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Nachtzug nach Lissabon - Teil 56

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Euch selbst. Aber Vater: Er hat doch mit den anderen paktiert! Und hat zugesehen bei jenen Verbrechen, für die es nie angemessene Worte geben wird, solange die Menschen leben! Und bei uns gab es doch TarrafaH Es gab Tarrafal, Vater! TARRAFAL! Wo war Eure Phantasie? Nur ein einziges Mal hättet Ihr Hände vor Euch sehen müssen, wie ich sie an Joäo Ega gesehen habe: verbrannt, vernarbt, verstümmelt, Hände, die einmal Schubert gespielt hatten. Warum habt Ihr Euch nie solche Hände angesehen, Vater?

War es die Angst eines Kranken, der aus physischer Schwäche heraus fürchtete, sich mit der Staatsmacht anzulegen? Und der deshalb wegsah? War es Dein gebeugter Rücken, der Dir verbot, Rückgrat zu zeigen? Doch nein, ich wehre mich gegen eine solche Deutung, sie wäre ungerecht, denn sie würde Dir gerade hier, wo es darauf ankommt, die Würde absprechen, die Du sonst stets unter Beweis gestellt hast: die Stärke, Dich Deinem Leiden in Deinen Gedanken und Taten niemals zu unterwerfen.

Einmal, Vater, ein einziges Mal, war ich froh darüber, daß Ihr in den Kreisen des gutgekleideten, zylinderbedeckten Verbrechens Fäden ziehen konntet, das muß ich einräumen: als Ihr es schafftet, mich von der Mocidade zu befreien. Ihr habt mir das Entsetzen angesehen, als ich mir vorstellte, das grüne Hemd anziehen und den Arm heben zu müssen. Es wird nicht geschehen, sagtet Ihr einfach, und ich war glücklich über die liebevolle Unerbittlichkeit, die in Eurem Blick lag, ich hätte nicht Euer Gegner sein mögen. Gewiß, auch Du selbst wolltest Dir Deinen Sohn nicht als verkitschten Lagerfeuerproleten vorstellen müssen. Trotzdem habe ich Dein Tun — worin es auch immer bestanden haben mag, ich will es nicht wissen — als Ausdruck tiefer Zuneigung empfunden, und in der Nacht nach der Befreiung sind Dir die heftigsten Gefühle zugeflossen.

Komplizierter war es, als Ihr verhindert habt, daß ich wegen Körperverletzung an Adriana vor Gericht kam. Der Sohn des Richters: Ich weiß nicht, welche Fäden Ihr gezogen, welche Gespräche Ihr geführt habt. Ich sage es Euch heute: Ich wäre lieber vor den Richter getreten und hätte für das moralische Recht ge-fochten, das Leben über das Gesetz stellen zu dürfen. Trotzdem hat mich sehr bewegt, was Du getan hast, was immer es war Ich könnte es nicht erklären, aber ich war sicher, daß Dich keines der beiden Dinge bestimmt hatte, die ich nicht hätte akzeptieren können: die Furcht vor der Schande oder die Freude daran, Deinen Einfluß geltend machen zu können. Du tatest es einfach, um mich zu schützen. Ich bin stolz auf dich, sagtest Du, als ich Dir die medizinische Sachlage erklärt und den Abschnitt im Lehrbuch gezeigt hatte. Danach umarmtest Du mich, das einzige Mal nach Ende der Kindheit. Ich roch den Tabak in Deinen Kleidern und die Seife im Gesicht. Ich rieche sie heute noch, und immer

noch kann ich den Druck Deiner Arme spüren, der länger anhielt, als ich erwartet hatte. Ich träumte von diesen Armen, und da waren es flehentlich ausgestreckte Arme, ausgestreckt mit der inbrünstigen Bitte an den Sohn, ihn von den Schmerzen zu befreien wie ein gütiger Zauberer.

In diesen Traum spielte die übergroße Erwartung und Hoffnung hinein, die stets auf Deinem Gesicht erschien, wenn ich Dir den Mechanismus Deiner Krankheit erklärte, der unumkehrbaren Verkrümmung des Rückgrats, die nach Vladimir Bechterev benannt ist, und wenn wir über das Mysterium des Schmerzes sprachen. Das waren Momente großer und tiefer Intimität, wo Du mit Deinem Blick an meinen Lippen hingst und jedes Wort des angehenden Arztes aufsogst wie eine Offenbarung. Da war ich der wissende Vater und Du der hilfsbedürftige Sohn. Wie Dein Vater gewesen und zu Dir gewesen sei, fragte ich Mama nach einem dieser Gespräche. »Ein stolzer, einsamer, unerträglicher Tyrann, der mir aus der Hand fraß«, sagte sie. Ein fanatischer Verfechter des Kolonialismus sei er gewesen. »Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, wie du darüber denkst.«

Gregorius fuhr ins Hotel und zog sich für das Essen bei Sil-veira um. Der Mann wohnte in einer Villa in Belem. Ein Dienstmädchen öffnete, und dann kam ihm Silveira in der riesigen Halle entgegen, die mit dem Kronleuchter wie das Entree einer Botschaft wirkte. Er bemerkte, wie Gregorius sich bewundernd umsah.

»Nach der Scheidung und dem Auszug der Kinder war pötzlich alles viel zu groß. Aber wegziehen mochte ich auch nicht«, sagte Silveira, auf dessen Gesicht Gregorius die gleiche Müdigkeit entdeckte wie bei ihrer ersten Begegnung im Nachtzug.

Gregorius wußte später nicht mehr, wie es gekommen war. Sie saßen beim Dessert, und er erzählte von Florence, von Isfa-han und von den verrückten Aufenthalten im Liceu draußen. Ein bißchen war es wie damals im Schlafwagen, als er diesem Mann erzählt hatte, wie er im Klassenzimmer aufgestanden und gegangen war. »Ihr Mantel war feucht, als Sie ihn vom Haken nahmen, ich erinnere mich genau, es regnete«, hatte Silveira bei der Suppe gesagt, »und ich weiß auch noch, was Licht auf Hebräisch heißt: ör.« Da hatte Gregorius von der namenlosen Portugiesin erzählt, die er damals im Schlafwagen ausgelassen hatte.

»Kommen Sie mit«, sagte Silveira nach dem Kaffee und führte ihn in den Keller. »Hier, das war die Campingausrüstung für die Kinder. Alles vom Feinsten. Hat nichts genützt, eines Tages ließen sie das Zeug einfach liegen, kein Interesse mehr, kein Dank, nichts. Ein Heizofen, eine Stehlampe, eine Kaffeemaschine, alles mit Akku. Warum nehmen Sie es nicht einfach mit? Fürs Liceu? Ich sag’s dem Fahrer, er prüft die Batterien und fährt es hin.«

Die Großzügigkeit allein war es nicht. Es war das Liceu. Schon vorhin hatte er sich die verlassene Schule beschreiben lassen und hatte immer mehr wissen wollen; doch das hätte noch bloße Neugierde sein können, eine Neugier wie dem verwunschenen Märchenschloß gegenüber. Das Angebot mit den Campingsachen dagegen zeigte ein Verständnis seinem skurrilen Tun gegenüber – oder, wenn es nicht Verständnis war, so doch Achtung -, das er von niemandem erwartet hätte, zuletzt von einem Geschäftsmann, dessen Leben um das Geld herum angelegt war.

Silveira sah ihm die Überraschung an. »Die Sache mit dem Liceu und den Ratten gefällt mir einfach«, sagte er lächelnd. »Etwas so ganz anderes, etwas, das sich nicht rechnet. Kommt mir vor, als hätte es etwas mit Marc Aurel zu tun.«

Als er eine Weile allein im Wohnzimmer war, sah sich Gregorius die Bücher an. Haufenweise Literatur über Porzellan.

Handelsrecht. Reisebücher. Wörterbücher der englischen und französischen Geschäftssprache. Ein Lexikon der Kinderpsychologie. Ein zusammengewürfeltes Regal mit Romanen.

Auf einem Tischchen in der Ecke stand ein Foto der beiden Kinder, Junge und Mädchen. Gregorius dachte an Kägis Brief. In dem Gespräch am Morgen hatte Natalie Rubin erwähnt, daß der Rektor Stunden ausfallen lasse, seine Frau sei in der Klinik, in der Waldau. Es gibt Momente, da sieht meine Frau aus, als zerfalle sie, hatte in dem Brief gestanden.

»Ich habe mit einem Geschäftsfreund telefoniert, der oft im Iran ist«, sagte Silveira, als er zurückkam, »man braucht ein Visum, aber sonst ist es kein Problem, nach Isfahan zu reisen.«

Er stutzte, als er den Ausdruck sah, der auf Gregorius’ Gesicht erschien.

»Ach so«, sagte er dann langsam, »ach so. Natürlich. Es geht nicht um dieses Isfahan. Und nicht um den Iran, sondern um Persien.«

Gregorius nickte. Mariana Ega hatte sich für seine Augen interessiert und hatte ihm die Schlaflosigkeit angesehen. Aber sonst war Silveira der einzige Mensch hier, der sich für ihn interessiert hatte. Für ihn. Der einzige, für den er nicht nur ein verstehender Spiegel war, wie für die Bewohner von Prados Welt.

Als sie zum Abschied wieder in der Halle standen und das Mädchen Gregorius den Mantel brachte, wanderte Silveiras Blick hinauf zur Empore, wo es zu anderen Räumen ging. Er sah zu Boden, dann wieder nach oben.

»Der Trakt der Kinder. Ehemalige Trakt. Wollen Sie es sich mal ansehen?

Zwei großzügige, helle Räume mit eigenem Bad. Meterweise Georges Simenon auf den Bücherregalen.

Sie standen auf der Empore. Silveira schien plötzlich nicht zu wissen, wohin er mit den Händen sollte.

»Wenn Sie möchten: Sie können hier wohnen. Umsonst natürlich. Auf unbestimmte Zeit.« Er lachte. »Wenn Sie nicht gerade in Persien sind. Besser als Hotel. Sie sind ungestört, ich bin viel weg. Auch morgen früh wieder. Julieta, das Mädchen, kümmert sich um Sie. Und irgendwann, da gewinne ich eine Partie gegen Sie.«

»Chamo-me José«, sagte er, als sie die Abmachung mit einem Händedruck besiegelten. »E tu?«

29 Gregorius packte. Er war aufgeregt, als bräche er zu einer Weltreise auf. In Gedanken räumte er im Zimmer des Jungen einige Simenons von den Regalen und stellte seine Bücher auf: die beiden über die Pest und das Erdbeben, das Neue Testament, das ihm Coutinho vor einer Ewigkeit geschenkt hatte, Pessoa, Ega de Queiros, die Bildbiographie über Salazar, die Bücher von Natalie Rubin. In Bern hatte er Marc Aurel und seinen alten Horaz eingepackt, die griechischen Tragödien und Sappho. Im letzten Augenblick auch noch Augustinus, Confessiones. Die Bücher für die nächste Wegstrecke.

Die Tasche war schwer, und als er sie vom Bett nahm und zur Tür trug, wurde ihm schwindlig. Er legte sich hin. Nach ein paar Minuten war es vorbei, und er konnte mit Prados Brief weitermachen.

Ich erzittere beim bloßen Gedanken an die ungeplante und unbekannte, doch unausweichliche und unaufhaltsame Wucht, mit der Eltern in ihren Kindern Spuren hinterlassen, die sich, wie Brandspuren, nie mehr werden tilgen lassen. Die Umrisse des elterlichen Wollens und Fürchtens schreiben sich mit glühendem Griffel in die Seelen der Kleinen, die voller Ohnmacht sind und voller Unwissen darüber, was mit ihnen geschieht. Wir

brauchen ein Leben lang, um den eingebrannten Text zu finden und zu entziffern, und wir können nie sicher sein, daß

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