Nachtzug nach Lissabon - Teil 65
mehr Bescheid wissen über dich. Als Gregorius ihm das Geld zurückgegeben hatte, war ihm der Vater mit der großen Hand übers Haar gefahren, einer Hand, die sich die Zärtlichkeit viel zu selten zugetraut hatte.
Der Vater von Eva, der Unglaublichen, der alte von Muralt, war Richter gewesen, auf dem Schülerfest hatte er kurz hereingeschaut, ein Hüne von einem Mann. Wie wäre es gewesen, dachte Gregorius, wenn er als Sohn eines strengen, schmerzgeplagten Richters und einer ehrgeizigen Mutter aufgewachsen wäre, die ihr Leben im Leben des vergötterten Sohnes lebte? Hätte er trotzdem Mundus werden können, Mundus, der Papyrus? Konnte man so etwas wissen?
Als Gregorius aus der kalten Nachtluft ins geheizte Haus zurückkam, wurde ihm schwindlig. Er setzte sich in den Sessel von vorhin und wartete, bis es vorbei war. Verwunderlich ist es nicht, wenn man bedenkt, wieviel sich in der kurzen Zeit in Ihrem Leben verändert hat, hatte Mariana Ega gesagt. Ein Tumor würde ganz andere Ausfälle mit sich bringen. Er verbannte die Stimme der Ärztin aus seinem Kopf und las weiter.
Meine erste große Enttäuschung mit Dir war, daß Du nichts von den Fragen hören wolltest, die mich am Beruf von Papa bedrängten. Ich fragte mich: Hattest Du Dich — als zurückgesetzte Frau im rückständigen Portugal — für unfähig erklärt, darüber nachzudenken.? Weil Recht und Gericht Dinge waren, die nur Männer etwas angingen? Oder war es schlimmer: daß Du Papas Arbeit gegenüber einfach ohne Fragen warst und ohne Zweifels’ Daß Dich das Schicksal der Menschen von Tarrafal einfach nicht beschäftigte.?
Warum hast Du Papa nicht gezwungen, mit uns zu sprechen, statt nur ein Mahnmal zu sein? Warst Du froh über die Macht, die Dir dadurch zuwuchs? Du warst eine Virtuosin der stummen, ja verleugneten Komplizenschaft: mit Deinen Kindern. Und virtuos warst Du auch als diplomatische Vermittlerin zwischen Papa und uns, Du mochtest die Rolle und warst darin nicht ohne Eitelkeit. War das Deine Rache für den geringen
Spielraum, den Dir die Ehe ließ? Die Entschädigung für die fehlende gesellschaftliche Anerkennung und die Last von Vaters Schmerzen?
Warum bist Du bei jedem Widerspruch eingeknickt, den ich Dir entgegensetzte? Warum hast Du mir nicht standgehalten und mich dadurch gelehrt, Konflikte auszuhalten? So daß ich es nicht spielerisch lernen konnte, mit einem Augenzwinkern, sondern mir mühsam erarbeiten mußte wie aus dem Lehrbuch, mit erbitterter Gründlichkeit, die oft genug dazu geführt hat, daß ich das Maß verlor und über das Ziel hinausschoß?
Warum hast Du mir die Hypothek meiner Bevorzugung aufgeladen? Papá und Du: Warum habt Ihr so wenig von Adriana und Mélodie erwartet? Warum habt Ihr die Demütigung nicht gespürt, die in dem mangelnden Zutrauen lag?
Doch es wäre ungerecht, Mama, wenn das alles wäre, was ich
Dir zum Abschied sagte. In den sechs Jahren nach Papás Tod nämlich bin ich Dir mit neuen Empfindungen begegnet, und ich war glücklich zu spüren, daß es sie gab. Die Verlorenheit, mit der Du an seinem Grab standest, hat mich zutiefst berührt, und ich warfroh, daß es religiöse Gewohnheiten gab, in denen Du Dich aufgehoben fühltest. Richtig glücklich war ich, als dann erste Anzeichen der Befreiung sichtbar wurden, viel schneller als erwartet. Es war, als würdest Du zum erstenmal zu einem eigenen Leben erwachen. Im ersten Jahr kamst Du oft herüber ins blaue Haus, und Fátima befürchtete, Du würdest Dich an mich, an uns klammern. Doch nein: Jetzt, wo das bisherige Gerüst Deines Lebens eingestürzt war, das auch über das innere Kräftespiel bestimmt hatte, jetzt schienst Du zu entdecken, was Dir durch die viel zu frühe Heirat verbaut worden war: ein eigenes Leben jenseits der Rolle in der Familie. Du begannst, nach Büchern zu fragen, und hast in ihnen geblättert wie eine neugierige Schülerin, ungelenk, unerfahren, aber mit glänzenden Augen. Einmal habe ich Dich, von Dir unbemerkt, in der Buchhandlung vor einem Regal stehen sehen, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. In diesem Augenblick habe ich Dich geliebt, Mama, und war versucht, zu Dir zu gehen. Doch das wäre genau das Falsche gewesen: Es hätte Dich zurück in das alte Leben geholt.
36 Gregorius ging im Zimmer von Senhor Cortes auf und ab und nannte alle Dinge bei ihrem berndeutschen Namen. Dann ging er durch die dunklen, kalten Gänge des Li-ceu und tat dasselbe mit allem, was er dort sah. Er sprach laut und wütend vor sich hin, die kehligen Worte hallten durchs Haus, und ein verwunderter Beobachter hätte geurteilt, daß sich da einer in das verlassene Gebäude verirrt habe, der an etwas gründlich irre geworden sei.
Begonnen hatte es morgens in der Sprachschule. Plötzlich hatte er im Portugiesischen die einfachsten Dinge nicht mehr gewußt, Dinge, die er schon von der ersten Lektion auf der ersten Platte des Sprachkurses kannte, die er vor seiner Abreise gehört hatte. Cecilia, die wegen eines Migräneanfalls verspätet erschien, setzte zu einer ironischen Bemerkung an, hielt inne, kniff die Augen zu und machte dann eine beruhigende Handbewegung.
»Sossega«, sagte sie, »beruhigen Sie sich. Das passiert allen, die eine fremde Sprache lernen. Plötzlich geht nichts mehr. Das geht vorbei. Morgen sind Sie wieder ganz auf der Höhe.«
Dann hatte beim Persischen das Gedächtnis gestreikt, ein Sprachgedächtnis, auf das er sich sonst immer hatte verlassen können. In heller Panik hatte er sich Verse von Horaz und Sappho vorgesagt, hatte seltene homerische Wörter aufgerufen und hektisch in Salomos Hohelied geblättert. Alles kam wie gewohnt, nichts fehlte, es gab keine Abgründe von plötzlichem Gedächtnisverlust. Und doch fühlte er sich wie nach einem Erdbeben. Schwindel. Schwindel und Gedächtnisverlust. Es würde passen.
Still hatte er im Büro des Rektors am Fenster gestanden. Heute gab es keinen Lichtkegel, der durch den Raum wan-derte. Es regnete. Auf einmal, ganz plötzlich, war er wütend geworden. Es war eine heftige, heiße Wut, vermischt mit Verzweiflung darüber, daß sie keinen erkennbaren Gegenstand hatte. Nur ganz langsam wurde ihm klar, daß er eine Revolte erlebte, einen Aufstand gegen alle sprachliche Fremdheit, die er sich auferlegt hatte. Zuerst schien er nur dem Portugiesischen zu gelten und vielleicht dem Französischen und Englischen, das er hier sprechen mußte. Allmählich dann und mit Widerstreben gestand er sich ein, daß die Brandung seiner Wut sich auch auf die alten Sprachen bezog, in denen er seit über vierzig Jahren lebte.
Er erschrak, als er die Tiefe seines Aufbegehrens spürte. Der Boden schwankte. Er mußte etwas tun, nach etwas greifen, er schloß die Augen, stellte sich auf den Bubenbergplatz und nannte die Dinge, die er sah, bei ihren berndeutschen Namen. Er redete zu den Dingen und zu sich selbst in langsamen, klaren Sätzen der Mundart. Das Erdbeben verebbte, er spürte wieder festen Boden unter den Füßen. Doch das Erschrecken hatte einen Nachhall, er begegnete ihm mit der Wut von jemandem, den man einer großen Gefahr ausgesetzt hatte, und so kam es, daß er wie ein Irrer durch die Gänge des menschenleeren Gebäudes schritt, als gelte es, die Geister der dunklen Korridore mit berndeutschen Worten zu besiegen.
Zwei Stunden später, als er im Salon von Silveiras Haus saß, kam ihm das Ganze wie ein Spuk vor, wie etwas, das er vielleicht nur geträumt hatte. Beim Lesen von Lateinischem und Griechischem war es wie immer, und als er die portugiesische Grammatik aufschlug, war alles sofort da, und er machte gute Fortschritte bei den Regeln für den Konjunktiv. Nur die
Traumbilder erinnerten ihn noch daran, daß etwas in ihm aufgebrochen war.
Als er im Sessel für einen Moment einnickte, saß er als einziger Schüler in einem riesigen Klassenzimmer und wehrte sich mit mundartlichen Sätzen gegen fremdsprachliche Fragen und Aufforderungen, die jemand, den er nicht sehen konnte, von vorne an ihn richtete. Er wachte mit feuchtem Hemd auf, duschte und machte sich dann auf den Weg zu Adriana.
Clotilde hatte berichtet, daß Adriana sich verändere, seit mit der tickenden Uhr im Salon Zeit und Gegenwart ins blaue Haus zurückgekehrt seien. Gregorius hatte sie in der Straßenbahn getroffen, als er vom Liceu kam.
»Es kommt vor«, hatte sie gesagt und die Worte geduldig wiederholt, wenn er nicht verstand, »daß sie vor der Uhr stehenbleibt, als wolle sie sie wieder anhalten. Doch dann geht sie doch weiter, und ihr Gang ist rascher und bestimmter geworden. Sie steht früher auf. Es ist, als ob sie den Tag nicht mehr nur… ja, nicht mehr nur erdulden würde.«
Sie aß mehr, und einmal hatte sie Clotilde gebeten, einen Spaziergang mit ihr zu machen.
Als die Tür des blauen Hauses dann aufging, erlebte Gregorius eine Überraschung. Adriana trug nicht Schwarz. Nur das schwarze Band über der Narbe am Hals war geblieben. Rock und Jacke waren aus hellem Grau mit feinen blauen Streifen, und sie hatte eine leuchtend weiße Bluse angezogen. Die Andeutung eines Lächelns zeigte, daß sie die Verblüffung auf Gregorius’ Gesicht genoß.
Er gab ihr die Briefe an Vater und Sohn zurück.
»Ist es nicht verrückt?« sagte sie. »Diese Sprachlosigkeit. Education sentimentale, pflegte Amadeu zu sagen, müßte uns vor allem in die Kunst einweihen, Gefühle zu offenbaren, und in die Erfahrung, daß die Gefühle durch die Worte reicher werden. Wie wenig ihm das bei Papá gelang!« Sie sah zu Boden. »Und wie wenig bei mir!«
Er würde gerne die Notizen auf den Zetteln über Amadeus Pult lesen, sagte Gregorius. Als sie das Zimmer im Dachgeschoß betraten, erlebte Gregorius die nächste Überraschung: Der Schreibtischstuhl stand nicht mehr schräg zum Pult. Nach dreißig Jahren war es Adriana gelungen, ihn aus der erstarrten Vergangenheit herauszulösen und geradezurücken, so daß es nicht mehr war, als sei der Bruder gerade eben von ihm aufgestanden. Als er sie ansah, stand sie mit gesenktem Blick da, die Hände in den Jackentaschen, eine ergebene alte Frau,