Nachtzug nach Lissabon - Teil 78
wir schattenhaften Feinden entgegenschleudern in hilflosem Zorn, den wir als eisig loderndes Feuer im Gedärm spüren. Und je größer unsere Verzweiflung darüber ist, daß es nur ein Schattenspiel ist und keine wirkliche Auseinandersetzung, in der es die Möglichkeit gäbe, dem anderen zu schaden und ein Gleichgewicht des Leids herzustellen, desto wilder tanzen die giftigen Schatten und verfolgen uns bis in die finstersten Katakomben unserer Träume. (Wir werden den Spieß umdrehen, denken wir grimmig, und schmieden nächtelang Worte, die im anderen die Wirkung einer Brandbombe entfalten werden, so daß nun er es sein wird, in dem die Flammen der Empörung wüten, während wir, durch Schadenfreude besänftigt, in heiterer Ruhe unseren Kaffee trinken.)
Was könnte es heißen, es richtig zu machen mit dem Ärger.? Wir möchten ja nicht seelenlose Wesen sein, die ganz und gar unangefochten bleiben durch das, was ihnen begegnet, Wesen, deren Bewertungen sich in kühlen, blutleeren Urteilen erschöpften, ohne daß etwas sie aufzuwühlen vermöchte, weil nichts sie wirklich kümmerte. Und deshalb können wir uns nicht ernsthaft wünschen, die Erfahrung des Ärgers überhaupt nicht zu kennen und statt dessen in einem Gleichmut zu verharren, der von öder Gefühllosigkeit nicht zu unterscheiden wäre. Ärger lehrt uns ja auch etwas darüber, wer wir sind. Wissen möchte ich deshalb dieses: Was könnte es heißen, uns im Ärger so zu erziehen und zu bilden, daß wir uns seine Erkenntnis zunutze machten, ohne seinem Gift zu verfallen?
Wir können gewiß sein, daß wir auf dem Sterbebett als Teil der letzten Bilanz festhalten werden — und dieser Teil wird bitter schmecken wie Zyanid —, daß wir zuviel, viel zuviel Kraft und Zeit darauf verschwendet haben, uns zu ärgern und es den anderen in einem hilflosen Schattentheater heimzuzahlen, von dem nur wir, die wir es ohnmächtig erlitten, überhaupt etwas wußten. Was können wir tun, um diese Bilanz zu verbessern? Warum haben uns die Eltern, die Lehrer und die anderen Erzieher nie davon gesprochen? Warum haben sie etwas von dieser gewaltigen Bedeutung nicht zur Sprache gebracht.? Uns in dieser Sache keinen Kompaß mitgegeben, der uns hätte helfen können, die Verschwendung unserer Seele an unnützen, selbstzerstörerischen Ärger zu vermeiden?
Gregorius lag lange wach. Ab und zu stand er auf und trat ans Fenster. Die Oberstadt mit der Universität und dem Glockenturm sah jetzt, nach Mitternacht, karg, sakral und auch ein bißchen bedrohlich aus. Er konnte sich einen Landvermesser vorstellen, der vergeblich darauf wartete, daß man ihm Einlaß in den geheimnisvollen Bezirk gewähre.
Den Kopf an einen Berg von Kissen gelehnt, las Gregorius noch einmal die Sätze, in denen Prado sich mehr geöffnet und vor sich selbst offenbart hatte als in allen anderen: Manchmal schrecke ich auf und denke: Der Zug kann jederzeit entgleisen. Ja, meistens erschreckt mich der Gedanke. Doch in seltenen, weißglühenden Momenten durchzuckt er mich wie ein seliger Blitz.
Er wußte nicht, woher das Bild kam, doch auf einmal sah Gregorius diesen portugiesischen Arzt, der vom poetischen Denken als dem Paradies geträumt hatte, zwischen den Säulen eines Kreuzgangs sitzen, mitten in einem Kloster, das zu einem schweigenden Asyl für Entgleiste geworden war. Seine Entgleisung, sie hatte darin bestanden, daß die glühende Lava seiner gequälten Seele mit betäubender Wucht alles verbrannt und weggeschwemmt hatte, was an Knechtung und Überforderung in ihm gewesen war. Er hatte alle Erwartungen enttäuscht und alle Tabus gebrochen, und darin bestand seine Seligkeit. Endlich hatte er Ruhe vor dem gebeugt richtenden Vater, der sanften Diktatur der ehrgeizigen Mutter und der lebenslangen, erstickenden Dankbarkeit der Schwester.
Und auch vor sich selbst hatte er schließlich Ruhe gefunden. Das Heimweh war zu Ende, er brauchte Lissabon und die blaue Farbe der Geborgenheit nicht mehr. Jetzt, da er sich ganz den inneren Sturmfluten überlassen hatte und eins mit ihnen geworden war, gab es nichts mehr, gegen das er einen Schutzwall errichten mußte. Ungehindert von sich selbst, konnte er bis ans andere Ende der Welt reisen. Endlich konnte er durch die verschneiten Steppen Sibiriens nach Vladivostok fahren, ohne bei jedem Klopfen der Räder denken zu müssen, daß er sich von seinem blauen Lissabon entfernte.
Jetzt fiel das Sonnenlicht in den Klostergarten, die Säulen wurden heller und heller und bleichten schließlich ganz aus, so daß nur noch eine leuchtende Tiefe übrigblieb, in der Gregorius den Halt verlor.
Er schreckte auf, ging schwankend ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann rief er Doxiades an. Der Grieche ließ sich den Schwindel in allen Einzelheiten beschreiben. Dann schwieg er eine Weile. Gregorius spürte, wie die Angst in ihm hochkroch.
»Es kann alles mögliche sein«, sagte der Grieche schließlich mit seiner ruhigen Arztstimme. »Das meiste davon ist harmlos, nichts, was man nicht schnell unter Kontrolle bekäme. Aber es müssen Tests gemacht werden. Das können die Portugiesen genausogut wie wir hier. Aber mein Gefühl sagt: Sie sollten nach Hause kommen. Mit den Ärzten in der Muttersprache reden. Angst und Fremdsprache, das paßt nicht gut zusammen.«
Als Gregorius schließlich einschlief, war hinter der Universität der erste Schimmer der Morgendämmerung zu sehen.
43 Es seien dreihunderttausend Bände, sagte die Fremdenführerin, und ihre Pfennigabsätze klackten auf dem Marmorboden der Biblioteca Joanina. Gregorius blieb zurück und sah sich um. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Mit Gold und Tropenhölzern verkleidete Räume, verbunden durch Bogen, die an Triumphbögen erinnerten, darüber das Wappen von König Joäo V., der die Bibliothek Anfang des 18. Jahrhunderts gegründet hatte. Barocke Regale mit Emporen auf zierlichen Säulen. Ein Portrait von Joäo V. Ein roter Läufer, der den Eindruck des Prunkvollen steigerte. Es war wie im Märchen.
Homer, Ilias und Odyssee, mehrere Ausgaben in prachtvollem Einband, der sie zu heiligen Texten machte. Gregorius ließ den Blick weitergleiten.
Nach einer Weile spürte er, daß sein Blick an den Regalen nur noch achtlos vorbeiglitt. Die Gedanken waren drüben bei Homer geblieben. Es mußten Gedanken sein, die ihm Herzklopfen machten, doch er kam nicht darauf, wovon sie handelten. Er ging in eine Ecke, nahm die Brille ab und schloß die Augen. Im nächsten Raum hörte er die grelle Stimme der Führerin. Er preßte die Handflächen auf die Ohren und konzentrierte sich in die dumpfe Stille hinein. Die Sekunden verrannen, er spürte das Blut pochen.
Ja. Was er, ohne es zu bemerken, gesucht hatte, war ein
Wort, das bei Homer nur ein einziges Mal vorkam. Es war, als hätte etwas hinter seinem Rücken, verborgen in den Kulissen des Gedächtnisses, überprüfen wollen, ob sein Erinnerungsvermögen noch so gut war wie immer. Sein Atem ging rasch. Das Wort kam nicht. Es kam nicht.
Die Führerin mit der Gruppe zog durch den Raum, die Leute schnatterten. Gregorius schob sich an ihnen vorbei in den hintersten Teil. Er hörte, wie sich die Eingangstür zur Bibliothek schloß und der Schlüssel gedreht wurde.
Mit hämmerndem Herzen rannte er zum Regal und nahm die Odyssee heraus. Das alte, steif gewordene Leder schnitt ihm mit scharfen Kanten in die Handfläche. Hektisch blätterte er und blies den Staub in den Raum. Das Wort war nicht dort, wo er gedacht hatte. Es war nicht dort.
Er versuchte, ruhig zu atmen. Als zöge eine Bank von Schleierwolken durch ihn hindurch, spürte er einen Schwindel, der kam und ging. Methodisch ging er das ganze Epos in Gedanken durch. Keine andere Stelle kam in Frage. Doch das Exerzitium hatte zur Folge, daß nun auch die vermeintliche Gewißheit, mit der er die Suche begonnen hatte, bröckelte. Der Boden begann zu schwanken, und dieses Mal war es nicht der Schwindel. Sollte er sich auf gröbste Weise getäuscht haben, und es war die Ilias? Er nahm sie aus dem Regal und blätterte gedankenlos. Die Bewegungen der blätternden Hand wurden leer und mechanisch, das Ziel geriet in Vergessenheit, von Moment zu Moment mehr, Gregorius spürte, wie ihn das Luftkissen umfing, er versuchte aufzustampfen, ruderte mit den Armen, das Buch fiel ihm aus der Hand, die Knie gaben nach, und er glitt in einer sanften, kraftlosen Bewegung zu Boden.
Als er aufwachte, suchte er mühsam nach der Brille, die eine Armlänge entfernt lag. Er sah auf die Uhr. Es konnte nicht mehr als eine Viertelstunde vergangen sein. Sitzend lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand. Minuten vergingen, in denen er nur atmete, froh darüber, daß er sich nicht verletzt hatte und die Brille heil geblieben war.
Und dann, ganz plötzlich, flammte Panik in ihm auf. War dieses Vergessen der Beginn von etwas? Eine erste, winzige Insel des Vergessens? Würde sie wachsen, und würden andere dazukommen? Wir sind Geröllhalden des Vergessens, hatte Prado irgendwo geschrieben. Und wenn nun eine Geröllawine über ihn käme und die kostbaren Wörter alle mit sich fortrisse? Er umfaßte den Kopf mit seinen großen Händen und drückte, als könne er damit verhindern, daß weitere Wörter verschwänden. Gegenstand für Gegenstand suchte er das Blickfeld ab und gab jedem Ding seinen Namen, erst den mundartlichen, dann den hochdeutschen, den französischen und englischen und schließlich den portugiesischen. Keiner fehlte, und langsam wurde er ruhiger.
Als die Tür für die nächste Gruppe aufgeschlossen wurde, wartete er in der Ecke, mischte sich einen Moment unter die Leute und verschwand dann durch die Tür. Ein tiefblauer Himmel wölbte sich über Coimbra. Vor einem Café trank er in kleinen, langsamen Schlucken einen Kamillentee. Der Magen entspannte sich, und er konnte etwas essen.
Die Studenten lagen in der warmen Märzsonne. Ein Mann und eine Frau, ineinander verschlungen, brachen plötzlich in lautes Lachen aus, warfen die Zigaretten weg, erhoben sich mit flüssigen, geschmeidigen Bewegungen und begannen zu tanzen, so leicht und locker, als gäbe es die Schwerkraft nicht. Gregorius spürte den Sog des Erinnerns und überließ sich ihm. Und plötzlich war sie da, die Szene, an die