▶ JETZT! Kostenlos lesen Bestseller-Bücher online
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
Suche Erweitert
Sign in Sign up
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
  • Adult
  • Action
  • Bestseller
  • Romance
  • Fantasy
  • Thrillers
  • Science-fiction

Nachtzug nach Lissabon - Teil 54

  1. Home
  2. Nachtzug nach Lissabon
  3. Teil 54
Prev
Next

Fortsetzung war abrupt und mit anderer Tinte geschrieben. War das Prados eigene Ordnung, oder hatte Adriana die Reihenfolge bestimmt?

Ihr seid Richter, Vater — ein Mensch also, der beurteilt, verurteilt und bestraft. »Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam«, sagte mir Onkel Ernesto einmal, »es will mir vorkommen, als hätte das schon bei seiner Geburt festgestanden.« Ja, dachte ich damals: genau.

Ich anerkenne: Zu Hause habt Ihr Euch nicht wie ein Richter benommen; Ihr habt Urteile nicht öfter gesprochen als andere Väter, eher seltener. Und doch, Vater, habe ich Eure Wortkargheit, Eure stumme Gegenwart oft als richtend empfunden, als richterlich und sogar als gerichtlich.

Ihr seid — stelle ich mir vor — ein gerechter Richter, erfüllt und bestimmt von Wohlwollen, kein Richter, dessen harte, unversöhnliche Urteile dem Groll über die Entbehrungen und das Mißlingen des eigenen Lebens entspringen, und auch nicht dem verleugneten schlechten Gewissen wegen geheimer eigener Verfehlungen. Ihr schöpft den Spielraum der Nachsicht und Milde, den das Gesetz Euch läßt, aus. Trotzdem habe ich stets darunter gelitten, daß Du einer bist, der über andere zu Gericht sitzt. »Sind Richter Leute, die andere ins Gefängnis schicken?« fragte ich Dich nach dem ersten Schultag, wo ich öffentlich auf die

Frage hatte antworten müssen, welchen Beruf der Vater hatte. Darüber nämlich sprachen die anderen in der Pause. Was sie sagten, klang nicht verächtlich oder anklagend; eher sprachen daraus Neugierde und Sensationslust, die sich kaum von der Neugierde unterschieden, die aufkam, als ein anderer Schüler sagte, sein Vater arbeite im Schlachthaus. Von da an habe ich He möglichen Umwege in Kauf genommen, um nie mehr am Gefängnis vorbeigehen zu müssen.

Ich war zwölf, als ich mich an den Wachen vorbei in den

Gerichtssaal schlich, um Euch in der Robe hinter dem erhöhten Richtertisch sitzen zu sehen. Damals wart Ihr ein gewöhnlicher Richter und noch nicht beim Obersten Gericht. Was ich empfand, war Stolz, und zugleich war ich zutiefst erschrocken. Es

ging um eine Urteilsverkündung, das Urteil betraf eine gewohnheitsmäßige Diebin, und das Urteil lautete auf Gefängnis, der Wiederholung wegen ohne Bewährung. Die Frau war im mittleren Alter, verhärmt und häßlich, kein Gesicht, das für sich einnehmen konnte. Trotzdem zog sich alles in mir zusammen, jede einzelne Zelle, schien mir, wurde von Krampfund Starre befallen, als sie abgeführt wurde und in den Katakomben des Gerichts verschwand, die ich mir finster, kalt und feucht vorstellte.

Ich fand, daß der Verteidiger seine Sache nicht gut machte, ein Pflichtverteidiger vermutlich, der seine Sätze lustlos herunterspulte, man erfuhr nichts über die Gründe der Frau, sie konnte sich nicht erklären, es würde mich nicht wundern, wenn sie eine Analphabetin war Später lag ich im Dunkeln wach und verteidigte sie, und es war weniger eine Verteidigung gegen den Staatsanwalt als eine Verteidigung gegen Euch. Ich redete mich heiser, bis mir die Stimme versagte und der Strom der Worte versiegte. Am Ende stand ich mit leerem Kopf vor Euch, gelähmt von einer Wortlosigkeit, die mir wie eine wache Bewußtlosigkeit erschien. Als ich aufwachte, wurde mir klar, daß ich mich am Schluß gegen eine Anklage verteidigt hatte, die Ihr nie erhoben hattet. Ihr habt mir, Eurem vergötterten Sohn, nie etwas Schwerwiegendes vorgeworfen, kein einziges Mal, und manchmal denke ich, daß ich alles, was ich tat, aus diesem einen Grunde tat: um einer mög

lichen Anklage, die ich zu kennen schien, ohne etwas von ihr zu wissen, zuvorzukommen. Ist das nicht letzten Endes auch der Grund, warum ich Arzt geworden bin? Um das Menschenmögliche gegen die teuflische Erkrankung der Wirbelgelenke in Deinem Rücken zu tun? Um geschützt zu sein gegen den Vorwurf, nicht genügend Anteil zu nehmen an Deinem stummen Leid? Gegen den Vorwurf also, mit dem Du Adriana und Rita von Dir weggetrieben hast, so daß er sich selbst bestätigte?

Doch zurück zum Gericht. Nie werde ich die Ungläubigkeit und das Entsetzen vergessen, die mich erfaßten, als ich sah, wie Staatsanwalt und Verteidiger nach der Urteilsverkündung aufeinander zugingen und zusammen lachten. Ich hätte gedacht, daß so etwas unmöglich wäre, und ich kann es bis zum heutigen Tage nichtbegreifen. Euch halte ich zugute: Als Ihr, die Bücher unter dem Arm, den Saal verließt, war Euer Gesicht ernst, man konnte Bedauern hineinlesen. Wie sehr ich mir wünschte, es möge wirklich in Euch sein, dieses Bedauern darüber, daß sich nun eine schwere Zellentür hinter der Diebin schließen würde und daß sich riesige, unerträglich laute Schlüssel im Schloß drehen würden!

Ich habe sie nie vergessen können, jene Diebin. Viele Jahre später beobachtete ich im Kaufhaus eine andere Diebin, eine junge Frau von betörender Schönheit, die lauter glitzernde Dinge mit artistischer Geschicklichkeit in ihren Manteltaschen verschwinden ließ. Verwirrt über das freudige Empfinden, das meine Wahrnehmung begleitete, folgte ich ihr auf ihrem kühnen Beutezug durch alle Stockwerke. Nur ganz allmählich begriff ich, daß die Frau in meiner Vorstellung jene andere Diebin rächte, die Ihr ins Gefängnis geschickt hattet. Als ich einen Mann mit lauerndem Gang auf sie zugehen sah, eilte ich zu ihr und flüsterte: »Cuidado!« Ihre Geistesgegenwart verschlug mir die Sprache. »»Vem, amor«, sagte sie undhängte sich bei mir ein, den Kopf an meine Schulter geschmiegt. Auf der Straße sah sie mich an, und jetzt war eine Ängstlichkeit in ihrem Blick zu lesen, die in verblüffendem Gegensatz zu ihrem nonchalanten, kaltblütigen Tun stand.

»Warum/« Der Wind wehte ihr das üppige Haar ins Gesicht und verbarg für einen Moment den Blick. Ich strich es ihr aus der Stirn.

»Es ist eine lange Geschichte«, sagte ich, »aber um sie kurz zu machen: Ich liebe Diebinnen. Vorausgesetzt, ich kenne ihren Namen.«

Sie spitzte die Lippen und überlegte einen Augenblick. »Diamantina Esmeralda ErmeHnda.«

Sie lächelte, drückte mir einen Kuß auf die Lippen und war um die Ecke verschwunden. Bei Tisch saß ich Euch nachher mit einem Gefühl des Triumphs und mit der Milde des unerkannten Siegers gegenüber. In diesem Augenblick verspotteten alle Diebinnen der Welt alle Gesetzbücher der Welt.

Eure Gesetzbücher: Solange ich denken kann, haben mir die gleichförmigen Bände aus schwarzem Leder Ehrfurcht einge-Hößt, eine mosaische Ehrfurcht. Es waren nicht Bücher wie andere, und was darin stand, hatte einen ganz besonderen Rang und eine einzigartige Dignität. So sehr waren sie allem Gewöhnlichen entrückt, daß es mich überraschte, darin portugiesische Wörter anzutreffen — wenngleich es schwerfällige, barocke und verschnörkelte Wörter waren, ersonnen, wie mir schien, von Bewohnern eines anderen, kalten Sterns. Noch vergrößert wurde ihre Fremdheit und Ferne durch den scharfen Geruch nach Staub, der aus dem Regal drang und mich auf den vagen Gedanken brachte, daß es zum Wesen dieser Bücher gehören mußte, daß niemand sie jemals herausnahm und sie ihren hehren Inhalt ganz für sich behielten.

Viel später, als ich zu begreifen begann, worin die Willkür einer Diktatur bestand, sah ich die ungebrauchten Gesetzbücher der Kindheit manchmal vor mir, und dann warf ich Euch in kindischen Gedankenspielen vor, daß Ihr sie nicht herausnahmt, um sie Salazars Schergen ins Gesicht zu schleudern.

Ihr habt nie das Verbot ausgesprochen, sie aus dem Regal zu nehmen, nein, nicht Ihr habt es ausgesprochen, es waren die schweren, majestätischen Bände selbst, die mir mit drakonischer Strenge untersagten, sie auch nur im mindestens zu verrücken. Wie oft habe ich mich als kleiner Junge in Dein Arbeitszimmer geschlichen und habe mit Herzklopfen gegen den Wunsch angekämpft, einen Band in die Hand zu nehmen und einen Blick auf den heiligen Inhalt zu werfen! Ich war zehn, als ich es endlich

tat, mit zitternden Fingern und nach mehrmaligem Blick in die Halle, der mich vor dem Ertapptwerden schützen sollte. Ich wollte dem Mysterium Eures Berufes auf die Spur kommen und verstehen, wer Du jenseits der Familie, draußen in der Welt, warst. Es war eine gewaltige Enttäuschung zu sehen, daß die spröde, formelhafte Sprache, die zwischen den Deckeln herrschte,

so gar nichts von einer Offenbarung an sich hatte, nichts, vor dem man das erhoffte und befürchtete Schaudern hätte empfinden können.

Bevor Ihr Euch damals, nach der Verhandlung gegen die Diebin, erhobt, trafen sich unsere Blicke. So jedenfalls schien es mir.

Ich habe gehofft — und sie dauerte wochenlang, diese Hoffnung —, Du würdest die Sprache von Dir aus daraufbringen. Schließlich verfärbte sich die Hoffnung und wurde zur Enttäuschung, die sich weiter verfärbte, bis sie in die Nähe des Aufbegehrens und des Zorns geriet: Hieltet Ihr mich für zu jung dafür, zu beschränkt? Doch das paßte nicht dazu, daß Ihr sonst alles von mir verlangt und als selbstverständlich erwartet habt. War es Euch peinlich, daß Euer Sohn Euch in der Robe gesehen hatte? Aber ich hatte nie das Gefühl, daß Ihr Euch wegen Eures Berufs geniertet. Hattet Ihr am Ende Angst vor meinen Zweifeln? Ich würde sie haben, auch wenn ich noch ein halbes Kind war; das wußtet Ihr, dafür kanntet Ihr mich gut genug, zumindest hoffe ich das. War es also Feigheit — eine Art der Schwäche, die ich sonst niemals mit Euch in Verbindung brachte?

Und ich? Warum habe ich selbst die Sprache nicht daraufgebracht? Die Antwort ist einfach und klar: Euch zur Rede stellen — das war etwas, das man schlechterdings nicht tun konnte. Es hätte das ganze Gefüge und die gesamte Architektur der Familie zum Einsturz gebracht. Und es war nicht nur etwas, das man nicht tun konnte; es war etwas, das man nicht einmal denken konnte. Statt es zu denken und zu tun, legte ich in der Vorstellung die beiden Bilder übereinander: den vertrauten, privaten Vater, Herrscher der Stummheit, und den Mann in der Robe, der mit gemessenen Worten und sonorer, unantastbarer Stimme, die überquoll von formelhafter Eloquenz, in den Gerichtssaal hineinsprach, einen Saal, in dem die Stimmen ein Hallen auslösten,

Prev
Next

SIE KÖNNEN AUCH MÖGEN

Lea
Lea – Pascal Mercier
April 22, 2020
Der Klavierstimmer
Der Klavierstimmer
April 22, 2020
Perlmanns Schweigen
Perlmanns Schweigen
April 22, 2020
Das Gewicht der Worte
Das Gewicht der Worte
April 18, 2020
  • HOME
  • Copyright
  • Privacy Policy
  • DMCA Notice
  • ABOUT US
  • Contact Us

© 2019 Das Urheberrecht liegt beim Autor der Bücher. All rights reserved