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Nachtzug nach Lissabon - Teil 5

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Gedanken tiefer, ohne daß sie dadurch zur Stimme des Buchhändlers wurde. Es sollte eine Stimme von melancholischer Klarheit sein, die genau dem Blick von Amadeu de Prado entsprach. Er versuchte, die Sätze im Buch mit dieser Stimme zum Klingen zu bringen. Doch es ging nicht; er wußte nicht, wie die einzelnen Wörter auszusprechen waren.

Draußen vor dem Café ging Lucien von Graffenried vorbei. Gregorius war überrascht und erleichtert zu spüren, daß er nicht zusammenzuckte. Er sah dem Jungen nach und dachte an die Bücher auf dem Lehrerpult. Er mußte warten, bis der Unterricht um zwei von neuem begonnen hatte. Dann erst konnte er in die Buchhandlung gehen, um einen portugiesischen Sprachkurs zu kaufen.

3 Kaum hatte Gregorius zu Hause die erste Platte aufgelegt und die ersten portugiesischen Sätze gehört, klingelte das Telefon. Die Schule. Das Klingeln wollte nicht aufhören. Er stand neben dem Apparat und probierte Sätze aus, die er sagen könnte. Seit heute vormittag spüre ich, daß ich aus meinem Leben noch etwas anderes machen möchte. Daß ich nicht mehr euer Mundus sein will. Ich habe keine Ahnung, was das Neue sein wird. Aber es duldet keinen Aufschub, nicht den geringsten. Meine Zeit nämlich verrinnt, und es könnte sein, daß nicht mehr viel davon übrig ist. Gregorius sprach die Sätze laut vor sich hin. Sie stimmten, das wußte er, er hatte in seinem Leben wenige Sätze von Bedeutung gesagt, die so genau gestimmt hatten wie diese. Doch sie hatten einen hohlen und pathetischen Klang, wenn man sie aussprach, und es war unmöglich, sie in den Telefonhörer hinein zu sagen.

Das Klingeln hatte aufgehört. Aber es würde stets von neuem beginnen. Sie machten sich Sorgen und würden nicht ruhen, bis sie ihn gefunden hatten; es konnte ihm ja etwas zugestoßen sein. Früher oder später würde es an der Tür klingeln. Jetzt, im Februar, wurde es immer noch früh dunkel. Er würde kein Licht machen dürfen. Mitten in der Stadt, welche die Mitte seines Lebens gebildet hatte, war er auf der Flucht und mußte sich in der Wohnung, in der er seit fünfzehn Jahren lebte, verstecken. Es war bizarr, lächerlich und hörte sich an wie eine Schmierenkomödie. Und doch war es ernst, ernster als das meiste, was er bis dahin erlebt und getan hatte. Aber es war unmöglich, es denen zu erklären, die ihn suchten. Gregorius stellte sich vor, wie er die Tür öffnete und sie hereinbat. Es war unmöglich. Ganz und gar unmöglich.

Dreimal hintereinander hörte er die erste Platte des Kurses, und langsam bekam er eine Ahnung vom Unterschied zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen, und von all dem, was im gesprochenen Portugiesisch verschluckt wurde. Sein untrügliches, anstrengungsloses Gedächtnis für Wortgebilde trat in Kraft.

In Abständen, die ihm immer kürzer vorkamen, klingelte das Telefon. Von der Vormieterin hatte er seinerzeit einen vorsintflutlichen Apparat übernommen und einen Anschluß ohne einen Stecker, den er jetzt hätte herausziehen können. Er hatte darauf bestanden, daß alles so blieb. Jetzt holte er eine Wolldecke, um das Klingeln zu ersticken.

Die Stimmen, die durch den Sprachkurs führten, forderten ihn auf, Wörter und kurze Sätze nachzusprechen. Lippen und Zunge fühlten sich schwerfällig und plump an, wenn er es versuchte. Die alten Sprachen waren wie gemacht für seinen ber-nischen Mund, und in diesem zeitlosen Universum kam der Gedanke, daß man sich beeilen mußte, nicht vor. Die Portugiesen dagegen schienen es stets eilig zu haben, ähnlich wie die

Franzosen, denen er sich deshalb von vornherein unterlegen fühlte. Florence hatte sie geliebt, diese rasende Eleganz, und wenn er die Leichtigkeit gehört hatte, mit der sie ihr gelang, war er stumm geworden.

Doch nun war mit einemmal alles anders: Gregorius wollte das ungestüme Tempo des Sprechers und die tanzende Helligkeit der Sprecherin, die an eine Piccoloflöte erinnerte, nachahmen und ließ die immer gleichen Sätze wiederkehren, um den Abstand zwischen seiner behäbigen Aussprache und dem glitzernden Vorbild zu verkleinern. Nach einer Weile begriff er, daß er dabei war, eine große Befreiung zu erleben; die Befreiung von einer selbstauferlegten Beschränkung, von einer Langsamkeit und Schwerfälligkeit, wie sie aus seinem Namen sprach und wie sie aus den langsamen Schritten seines Vaters gesprochen hatte, wenn er im Museum bedächtig von einem Raum in den anderen gegangen war; die Befreiung von einem Bildnis seiner selbst, in dem er auch dann, wenn er nicht las, einer war, der sich kurzsichtig über verstaubte Bücher beugte; ein Bildnis, das er nicht planvoll entworfen hatte, das vielmehr langsam und unmerklich gewachsen war; das Bildnis von Mundus, das nicht nur seine eigene Handschrift trug, sondern auch die Handschrift vieler anderer, die es angenehm gefunden hatten und bequem, sich an dieser stillen, musealen Gestalt festhalten und sich bei ihr ausruhen zu können. Es kam Gregorius vor, als trete er aus diesem Bildnis heraus wie aus einem verstaubten Ölgemälde an der Wand eines vergessenen Seitenflügels im Museum. Er ging in der dämmrigen Beleuchtung der lichtlosen Wohnung auf und ab, bestellte auf Portugiesisch einen Kaffee, fragte nach einer Straße in Lissabon, erkundigte sich nach dem Beruf von jemandem und nach dem Namen, beantwortete Fragen nach dem eigenen Beruf und führte ein kurzes Gespräch über das Wetter.

Und auf einmal begann er, mit der Portugiesin vom Vormittag zu sprechen. Er fragte sie nach dem Grund ihrer Wut auf den Briefschreiber. Voce quis saltar? Wollten Sie springen? Aufgeregt hielt er sich das neue Wörterbuch und die Grammatik vor die Augen und schlug Ausdrücke und Verbformen nach, die ihm fehlten. Portuges. Wie anders das Wort jetzt schon klang! Hatte es bisher den Zauber eines Kleinods aus einem fernen, unzugänglichen Land besessen, so war es jetzt eher wie einer von tausend Edelsteinen in einem Palast, zu dem er soeben die Tür aufgestoßen hatte.

An der Tür klingelte es. Auf Zehenspitzen ging Gregorius zum Plattenspieler und stellte ihn ab. Es waren junge Stimmen, Schülerstimmen, die draußen beratschlagten. Noch zweimal schnitt die grelle Klingel durch die dämmrige Stille, in der Gregorius regungslos wartete. Dann entfernten sich die Schritte im Treppenhaus.

Die Küche war der einzige Raum, der nach hinten hinausging und eine Jalousie hatte. Gregorius ließ sie herunter und machte Licht. Er holte das Buch des adligen Portugiesen und die Sprachbücher, setzte sich an den Eßtisch und begann, den ersten Text nach der Einleitung zu übersetzen. Es war wie Latein und ganz anders als Latein, und jetzt störte es ihn kein bißchen. Es war ein schwieriger Text, und es dauerte. Methodisch und mit der Ausdauer eines Marathonläufers suchte Gregorius die Wörter heraus und durchkämmte die Verbtabellen, bis er die undurchsichtigen Verbformen enträtselt hatte. Nach wenigen Sätzen erfaßte ihn fiebrige Erregung, und er holte Papier, um die Übersetzung aufzuschreiben. Es war fast neun Uhr, als er endlich zufrieden war:

PROFUNDEZAS INCERTAS. UNGEWISSE UNTIEFEN. Gibt es ein Geheimnis unter der Oberfläche menschlichen Tuns? Oder sind die Menschen ganz und gar so, wie ihre Handlungen, die offen zutage Hegen, es anzeigen?

Es ist in höchstem Grade merkwürdig, aber die Antwort wechselt in mir mit dem Licht, das auf die Stadt und den Tejo fällt. Ist es das verzaubernde Licht eines flirrenden Augusttages, das klare, scharfkantige Schatten hervorbringt, so erscheint mir der Gedanke einer verborgenen menschlichen Tiefe absonderlich und wie ein kurioses, ein bißchen auch rührendes Phantasma, einer Luftspiegelung ähnlich, wie sie sich einstellt, wenn ich zu lange auf die in jenem Licht aufblitzenden Wellen blicke. Werden Stadt und Fluß dagegen an einem trüben Januartag von einer Kuppel aus schattenlosem Licht und langweiligem Grau überwölbt, so kenne ich keine Gewißheit, die größer sein könnte als diese: daß alles menschliche Tun nur höchst unvollkommener, geradezu lächerlich hilfloser Ausdruck eines verborgenen inneren Lebens von ungeahnter Tiefe ist, das an die Oberfläche drängt, ohne sie jemals auch nur im entferntesten erreichen zu können.

Und zu dieser sonderbaren, beunruhigenden Unzuverlässigkeit meines Urteils kommt noch eine Erfahrung hinzu, die, seitdem ich sie kennengelernt habe, mein Leben stets von neuem in eine verstörende Unsicherheit taucht: daß ich in dieser Sache, über die hinaus es für uns Menschen eigentlich nichts Wichtigeres geben kann, genauso schwanke, wenn es um mich selbst geht. Wenn ich nämlich vor meinem Lieblingscafe sitze, mich von der Sonne bescheinen lasse und dem glockenhellen Lachen der vorbeigehenden Senhoras lausche, so kommt es mir vor, als sei meine gesamte innere Welt bis in den hintersten Winkel hinein ausgefüllt und mir durch und durch bekannt, weil sie sich in diesen angenehmen Empfindungen erschöpft. Schiebt sich dann jedoch eine entzaubernde, ernüchternde Wolkendecke vor die Sonne, so bin ich mit einem Schlag sicher, daß es in mir verborgene Tiefen und Untiefen gibt, aus denen heraus noch ungeahnte Dinge hervorbrechen und mich mit sich fortreißen könnten. Dann zahle ich schnell und suche mir hastig eine Zerstreuung in

der Hoffnung, die Sonne möge bald von neuem hervorbrechen und der beruhigenden Oberflächlichkeit zu ihrem Recht verhelfen.

Gregorius schlug das Bild von Amadeu de Prado auf und lehnte das Buch gegen die Tischlampe. Satz für Satz las er den übersetzten Text in den kühnen, melancholischen Blick hinein. Ein einziges Mal nur hatte er etwas Ähnliches getan: als er als Student Marc Aurels Selbstbetrachtungen gelesen hatte. Auf dem Tisch hatte eine Gipsbüste des Kaisers gestanden, und wenn er an dem Text arbeitete, war es gewesen, als tue er es im Schütze seiner stummen Anwesenheit. Doch zwischen damals und jetzt gab es einen Unterschied, den Gregorius immer deutlicher spürte, je weiter die Nacht fortschritt, ohne daß er ihn hätte in Worte fassen können. Nur das eine wußte er, als es auf zwei Uhr ging: Der Portugiese verlieh ihm mit der Schärfe seiner Wahrnehmung eine Wachheit und Genauigkeit des

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