Nachtzug nach Lissabon - Teil 69
in ein kompliziertes Endspiel verwickelt. Auch Pedro war da, der Mann mit den epileptischen Augen und dem hochgezogenen Rotz, der Gregorius an das verlorene Turnier in Moutier erinnerte. Es gab kein freies Brett.
»Setzen Sie sich hierher«, sagte O’Kelly und zog einen freien Stuhl zu seinem Tisch.
Auf dem ganzen Weg zum Club hatte sich Gregorius gefragt, was er sich davon versprach. Was er von O’Kelly wollte. Wo doch klar war, daß er ihn nicht fragen konnte, wie es damals mit Estefania Espinhosa gewesen war und ob er allen Ernstes bereit gewesen wäre, sie zu opfern. Er hatte die Antwort nicht gefunden, hatte aber auch nicht umdrehen können.
Jetzt, mit dem Rauch seiner Zigarette im Gesicht, wußte er es plötzlich: Er hatte sich noch einmal vergewissern wollen, wie es war, neben dem Mann zu sitzen, den Prado ein Leben lang in sich getragen hatte, dem Mann, den er, wie Pater Bartolomeu gesagt hatte, gebraucht hatte, um ganz zu sein. Dem Mann, gegen den zu verlieren er genoß und dem er, ohne Dankbarkeit zu erwarten, eine ganze Apotheke geschenkt hatte. Dem Mann, der als erster laut gelacht hatte, als der bellende Hund die peinliche Stille nach der skandalösen Rede durchbrochen hatte.
»Wollen wir?« fragte O’Kelly, nachdem er das Endspiel gewonnen und sich von seinem Partner verabschiedet hatte.
So hatte Gregorius noch nie gegen jemanden gespielt. So, daß es nicht um die Partie, sondern um die Gegenwart des anderen gegangen war. Ausschließlich um seine Gegenwart. Um die Frage, wie es gewesen sein mußte, jemand zu sein, dessen Leben von diesem Mann erfüllt war, dessen nikotingelbe Finger mit dem Schwarz unter den Nägeln die Figuren mit gnadenloser Präzision in Stellung brachten.
»Was ich Ihnen neulich erzählte, über Amadeu und mich, meine ich: Vergessen Sie es.«
O’Kelly sah Gregorius mit einem Blick an, in dem sich Scheu und die zornige Bereitschaft, alles wegzuwerfen, mischten.
»Der Wein. Es war alles ganz anders.«
Gregorius nickte und hoffte, daß sein Respekt jener tiefen und komplizierten Freundschaft gegenüber auf seinem Gesicht zu erkennen war. Prado habe sich ja gefragt, sagte er, ob die Seele überhaupt ein Ort von Tatsachen sei oder ob die vermeintlichen Tatsachen nur die trügerischen Schatten unserer
Geschichten seien, die wir über andere und über uns selbst erzählten.
Ja, sagte O’Kelly, das sei etwas gewesen, das Amadeu sein Leben lang beschäftigt habe. Es gehe doch, habe er gesagt, im Inneren eines Menschen viel komplizierter zu, als unsere schematischen, läppischen Erklärungen uns weismachen wollten. Es ist doch alles viel komplizierter. Es ist in jedem Augenblick viel komplizierter. >Sie heirateten, weil sie sich liebten und das Leben teilen wollten; >Sie stahl, weil sie Geld brauchten >Er log, weil er nicht verletzen wolltec Was sind das für lächerliche Geschichtchen! Wir sind geschichtete Wesen, Wesen voll von Untiefen, mit einer Seele aus unstetem Quecksilber, mit einem Gemüt, dessen Farbe und Form wechselt wie in einem Kaleidoskop, das unablässig geschüttelt wird.
Das klinge, habe er, Jorge, eingewandt, als gäbe es doch seelische Tatsachen, nur eben sehr komplizierte.
Nein, nein, habe Amadeu protestiert, wir könnten unsere Erklärungen bis ins Unendliche verfeinern und würden trotzdem noch falsch liegen. Und das Falsche, das wäre just die Annahme, daß es da Wahrheiten zu entdecken gibt. Die Seele, Jorge, sie ist eine pure Erfindung, unsere genialste Erfindung, und ihre Genialität liegt in der Suggestion, der überwältigend plausiblen Suggestion, daß es an der Seele etwas zu entdecken gibt wie an einem wirklichen Stück Welt. Die Wahrheit, Jorge, ist eine ganz andere: Wir haben die Seele erfunden, um einen Gesprächsgegenstand zu haben, etwas, über das wir reden können, wenn wir einander begegnen. Stell dir vor, wir könnten nicht über die Seele reden: Was sollten wir miteinander anfangeni Es wäre die Hölle!
»Er konnte sich darüber in einen wahren Rausch hineinreden, er glühte dann förmlich, und wenn er mir ansah, daß ich seinen Rausch genoß, sagte er: Weißt du, das Denken ist das Zweitschönste. Das Schönste ist die Poesie. Wenn es das poetische
Denken gäbe und die denkende Poesie — das wäre das Paradies. Als er später mit seinen Aufzeichnungen begann: Ich glaube, sie waren der Versuch, sich den Weg in dieses Paradies zu bahnen.«
Ein feuchter Schimmer lag in O’Kellys Augen. Er sah nicht, daß seine Dame in Gefahr war. Gregorius machte einen belanglosen Zug. Sie waren die letzten im Raum.
»Einmal dann wurde aus dem denkenden Spiel bitterer Ernst. Es geht Sie nichts an, worum es ging, das geht niemanden etwas an.«
Er biß sich auf die Lippen.
»Auch Joao drüben in Cacilhas nicht.«
Er zog an der Zigarette und hustete.
>»Du machst dir etwas von, sagte er zu mir, >du wolltest es aus einem anderen Grund als dem, den du vor dir inszenierst.
Das waren seine Worte, seine verdammten, verletzenden Worte: den du vor dir inszenierst. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn Ihnen jemand sagt, daß Sie Ihre Gründe nur inszenieren.? Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn ein Freund, DER Freund, es sagti
>Woher willst du das wissen<, schrie ich ihn an, >ich denke, es gibt da nicht wahr und falsch, oder stehst du nicht mehr dazu:1««
Auf O’Kellys unrasiertem Gesicht waren rote Flecke.
»Wissen Sie, ich hatte einfach daran geglaubt, daß wir über alles sprechen könnten, das uns durch den Kopf ging. Alles. Romantisch. Verdammt romantisch, ich weiß. Aber so war es zwischen uns, mehr als vierzig Jahre lang. Seit dem Tag, als er in seinem teuren Gehrock und ohne Schultasche in der Klasse erschien.
Er war doch derjenige, der vor keinem Gedanken Angst hatte. Er war es doch, der im Angesicht von Priestern vom sterbenden Wort Gottes hatte sprechen wollen. Und als ich dann einen kühnen und, wie ich zugebe, schrecklichen Ge-danken ausprobieren wollte – da merkte ich, daß ich ihn und unsere Freundschaft überschätzt hatte. Er sah mich an, als sei ich ein Monster. Er wußte sonst stets zu unterscheiden zwischen einem bloß ausprobierten Gedanken und einem, der uns tatsächlich in Gang setzt. Er war es, der mir diesen Unterschied, diesen befreienden Unterschied, beigebracht hat. Und plötzlich wußte er davon nichts mehr. Aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen. In dieser einen, einzigen Sekunde dachte ich, daß das Schrecklichste geschehen war: daß unsere lebenslange Zuneigung in Haß umgeschlagen war. Das war der Moment, der entsetzliche Moment, in dem wir uns verloren.«
Gregorius wollte, daß O’Kelly die Partie gewänne. Er wollte, daß er ihn mit zwingenden Zügen Matt setze. Aber Jorge fand nicht mehr ins Spiel zurück, und Gregorius arrangierte ein Remis.
»Sie ist einfach nicht möglich, die grenzenlose Offenheit«, sagte Jorge, als sie sich auf der Straße die Hand gaben. »Sie geht über unsere Kräfte. Einsamkeit durch Verschweigenmüssen, auch das gibt es.«
Er atmete Rauch aus.
»Es ist alles lange her, über dreißig Jahre. Als ob es gestern gewesen wäre. Ich bin froh, daß ich die Apotheke behalten habe. Ich kann darin in unserer Freundschaft wohnen. Und zeitweilig gelingt es mir zu denken, daß wir uns nie verloren haben. Daß er einfach nur gestorben ist.«
38 Seit einer guten Stunde schlich Gregorius um das Haus von Maria Joao herum und fragte sich, warum er solches Herzklopfen hatte. Die große, berührungslose Liebe seines Lebens hatte Mélodie sie genannt. Es würde mich nicht
wundern, wenn er ihr nicht einmal einen Kuß gegeben hätte.
Aber niemand, keine Frau, reichte an sie heran. Wenn jemand all seine Geheimnisse kannte, war es Maria Joäo. In gewissem Sinn wußte nur sie, sie allein, wer er war. Und Jorge hatte gesagt, sie sei die einzige Frau gewesen, der Amadeu wirklich etwas zutraute. Maria, mein Gott, ja, Maria, hatte er gesagt.
Als sie dann die Tür öffnete, war Gregorius mit einem Schlag alles klar. Sie hielt einen dampfenden Becher Kaffee in der einen Hand und wärmte die andere daran. Der Blick aus den klaren, braunen Augen war prüfend ohne Drohung. Sie war keine strahlende Frau. Sie war keine Frau, nach der man sich umdrehen würde. Eine solche Frau war sie auch in jungen Jahren nicht gewesen. Aber Gregorius war noch nie einer Frau begegnet, die eine so unauffällige und doch so vollkommene Sicherheit und Selbständigkeit ausgestrahlt hatte. Sie mußte über achtzig sein, doch man hätte sich nicht gewundert, wenn sie noch mit sicherer Hand ihrem Beruf nachgegangen wäre.
»Kommt drauf an, was Sie wollen«, sagte sie, als Gregorius fragte, ob er hereinkommen dürfe. Er wollte nicht schon wieder unter einer Tür stehen und das Portrait von Prado vorzeigen wie einen Ausweis. Der ruhige, offene Blick gab ihm den Mut zu einer Eröffnung ohne Umweg.
»Ich beschäftige mich mit dem Leben und den Aufzeichnungen von Amadeu de Prado«, sagte er auf Französisch. »Ich habe erfahren, daß Sie ihn kannten. Ihn besser kannten als jeder andere.«
Ihr Blick hatte erwarten lassen, daß nichts sie würde aus der Fassung bringen können. Jetzt geschah es doch. Nicht an der Oberfläche. Sie lehnte in ihrem dunkelblauen Wollkleid so sicher und gelassen am Türrahmen wie vorher, und die freie Hand rieb weiter an dem warmen Becher, nur ein bißchen langsamer. Doch der Wimpernschlag war rascher geworden, und auf der Stirn waren Falten einer Konzentration erschienen, wie man sie braucht, wenn man sich plötzlich etwas Unerwartetem gegenübersieht, das Konsequenzen haben könnte. Sie sagte nichts. Für ein paar Sekunden schloß sie die Augen. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
»Ich weiß nicht, ob ich dahin zurückwill«, sagte sie. »Aber es hat ja keinen Sinn, daß Sie hier draußen im Regen stehen.«
Die französischen Worte kamen ohne Stocken, und ihr Akzent hatte die schläfrige Eleganz einer Portugiesin, die mühelos Französisch spricht, ohne die eigene Sprache auch nur für einen Moment zu verlassen.
Wer er sei, wollte sie wissen,