert, blind für ihre Schönheit, aber überwältigt von ihrer dunklen Wucht. Er blickte auf Altäre, Kuppeln und Chorgestühle, die sich in der Erinnerung sofort überlagerten, geriet zweimal in eine Messe und blieb schließlich in einem Orgelkonzert sitzen. Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit undErhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.Das hatte der siebzehnjährige Prado geschrieben. Ein Junge, der glühte. Ein Junge, der kurz danach mit Jorge O’Kelly nach Coimbra ging, wo ihnen die ganze Welt zu gehören schien und wo er im Hörsaal die Professoren zurechtwies. Ein Junge, der noch nichts gewußt hatte von der Brandung des Zufalls, von verwehtem Treibsand und der Asche der Vergeblichkeit.Jahre danach hatte er diese Zeilen an Pater Bartolomeu geschrieben: Es gibt Dinge, die für uns Menschen zu groß sind: Schmerz, Einsamkeit und Tod, aber auch Schönheit, Erhabenheit und Glück. Dafür haben wir die Religion geschaffen. Was geschieht, wenn wir sie verlieren? Jene Dinge sind dann immer noch zu groß für uns. Was uns bleibt, ist die Poesie des einzelnen Lebens. Ist sie stark genug, uns zu tragen?Von seinem Hotelzimmer aus konnte Gregorius die Alte und die Neue Kathedrale sehen. Wenn die Stunde schlug, trat er ans Fenster und blickte hinüber zu den erleuchteten Fassaden. San Juan de la Cruz hatte hier gelebt. Florence war, während sie über ihn schrieb, mehrmals hierher gereist. Sie war mit anderen Studenten gefahren, ihm war nicht danach gewesen. Er hatte nicht gemocht, wie sie von den mystischen Gedichten des großen Dichters geschwärmt hatte, sie und die anderen.Von Poesie schwärmte man nicht. Man las sie. Man las sie mit der Zunge. Man lebte damit. Man spürte, wie sie einen bewegte, veränderte. Wie sie dazu beitrug, daß das eigene Leben eine Form bekam, eine Färbung, eine Mélodie. Man sprach nicht darüber, und schon gar nicht machte man sie zum Kanonenfutter einer akademischen Karriere.In Coimbra hatte er sich gefragt, ob er nicht doch ein mögliches Leben an der Universität verpaßt hatte. Die Antwort war: nein. Er spürte noch einmal, wie er in Paris im coupole gesessen und Florences geschwätzige Kollegen mit seiner ber-nischen Zunge und seinem Bernischen Wissen niedergewalzt hatte. Nein.Später träumte er, daß ihn Aurora in Silveiras Küche zu