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Nachtzug nach Lissabon - Teil 46

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den Satz Freundschaften haben ihre Zeit und enden Nicht bei uns, dachte ich damals, nicht bei uns.«

O’Kelly trank jetzt immer schneller, und der Mund gehorchte ihm nicht mehr. Mühsam stand er auf und ging auf unsicheren Beinen aus dem Zimmer. Nach einer Weile kam er mit einem Blatt Papier wieder.

»Hier. Das haben wir einmal zusammen aufgeschrieben. In Coimbra, als uns die ganze Welt zu gehören schien.«

Es war eine Liste, und darüber stand: lealdade por. Darunter hatten Prado und O’Kelly all die Gründe notiert, aus denen heraus Loyalität entstehen kann.

Schuld am anderen; gemeinsame Entwicklungsschritte; geteiltes Leid; geteilte Freude; Solidarität der Sterblichen; Gemeinsamkeit der Ansichten; gemeinsamer Kampf gegen außen; gemeinsame Stärken, Schwächen; Gemeinsamkeit im Nähebedürfnis; Gemeinsamkeit des Geschmacks; gemeinsamer Haß; geteilte Geheimnisse; geteilte Phantasien, Träume; geteilte Begeisterung; geteilter Humor; geteilte Helden; gemeinsam getroffene Entscheidungen; gemeinsame Erfolge, Mißerfolge, Siege, Niederlagen; geteilte Enttäuschungen; gemeinsame Fehler

Er vermisse auf der Liste die Liebe, sagte Gregorius. O’Kellys Körper spannte sich, und für eine Weile war er hinter dem Rausch wieder ganz wach.

»Daran glaubte er nicht. Mied sogar das Wort. Hielt es für Kitsch. Es gebe diese drei Dinge, und nur sie, pflegte er zu sagen: Begierde, Wohlgefallen und Geborgenheit. Und alle seien sie vergänglich. Am flüchtigsten sei die Begierde, dann komme S das Wohlgefallen, und leider sei es so, daß die Geborgenheit, das Gefühl, in jemandem aufgehoben zu sein, irgendwann auch zerbreche. Die Zumutungen des Lebens, all die Dinge, mit denen wir fertig werden müßten, seien einfach zu zahlreich und zu gewaltig, als daß unsere Gefühle sie unbeschadet überstehen könnten. Deshalb komme es auf Loyalität an. Sie sei kein Gefühl, meinte er, sondern ein Wille, ein Entschluß, eine Parteinahme der Seele. Etwas, das den Zufall von Begegnungen und die Zufälligkeit der Gefühle in eine Notwendigkeit verwandle. Ein Hauch von Ewigkeit, sagte er, nur ein Hauch, aber immerhin.

Er hat sich getäuscht. Wir haben uns beide getäuscht.

Später, als wir wieder in Lissabon waren, beschäftigte ihn oft die Frage, ob es auch so etwas gibt wie Loyalität sich selbst gegenüber. Die Verpflichtung, auch vor sich selbst nicht davonzulaufen. Weder in der Vorstellung noch in der Tat. Die Bereitschaft, zu sich zu stehen, auch wenn man sich nicht mehr mag. Er hätte sich umdichten mögen und dann dafür sorgen, daß aus der Dichtung Wahrheit würde. Ich ertrage mich nur noch, wenn ich arbeite, sagte er.«

O’Kelly schwieg, die Spannung in seinem Körper ließ nach, der Blick trübte sich, sein Atem wurde langsam wie der eines Schlafenden. Es war unmöglich, jetzt einfach zu gehen.

Gregorius stand auf und betrachtete die Bücherregale. Ein ganzes Regal voller Bücher über den Anarchismus, den russischen, den andalusischen, den katalanischen. Viele Bücher mit justica im Titel. Dostojewski und immer noch mehr Dostojewski. Ega de Queiros, o crime do padre amaro, das Buch, das er beim ersten Besuch im Antiquariat von Julio Simöes gekauft hatte. Sigmund Freud. Biographien von Pianisten. Schachliteratur. Und schließlich, in einer Nische, ein schmales Regal mit den Schulbüchern aus dem Liceu, einige fast siebzig Jahre alt. Gregorius nahm die lateinische und griechische Grammatik heraus und blätterte in den mürben Seiten mit den vielen Tintenklecksen. Die Wörterbücher, die Übungs-texte. Cicero, Livius, Xenophon, Sophokles. Die Bibel, zerlesen und übersät mit Anmerkungen.

O’Kelly wachte auf, doch als er zu sprechen begann, war es, als setze sich der Traum fort, den er soeben durchlebt hatte.

»Er hat mir die Apotheke gekauft. Eine ganze Apotheke in bester Lage. Einfach so. Wir treffen uns im Café und reden über alles mögliche. Kein Wort von der Apotheke. Er war ein Geheimniskrämer, ein gottverdammter, liebenswerter Geheimniskrämer, ich habe niemanden gekannt, der die Kunst des Geheimnisses beherrschte wie er. Es war seine Form der Eitelkeit — auch wenn er das nicht hören wollte. Auf dem Rückweg bleibt er plötzlich stehen. >Siehst du diese Apotheke?< fragt er. >Natürlich sehe ich sie<, sage ich, >was ist damit?< >Sie gehört dir<, sagt er und hält mir einen Bund Schlüssel vor die Nase. >Du wolltest doch immer schon eine eigene Apotheke, jetzt hast du sie.< Und dann hat er auch noch die ganze Einrichtung bezahlt. Und wissen Sie was? Es war mir überhaupt nicht peinlich. Ich war überwältigt und rieb mir in der Anfangszeit jeden Morgen die Augen. Manchmal rief ich ihn an und sagte: >Stell dir vor, ich stehe in meiner eigenen Apotheke.< Dann lachte er, es war sein gelöstes, glückliches Lachen, das von Jahr zu Jahr seltener wurde.Er hatte ein getrübtes, kompliziertes Verhältnis zu dem vielen Geld in seiner Familie. Es kam vor, daß er in großer Geste Geld zum Fenster hinauswarf, anders als der Richter, sein Vater, der sich nichts gönnte. Doch dann sah er einen Bettler und war verstört, es war jedesmal das gleiche. >Warum gebe ich ihm nur ein paar Münzen ?< sagte er. >Warum nicht ein Bündel Scheine? Warum nicht alles? Und warum gerade ihm und nicht allen anderen auch? Es ist doch purer, blinder Zufall, daß wir an ihm vorbeikommen und nicht an einem anderen Bettler. Und überhaupt: Wie kann man sich ein Eis kaufen, und ein paar Schritte weiter muß einer diese Demütigung ertragen?

Das geht doch gar nicht! Hörst du: Es geht nicht! Einmal war er so wütend über diese Unklarheit — diese verdammte, klebrige Unklarheit, wie er sie nannte —, daß er aufstampfte, zurücklief und dem Bettler einen großen Schein in den Hut warf.«

O’Kellys Gesicht, das im Erinnern gelöst worden war wie bei einem, von dem ein langer Schmerz gewichen ist, verdunkelte sich wieder und wurde alt.

»Als wir uns verloren hatten, wollte ich die Apotheke zunächst verkaufen und ihm das Geld zurückgeben. Doch dann merkte ich: Es wäre gewesen, als striche ich alles durch, was gewesen war, die lange, glückliche Zeit unserer Freundschaft. Als vergiftete ich rückwirkend unsere vergangene Nähe und das frühere Vertrauen. Ich behielt die Apotheke. Und ein paar Tage nach diesem Entschluß geschah etwas Sonderbares: Sie war plötzlich viel mehr meine eigene Apotheke als vorher. Ich hab’s nicht verstanden. Ich verstehe es bis heute nicht.«

Er habe in der Apotheke das Licht brennen lassen, sagte Gregorius beim Abschied.

O’Kelly lachte. »Das ist Absicht. Das Licht brennt immer. Immer. Die reine Verschwendung. Um mich an der Armut zu rächen, in der ich aufgewachsen bin. Licht nur in einem einzigen Raum, ins Bett ging man im Dunkeln. Die paar Centavos Taschengeld, die ich bekam, steckte ich in Batterien für eine Taschenlampe, mit der ich nachts las. Die Bücher habe ich gestohlen. Bücher dürften nichts kosten, das dachte ich damals und denke es heute noch. Dauernd drehten sie uns den Strom ab wegen unbezahlter Rechnungen. Cortar a luz, ich werde die Drohung nie vergessen. Es sind die einfachen Dinge, über die man nicht hinwegkommt. Wie etwas gerochen hat; wie es nach der Ohrfeige brannte; wie es war, als die plötzliche Dunkelheit durchs Haus flutete; wie rauh der Fluch des Vaters klang. Am Anfang kam manchmal die Polizei wegen des Lichts in der Apotheke. Jetzt wissen es alle und lassen mich in Ruhe.«

23 Natalie Rubin hatte dreimal angerufen. Gregorius rief zurück. Das Wörterbuch und die portugiesische Grammatik seien überhaupt kein Problem gewesen, sagte sie. »Sie werden diese Grammatik lieben! Wie ein Gesetzbuch, und haufenweise Listen mit Ausnahmen, der Mann ist ganz vernarrt in die Ausnahmen. Wie Sie, Entschuldigung.«

Schon schwieriger sei es mit der Geschichte Portugals gewesen, es gebe mehrere, und sie habe sich dann für die kompakteste entschieden. All das sei bereits unterwegs. Die persische Grammatik, die er ihr angegeben habe, sei noch im Handel, Haupt könne sie bis Mitte der Woche besorgen. Die Geschichte des portugiesischen Widerstands dagegen — das sei eine echte Herausforderung. Die Bibliotheken hätten schon zugehabt, als sie kam. Da könne sie erst am Montag wieder hin. Bei Haupt habe man ihr geraten, im romanistischen Seminar nachzufragen, und sie wisse auch schon, an wen sie sich am Montag wenden müsse.

Gregorius erschrak über ihren Eifer, obwohl er ihn hatte kommen sehen. Sie würde am liebsten nach Lissabon kommen und ihm bei den Recherchen helfen, hörte er sie sagen.

Mitten in der Nacht wachte Gregorius auf und war unsicher, ob sie es nur im Traum oder auch in der Wirklichkeit gesagt hatte. Cool, hatten Kägi und Lucien von Graffenried die ganze Zeit gesagt, als er gegen Pedro, den Jurassier, spielte, der seine Figuren mit der Stirn übers Brett schob und den Kopf vor Wut auf den Tisch schlug, wenn Gregorius ihn überlistet hatte. Gegen Natalie zu spielen war sonderbar gewesen und unheimlich, denn sie spielte ohne Figuren und ohne Licht. »Ich kann Portugiesisch und könnte dich unterstützen!« sagte sie. Er versuchte, ihr auf portugiesisch zu antworten, und fühlte sich wie in einer Prüfung, als die Worte nicht kamen. Minha Senhora, begann er stets von neuem, Minha Senhora, und dann wußte er nicht weiter.

Er rief Doxiades an. Nein, er habe ihn nicht geweckt, sagte der Grieche, mit dem Schlafen sei es wieder einmal ganz schlecht. Und nicht nur mit dem Schlafen.

Einen solchen Satz hatte Gregorius von ihm noch nie gehört, und er erschrak. Was denn sei, fragte er.

»Ach, nichts«, sagte der Grieche, »ich bin einfach müde, ich mache in der Praxis Fehler, ich möchte aufhören.«

Aufhören? Er und außiören? Und was dann?

»Nach Lissabon fahren, zum Beispiel«, lachte er.

Gregorius erzählte von Pedro, seiner fliehenden Stirn und dem epileptischen Blick. Doxiades erinnerte sich an den Jurassier.

»Danach haben Sie eine Weile miserabel gespielt«, sagte er. »Für Ihre Verhältnisse.«

Es wurde bereits hell, als Gregorius wieder einschlief. Als er zwei Stunden später aufwachte, wölbte sich über Lissabon ein wolkenloser Himmel, und die Leute gingen ohne Mantel.

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