Nachtzug nach Lissabon - Teil 64
allein, er wollte nicht mit uns gehen. Adriana war von einer überwältigenden Dankbarkeit erfüllt, die beinahe religiöse Züge hatte. Mit verbundenem Hals lag sie weiß in den Kissen und durchlebte die dramatische Szene stets von neuem. Als ich allein bei ihr war, sprach sie darüber.
>Kurz bevor er zustieß, wurden die Zedern vor dem Fenster rot, blutrot< sagte sie. >Dann wurde ich ohnmächtige«
Sie sei mit der Überzeugung aus dem Krankenhaus gekommen, sagte Mélodie, daß sie ihr Leben dem Bruder widmen müsse, der es ihr gerettet habe. Amadeu war das unheimlich, und er versuchte alles, um ihr den Gedanken auszureden. Für eine Weile schien das gelungen zu sein, sie begegnete einem Franzosen, der sich in sie verliebte, und die dramatische Episode schien in ihr zu verblassen. Doch diese Liebe zerbrach in dem Augenblick, als Adriana schwanger wurde. Und wieder kam Amadeu, um einen Eingriff in ihren Körper zu begleiten. Er opferte dafür seine Reise mit Fatima und kehrte aus England zurück. Sie hatte nach der Schule Arzthelferin gelernt, und als er drei Jahre später die blaue Praxis eröffnete, war es klar, daß sie als seine Assistentin arbeiten würde. Fatima lehnte es ab, sie im Haus wohnen zu lassen. Es gab dramatische Szenen, wenn sie gehen mußte. Nach Fatimas Tod dauerte es keine Woche, und Adriana zog ein. Amadeu war vollständig verstört über den Verlust und unfähig zu Widerstand. Adriana hatte gewonnen.
35 »Manchmal habe ich gedacht, daß Amadeus Geist vor allem Sprache war«, hatte Mélodie gegen Ende des Gesprächs gesagt. »Daß seine Seele aus Wörtern gefertigt war, wie ich das bei niemandem sonst erlebt habe.«
Gregorius hatte ihr die Aufzeichnung über das Aneurysma gezeigt. Auch sie hatte nichts davon gewußt. Aber es hatte etwas gegeben, an das sie sich jetzt erinnerte.
»Er zuckte zusammen, wenn jemand Wörter gebrauchte, die mit Vergehen, Verfließen, Verrinnen zu tun hatten, ich erinnere mich vor allem an correr und passar. Er war überhaupt jemand, der auf Wörter so heftig reagierte, als seien sie viel wichtiger als die Sachen. Wenn man meinen Bruder verstehen wollte, war das das Wichtigste, was man wissen mußte. Er sprach von der Diktatur der falschen und der Freiheit der richtigen Wörter, vom unsichtbaren Kerker des Sprachkitschs und dem Licht der Poesie. Er war ein sprachbesessener, ein sprachverhexter Mensch, dem ein falsches Wort mehr ausmachte als ein Messerstich. Und dann plötzlich die heftige
Reaktion auf Wörter, die von Flüchtigkeit und Vergänglichkeit handelten. Nach einem seiner Besuche, bei dem er diese neue Schreckhaftigkeit an den Tag legte, rätselten mein Mann und ich die halbe Nacht. >Nicht diese Wörter, bitte nicht diese Wörter!< hatte er gesagt. Wir wagten nicht nachzufragen. Mein Bruder, er konnte wie ein Vulkan sein.«Gregorius setzte sich in Silveiras Salon in einen Sessel und begann den Text von Prado zu lesen, den ihm Mélodie mitgegeben hatte.»Er hatte panische Angst, er könnte in falsche Hände geraten«, hatte sie gesagt. »>Vielleicht sollte ich ihn besser vernichten, sagte er. Doch dann gab er ihn mir zur Aufbewahrung. Ich durfte das Kuvert erst nach seinem Tod öffnen. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen.«
Prado hatte den Text in den Wintermonaten nach dem Tod der Mutter geschrieben und ihn Mélodie kurz vor Fátimas Tod im Frühjahr gegeben. Es waren drei Textstücke, die aufgetrennten Bogen begonnen worden waren und sich auch in der Tintenschattierung unterschieden. Obgleich sie sich zu einem Abschiedsbrief an die Mutter fügten, gab es keine Anrede. Statt dessen trug der Text eine Überschrift wie bei vielen Aufzeichnungen im Buch.
DESPEDIDA FALHADA Á MAMA. MISSLUNGENER ABSCHIED VON MAMA. Mein Abschied von Dir muß mir mißlingen, Mama. Du bist nicht mehr da, und ein echter Abschied müßte eine Begegnung sein. Ich habe zu lange gewartet, und das ist natürlich kein Zufall Was unterscheidet einen ehrlichen von einem feigen Abschied/ Ein ehrlicher Abschied von Dir — das wäre der Versuch gewesen, mit Dir zu einem Einverständnis darüber zu gelangen, wie es mit uns, mit Dir und mir, gewesen ist. Denn das ist der Sinn eines Abschieds im vollen, gewichtigen Sinne des Worts: daß sich die beiden Menschen, bevor sie auseinandergehen, darüber verständigen, wie sie sich gesehen und erlebt haben. Was zwischen ihnen geglückt und was mißlungen ist. Dazu gehört Furchtlosigkeit: Man muß den Schmerz über Dissonanzen aushalten können. Es geht darum, auch das, was unmöglich war, anzuerkennen. Sich verabschieden, das ist auch etwas, das man mit sich selbst macht: zu sich selbst stehen unter dem Blick des Anderen. Die Feigheit eines Abschieds dagegen liegt in der Verklärung: in der Versuchung, das Gewesene in goldenes Licht zu tauchen und das Dunkle wegzulügen. Was man dabei verspielt, ist nichts weniger als die Anerkennung seiner selbst in denjenigen Zügen, die das Dunkel hervorgebracht haben.
Du hast an mir ein Kunststück vollbracht, Mama, und ich
schreibe jetzt auf, was ich Dir vor langer Zeit hätte sagen sollen: Es war ein perfides Kunststück, das mein Leben belastet hat wie
nichts anderes. Du hast mich nämlich wissen lassen — und es war am Inhalt dieser Botschaft nicht der geringste Zweifel möglich —, daß Du von mir, Deinem Sohn — Deinem Sohn —, nichts Geringeres als dieses erwartetest: daß er der Beste sei. Worin, das war nicht so wichtig, aber die Leistungen, die ich zu erbringen hatte, sie mußten die Leistungen aller anderen übertreffen, und nicht nur irgendwie übertreffen, sondern turmhoch überragen. Die Perfdie: Das hast Du mir nie gesagt. Deine Erwartung gelangte nie zu einer Ausdrücklichkeit, die mir erlaubt hätte, dazu Stellung zu beziehen, darüber nachzudenken und mich mit den Gefühlen daran zu reiben. Und doch wußte ich es, denn das gibt es:
ein Wissen, das man einem wehrlosen Kind einträufelt, Tropfen für Tropfen, Tag für Tag, ohne daß es dieses lautlos anwachsende Wissen im geringsten bemerkt. Das unscheinbare Wissen breitet sich in ihm aus wie ein tückisches Gift, sickert in das Gewebe von
Leib und Seele und bestimmt über die Farbe und Schattierung seines Lebens. Aus diesem unerkannt wirkenden Wissen, dessen Macht in seiner Verborgenheit lag, entstand in mir ein unsichtbares, unentdeckbares Gespinst aus unbeugsamen, gnadenlosen
Erwartungen an mich selbst, gewoben von den grausamen Spinnen eines angstgeborenen Ehrgeizes. Wie oft, wie verzweifelt und in welch grotesker Komik habe ich später in mir um mich geschlagen, um mich zu befreien — nur um mich noch mehr zu verfangen! Es war unmöglich, mich gegen Deine Anwesenheit in mir zur Wehr zu setzen: Zu vollkommen war Dein Kunststück, zu fehlerlos, ein Meisterwerk von überwältigender, atemberaubender Perfektion.
Zu seiner Vollkommenheit gehörte, daß Du Deine erstickenden Erwartungen nicht nur unausgesprochen ließest, sondern unter Worten und Gesten verstecktest, die das Gegenteil zum Ausdruck brachten. Ich sage nicht: Das war ein bewußter, abgefeimter, heimtückischer Plan. Nein, Du hast Deinen trügerischen Worten selbst Glauben geschenkt und warst ein Opfer der Maskierung, deren Intelligenz die Deine bei weitem übertraf. Seither weiß ich, wie Menschen bis in ihre tiefsten Tiefen hinein miteinander verschränkt und ineinander gegenwärtig sein können, ohne davon die geringste Ahnung zu haben.
Und noch etwas gehörte zu der kunstvollen Art und Weise, in der Du mich — als frevelhate Bildhauerin einer fremden Seele — nach Deinem Willen geschaffen hast: die Vornamen, die Du mir gabst Amadeu Inäcio. Die meisten Leute denken sich nichts dabei, ab und zu sagt jemand etwas über die Mélodie. Doch ich weiß es besser, denn ich habe den Klang Deiner Stimme dabei im Ohr, ein Klang, der voll von eitler Andacht war. Ich sollte ein Genie sein. Ich sollte göttliche Leichtigkeit besitzen. Und gleichzeitig — gleichzeitig! — sollte ich die mörderische Strenge des heiligen Ignacio verkörpern und seine Fähigkeiten als priesterUcher Feldherr ausüben.
Es ist ein böses Wort, aber es trifft die Sache wie kein anderes:
Mein Leben wurde bestimmt von einer Muttervergifung.
Gab es auch in ihm eine verborgene, lebensbestimmende Anwesenheit der Eltern, maskiert vielleicht und ins Gegenteil verkehrt?, fragte sich Gregorius, als er durch die stillen Straßen von Belem ging. Er sah das schmale Buch vor sich, in dem die Mutter aufschrieb, was sie durch Putzen verdiente. Die schäbige Brille mit dem Kassengestell und den ewig verschmutzten Gläsern, über die hinweg sie ihn müde anblickte. Wenn ich nur noch einmal das Meer sehen könnte, aber das können wir uns einfach nicht leisten. Es hatte etwas an ihr gegeben, etwas Schönes, sogar Strahlendes, an das er sehr lange nicht mehr gedacht hatte: ihre Würde, mit der sie den Leuten, um deren Dreck sie sich kümmern mußte, auf der Straße begegnet war. Keine Spur von Unterwürfigkeit, ihr Blick war auf der gleichen Höhe gewesen wie der Blick derer, die sie dafür bezahlten, daß sie auf den Knien herumrutschte. Darf sie das? hatte er sich als kleiner Junge gefragt, um später dann stolz auf sie zu sein, wenn er es wieder einmal beobachten konnte. Wenn es nur nicht die Heimatromane von Ludwig Ganghofer gewesen wären, zu denen sie in den seltenen Stunden des Lesens gegriffen hatte. Jetzt flüchtest auch du dich in die Bücher. Sie war keine Leserin gewesen. Es tat weh, aber sie war keine Leserin gewesen.
Welche Bank gibt mir denn schon einen Kredit, hörte Gregorius den Vater sagen, und dann für so etwas. Er sah seine große Hand mit den zu kurz geschnittenen Fingernägeln vor sich, als er ihm die dreizehn Franken dreißig für die persische Grammatik Münze für Münze in die Hand gezählt hatte. Bist du sicher, daß du da hinwillst? hatte er gesagt, das ist doch so weit weg, so weit weg von dem, was wir gewohnt sind. Schon die Buchstaben, sie sind so anders, gar nicht wie Buchstaben. Wir werden dann gar nicht