Nachtzug nach Lissabon - Teil 57
wir ihn verstanden haben.
Und siehst Du, Papa, so ist es mir auch mit Dir ergangen. Es ist noch nicht lange her, da dämmerte mir endlich, daß es einen mächtigen Text in mir gibt, der über allem geherrscht hat, was ich bis heute fühlte und tat, einen verborgen glühenden Text,
dessen tückische Macht darin liegt, daß ich trotz all meiner Bildung nie auf den Gedanken kam, er könnte vielleicht nicht die Gültigkeit besitzen, die ich ihm, ohne im geringsten davon zu wissen, zugestanden hatte. Der Text ist kurz und von alttestamentarischer Endgültigkeit: die anderen sind dein Gerichtshof.
Ich kann es nicht beweisen, so daß es vor einem Gericht Bestand hätte, aber ich weiß, daß ich diesen Text von klein an in Eurem Blick las, Vater, in dem Blick, der voller Entbehrung, Schmerz und Strenge hinter Euren Brillengläsern hervorkam und mir zu folgen schien, wohin ich auch ging. Der einzige Ort, wohin er mir nicht zu folgen vermochte, war der große Sessel in der Bibliothek des Liceu, hinter dem ich mich des Nachts ver
steckte, um weiterlesen zu können. Die feste Gegenständlichkeit des Sessels zusammen mit der Finsternis ergaben eine undurchdringliche Wand, die mich vor aller Zudringlichkeit schützte. Dorthin drang Euer Blick nicht, und so gab es auch keinen Gerichtshof, vor dem ich mich hätte verantworten müssen, wenn ich von den Frauen mit den weißen Gliedern las und all den Dingen, die man nur im Verborgenen tun durfte.
Könnt Ihr Euch meine Wut vorstellen, als ich beim Propheten Jeremia las: Meinst du, daß sich jemand so heimlich verbergen könne, daß ich ihn nicht sehe?, spricht der herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der herr?
»Was willst du«, sagte Pater Bartolomeu, »er ist Gott.«
»Ja, und genau das spricht gegen Gott: daß er Gott ist«, erwiderte ich.
Der Pater lachte. Er nahm mir nie etwas übel. Er liebte
mich.«
Wie gern, Papa, hätte ich einen Vater gehabt, mit dem ich über diese Dinge hätte reden können! Uber Gott und seine selbstgefällige Grausamkeit, über Kreuz, Guillotine und Garrotte. Uber den Wahnsinn mit der anderen Wange. Uber Gerechtigkeit und Rache.
Dein Rücken, er vertrug die Kirchenbänke nicht, so daß ich Dich nur ein einziges Mal habe knien sehen, es war bei der Totenmesse für Onkel Ernesto. Die Silhouette Deines gefolterten Körpers bleibt mir unvergessen, sie hatte etwas mit Dante und dem Fegefeuer zu tun, das ich mir stets als ein flammendes Meer der Demütigung vorgestellt habe, denn was gibt es Schlimmeres als Demütigung, der heftigste Schmerz ist dagegen ein Nichts. Und so kam es nie dazu, daß wir über diese Dinge sprachen. Ich meine, ich habe das Wort Deus von Dir nur in abgedroschenen Redewendungen gehört, nie richtig, nie so, daß daraus ein Glaube gesprochen hätte. Und doch hast Du nichts gegen den stummen Eindruck getan, daß Du nicht nur die weltlichen Gesetzbücher in Dir trugst, sondern auch die kirchlichen, aus denen die Inquisition hervorgegangen ist. Tarrafal, Vater, tarrafal!
30 Silveiras Chauffeur holte Gregorius am späten Vormittag ab. Er hatte die Batterien der Campingsachen aufgeladen und zwei Decken eingepackt, auf denen Kaffee, Zuk-ker und Kekse lagen. Im Hotel ließen sie ihn nicht gern ziehen. »Foi um grandeprazer«, sagten sie.
Es hatte in der Nacht geregnet, und auf den Autos lag feiner Sand vom Wüstenwind. Filipe, der Fahrer, öffnete für Grego-rius die Tür zum Fond des großen, glänzenden Wagens. Als ich im Wagen über das edle Polster strich — da war Prados Plan zu einem Brief an den Vater geboren worden.
Gregorius war mit seinen Eltern ein einziges Mal im Taxi gefahren, auf der Rückfahrt von einem Urlaub am Thunersee, wo sich der Vater den Fuß verstaucht hatte, so daß es wegen des Gepäcks nicht anders ging. Er hatte dem Vater am Hinterkopf angesehen, wie unwohl ihm war. Für die Mutter war es wie im Märchen gewesen, ihre Augen leuchteten, und sie wollte gar nicht wieder aussteigen.
Filipe fuhr zur Villa und dann zum Liceu. Der Weg, auf dem die Lieferwagen früher die Sachen für die Schulküche gebracht hatten, war vollständig zugewachsen. Filipe, der Fahrer, hielt. »Hier?« fragte er entgeistert. Der schwergewichtige Mann mit Schultern wie ein Pferd wich den Ratten ängstlich aus. Im Büro des Rektors ging er langsam den Wänden entlang, die Mütze in der Hand, und betrachtete die Bilder von Isfahan.
»Und was machen Sie hier drin?« fragte er. »Ich meine, es steht mir nicht zu …«
»Schwer zu sagen«, sagte Gregorius. »Ganz schwer. Sie wissen, was Tagträumen ist. Ein bißchen so ist es. Aber dann auch wieder ganz anders. Ernster. Und verrückter. Wenn die Zeit eines Lebens knapp wird, gelten keine Regeln mehr. Und dann sieht es aus, als sei man übergeschnappt und reif für die Klapsmühle. Doch im Grunde ist es umgekehrt: Dort gehören diejenigen hin, die nicht wahrhaben wollen, daß die Zeit knapp wird. Diejenigen, die weitermachen, als sei nichts. Verstehen Sie?«
»Vor zwei Jahren hatte ich einen Herzinfarkt«, sagte Filipe. »Ich fand es sonderbar, danach wieder zur Arbeit zu gehen. Jetzt fällt es mir wieder ein, ich hatte es ganz vergessen.«
»Ja«, sagte Gregorius.
Als Filipe gegangen war, überzog sich der Himmel, es wurde kühl und dunkel. Gregorius stellte den Ofen an, machte Licht und kochte Kaffee. Die Zigaretten. Er holte sie aus der Tasche. Welche Marke die Zigaretten denn gewesen seien, die er da zum erstenmal im Leben geraucht habe, hatte ihn Silveira gefragt. Dann war er aufgestanden und mit einer Packung dieser Marke zurückgekommen. Hier. War die Marke meiner Frau. Liegt seit Jahren in der Schublade des Nachttischs. Auf ihrer Seite des Betts. Konnte sie nicht wegwerfen. Der Tabak muß staubtrocken sein. Gregorius riß die Packung auf und zündete eine an. Inzwischen konnte er auch inhalieren, ohne zu husten. Der Rauch war scharf und schmeckte nach verbranntem Holz. Eine Welle des Schwindels überspülte ihn, und das Herz schien zu stolpern.
Er las die Stelle bei Jeremia, über die Prado geschrieben hatte, und blätterte zurück zu Jesaja. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.
Prado hatte ernst genommen, daß Gott eine Person war, die denken, wollen und fühlen konnte. Dann hatte er sich, wie bei jeder anderen Person, angehört, was er sagte, und hatte gefunden: Mit einem derart überheblichen Charakter will ich nichts zu tun haben. Hatte Gott einen Charakter.i Gregorius dachte an Ruth Gautschi und David Lehmann und an seine eigenen Worte über den poetischen Ernst, über den hinaus es keinen größeren Ernst mehr gab. Bern war weit weg.
Eure Unnahbarkeit, Vater. Mama als die Dolmetscherin, die uns Eure Stummheit übersetzen mußte. Warum habt Ihr nicht selbst über Euch und Eure Gefühle sprechen gelernt? Ich will es Euch sagen: Ihr wart zu bequem, es war so wunderbar bequem, Euch
hinter der südländischen Rolle des adligen Familienoberhaupts zu verstecken. Und dazu kam die Rolle des wortkargen Leidenden, bei dem die Sprachlosigkeit eine Tugend ist, nämlich die Größe, sich über die Schmerzen nicht zu beklagen. Und so war Eure Krankheit die Absolution für Euren fehlenden Willen, Euch ausdrücken zu lernen. Eure Arroganz: Die anderen sollten Euch in Eurem Leiden erraten lernen.
Habt Ihr nicht gemerkt, was Ihr an Selbstbestimmung verspieltet, die einer doch nur in dem Maße hat, in dem er versteht, sich zur Sprache zu bringen?
Hast Du nie daran gedacht, Papa, daß es für uns alle auch eine Last sein könnte, daß Du nicht über die Schmerzen sprachst und über die Demütigung des gekrümmten Rückens? Daß Dein stummes, heldenhaftes Ertragen, das nicht ohne Eitelkeit war, für uns bedrängender sein könnte, als wenn Du auch einmal geflucht und Tränen des Selbstmitleids vergossen hättest, die man Dir hätte aus den Augen wischen können? Denn es bedeutete doch: Wir, die Kinder, und vor allem ich, der Sohn, wir hatten, gefangengesetzt im Bannkreis Deiner Tapferkeit, kein Recht, uns zu beklagen, jedes solche Recht war, noch bevor es eingeklagt wurde — ja, bevor einer von uns auch nur daran dachte, es einzuklagen — aufgesogen, verschluckt, vernichtet durch Deine Tapferkeit und Dein tapfer ertragenes Leid.
Du wolltest keine Schmerzmittel, Du wolltest den klaren Kopf nicht verlieren, darin warst Du apodiktisch. Einmal dann, als Du Dich unbeobachtet wähntest, habe ich Dich durch den Türspalt beobachtet. Du nahmst eine Tablette, und nach kurzem Kampf stecktest Du auch die zweite in den Mund. Als ich nach einer Weile wieder hineinsah, lehntest Du im Sessel, den Kopf in den Polstern, die Brille im Schoß, den Mund halb geöffnet. Natürlich war es undenkbar: aber wie gerne wäre ich hineingegangen und hätte Dich gestreichelt!
Kein einziges Mal habe ich Dich weinen sehen, mit unbeweg-ter Miene standest Du dabei, als wir Carlos, den geliebten — auch von Dir geliebten — Hund begruben. Du warst kein seelenloser Mensch, gewiß nicht. Aber warum hast Du ein Leben langgetan, als sei die Seele etwas, dessen man sich schämen müsse, etwas Unziemliches, ein Ort der Schwäche, den man versteckt halten müsse, beinahe um jeden Preis?
Durch Dich haben wir alle von Kind an gelernt, daß wir zuallererst Körper sind und daß nichts in unseren Gedanken ist, was nicht zuvor im Leib war Und dann — was für ein Paradox! — hast Du uns jede Bildung in Zärtlichkeit vorenthalten, so daß wir gar nicht glauben konnten, daß Du Mama nahe genug gekommen warst, um uns zu zeugen. Nicht er ist es gewesen, sagte Mélodie einmal, es ist der Amazonas gewesen. Nur einmal habe ich gespürt, daß Du wußtest, was