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Nachtzug nach Lissabon - Teil 77

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getäuscht, hatte er mit der Langsamkeit eines Betrunkenen gesagt.

In der Universität wäre Gregorius am liebsten sofort in die Biblioteca Joanina und in die Sala Grande dos Actos gegangen, die Räume, derentwegen Prado immer wieder hierhergefah-ren war. Doch das war nur zu bestimmten Stunden möglich, und die waren für heute vorbei.

Offen war die Capela de Säo Miguel. Gregorius war allein und betrachtete die barocke Orgel, die von überwältigender Schönheit war. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik, hatte Prado in seiner Rede gesagt. Gregorius rief sich die Gelegenheiten in Erinnerung, bei denen er in der Kirche gewesen war. Konfirmandenunterricht, die Beerdigung der Eltern. Vater unser… Wie dumpf, freudlos und bieder es geklungen hatte! Und all das, dachte er jetzt, hatte nichts zu tun gehabt mit der ausgreifenden Poesie des griechischen und hebräischen Texts. Nichts, rein gar nichts!

Gregorius fuhr zusammen. Er hatte, ohne es zu wollen, mit der Faust auf die Bank geschlagen und sah sich jetzt verschämt um, doch er war immer noch allein. Er ließ sich auf die Knie nieder und tat, was Prado mit dem gekrümmten Rücken des Vaters getan hatte: Er versuchte sich vorzustellen, wie die Haltung von innen her war. Die müßte man herausreißen, hatte Prado gesagt, als er mit Pater Bartolomeu an Beichtstühlen vorbeigegangen war. Eine solche Demütigung!

Als Gregorius sich aufrichtete, drehte sich die Kapelle in rasender Geschwindigkeit. Er klammerte sich an die Bank und wartete, bis es vorbei war. Dann ging er, während eilige Studenten an ihm vorbeihasteten, langsam die Gänge entlang und betrat einen Hörsaal. In der letzten Reihe sitzend dachte er zunächst an die Vorlesung über Euripides, in der er es damals versäumt hatte, dem Dozenten laut die Meinung zu sagen. Dann glitten seine Gedanken zurück zu den Vorlesungen, die er als Student besucht hatte. Und schließlich stellte er sich den Studenten Prado vor, der sich im Hörsaal erhob und kritische Fragen stellte. Gestandene, mit Preisen ausgezeichnete

Professoren, Koryphäen ihres Fachs, fühlten sich von ihm auf den Prüfstand gestellt, hatte Pater Bartolomeu gesagt. Doch Prado hatte hier nicht als arroganter, besserwisserischer Student gesessen. Er hatte in einem Fegefeuer von Zweifeln gelebt, gepeinigt von der Angst, er könnte sich verpassen. Es war in Coimbra, auf einer harten Bank im Hörsaal, als mir bewußt wurde: Ich kann nicht aussteigen.

Es war eine Vorlesung in Rechtswissenschaft, Gregorius verstand kein Wort und ging. Er blieb bis in die Nacht hinein auf dem Gelände der Universität und versuchte stets von neuem, sich über die verwirrenden Empfindungen klar zu werden, die ihn begleiteten. Warum dachte er hier, in der berühmtesten Universität Portugals, auf einmal, daß er vielleicht doch gern in einem Hörsaal gestanden und sein umfassendes philologisches Wissen mit Studenten geteilt hätte? Hatte er vielleicht doch ein mögliches Leben verpaßt, eines, das er mit seinen Fähigkeiten und seinem Wissen mühelos hätte leben können? Niemals zuvor, keine einzige Stunde, hatte er es für einen Fehler gehalten, daß er als Student den Vorlesungen nach wenigen Semestern ferngeblieben war und all seine Zeit der unermüdlichen Lektüre der Texte gewidmet hatte. Warum jetzt auf einmal diese sonderbare Wehmut? Und war es überhaupt Wehmut?

Als das Essen kam, das er in einer kleinen Kneipe bestellt hatte, widerstand es ihm, und er wollte hinaus in die kühle Nachtluft. Das hauchdünne Luftkissen, das ihn heute früh umschlossen hatte, war wieder da, ein bißchen dicker und mit einem Widerstand, der eine Spur stärker war. Wie auf dem Bahnsteig in Lissabon trat er betont fest auf, und das half auch jetzt.

JOÄO DE LOUSADA DE LEDESMA, O MAR TENEBROSO. Der große Band sprang ihm in die Augen, als er in einem Antiquariat die Bücherwände entlangging. Das Buch auf Prados

Schreibtisch. Seine letzte Lektüre. Gregorius nahm es aus dem Regal. Die großen kalligraphischen Schrifttypen, die Kupferstiche von Küsten, die Tuschzeichnungen von Seefahrern.

Cabo Finisterre, hörte er Adriana sagen, oben in Galizien. Es war wie eine idée fixe. Er hatte einen gehetzten, fiebrigen Ausdruck im Gesicht, wenn er davon sprach.

Gregorius setzte sich in eine Ecke und blätterte, bis er auf die Worte des muselmanischen Geographen El Edrisi aus dem 12. Jahrhundert stieß: Von Santiago aus fuhren wir nach Finis-terre, wie die Bauern es nennen, ein Wort, das das Ende der Welt bedeutet. Man sieht nicht weiter als bis zu Himmel und Wasser, und sie sagen, das Meer sei so stürmisch, daß niemand auf ihm habe fahren können, weswegen man denn nicht weiß, was jenseits ist. Sie sagten uns, daß einige, begierig, es zu ergründen, mit ihren Schiffen verschwunden sind und daß keiner jemals zurückgekehrt ist.

Es dauerte, bis der Gedanke in Gregorius Gestalt annahm. Viel später hörte ich, daß sie in Salamanca arbeitete, als Dozentin für Geschichte, hatte Joäo Ega über Estefania Espinhosa gesagt. Als sie für den Widerstand arbeitete, war sie bei der Post. Nach der Flucht mit Prado war sie in Spanien geblieben. Und hatte Geschichte studiert. Adriana hatte keinen Zusammenhang gesehen zwischen Prados Reise nach Spanien und seinem plötzlichen, fanatischen Interesse an Finisterre. Wie, wenn es da eine Verbindung gab? Wenn er und Estefania Espinhosa nach Finisterre gefahren waren, weil sie schon immer ein Interesse an der mittelalterlichen Furcht vor dem endlosen, stürmischen Meer gehabt hatte, ein Interesse, das zu ihrem Studium geführt hatte? Wie, wenn es auf dieser Fahrt ans Ende der Welt gewesen war, daß passierte, was Prado derart verstörte und ihn zur Rückkehr bewog?

Doch nein, es war zu abwegig, zu abenteuerlich. Und geradezu irrwitzig war es anzunehmen, daß die Frau auch ein

Buch über das furchterregende Meer geschrieben hatte. Damit konnte er doch dem Antiquar wirklich nicht die Zeit stehlen.

»Mal sehen«, sagte der Antiquar. »Derselbe Titel – das ist fast ausgeschlossen. Verstieße gegen die guten akademischen Sitten. Wir probieren es mit dem Namen.«

Estefania Espinhosa, sagte der Computer, hatte zwei Bücher geschrieben, beide hatten mit den Anfängen der Renaissance zu tun.

»Gar nicht so weit weg, oder?« sagte der Antiquar. »Aber wir kriegen es noch genauer, passen Sie auf«, und er rief die historische Fakultät der Universität von Salamanca auf.

Estefania Espinhosa hatte ihre eigene Seite, und gleich am Anfang der Veröffentlichungsliste kamen sie: zwei Aufsätze über Finisterre, einer auf portugiesisch, der andere auf spanisch. Der Antiquar grinste.

»Mag das Gerät nicht, aber manchmal …«

Er rief eine spezialisierte Buchhandlung an, und dort hatten sie eines der beiden Bücher.

Bald würde Geschäftsschluß sein. Gregorius, das große Buch über das finstere Meer unter dem Arm, rannte. War auf dem Umschlag ein Bild der Frau? Fast riß er der Verkäuferin das Buch aus der Hand und drehte es um.

Estefänia Espinhosa, geboren 1948 in Lissabon, heute Professorin an der Universität Salamanca für die spanische und italienische Geschichte der frühen Neuzeit. Und ein Portrait, das alles erklärte.

Gregorius kaufte das Buch, und auf dem Weg zum Hotel blieb er alle paar Meter stehen, um das Bild zu betrachten. Sie war nicht nur der Ball, der rote irische Ball im College, hörte er Maria Joao sagen. Sie war viel mehr als alle roten irischen Bälle zusammen: Er muß gespürt haben, daß sie für ihn die Chance war, ganz zu werden. Als Mann, meine ich. Und auch die Worte von Joao Ega hätten nicht treffender sein können: Estefänia, glaube ich, war seine Chance, endlich aus dem Gerichtshof hinauszutreten, hinaus auf den freien, heißen Platz des Lebens, und dieses eine Mal ganz nach seinen Wünschen zu leben, nach seiner Leidenschaft, und zum Teufel mit den anderen.

Sie war also vierundzwanzig gewesen, als sie sich vor dem blauen Haus ans Steuer setzte und mit Prado, dem achtundzwanzig Jahre älteren Mann, über die Grenze fuhr, weg von O’Kelly, weg von der Gefahr, hinein in ein neues Leben.

Auf dem Rückweg zum Hotel kam Gregorius an der psychiatrischen Klinik vorbei. Er dachte an Prados Nervenzusammenbruch nach dem Diebstahl. Maria Joao hatte erzählt, daß er sich auf der Station vor allem für diejenigen Patienten interessierte, die, blind in sich selbst verstrickt, auf und ab gingen und vor sich hinsprachen. Er hatte den Blick für solche Leute auch später beibehalten und war erstaunt, wie viele von ihnen es gab, die auf der Straße, im Bus, auf dem Tejo ihre Wut auf imaginäre Gegner hinausschrien.

»Er wäre nicht Amadeu gewesen, wenn er sie nicht angesprochen und sich ihre Geschichte angehört hätte. Das war ihnen noch nie passiert, und wenn er den Fehler machte, ihnen die Adresse zu geben, rannten sie ihm am nächsten Tag die Bude ein, so daß Adriana sie hinauswerfen mußte.«

Im Hotel las Gregorius eine der wenigen Aufzeichnungen aus Prados Buch, die er noch nicht kannte.

O VENENO ARDENTE DO DESGOSTO. DAS GLÜHENDE GIFT DES Ärgers. Wenn die anderen uns dazu bringen, daß wir uns über sie ärgern — über ihre Dreistigkeit, Ungerechtigkeit, Rücksichtslosigkeit-, dann üben sie Macht über uns aus, sie wuchern und fressen sich in unsere Seele, denn der Ärger ist wie ein glühendes Gif, das alle milden, noblen und ausgewogenen Empfindungen zersetzt und uns den Schlaf raubt Schlaflos machen wir Licht

und ärgern uns über den Ärger, der sich eingenistet hat wie ein

schmarotzender Schädling, der uns aussaugt und entkräftet Wir sind nicht nur wütend über den Schaden, sondern auch darüber, daß er sich ganz allein in uns entfaltet, denn während wir mit schmerzenden Schläfen auf dem Bettrand sitzen, bleibt der ferne Urheber unberührt von der zersetzenden Kraft des Ärgers, deren Opfer wir sind. Auf der menschenleeren inneren Bühne, in das grelle Licht stummer Wut getaucht, führen wir ganz allein für uns selbst ein Drama auf mit schattenhaften Figuren und schattenhaften Worten, die

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