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Nachtzug nach Lissabon - Teil 4

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er, daß er entgegen seinem Vorsatz und gegen alle Vernunft doch auf die Portugiesin wartete. Jetzt klappte die Studentin das Buch zu und erhob sich. Doch statt es auf den Tisch zu den anderen zu tun, blieb sie stehen, ließ den Blick stets von neuem über den grauen Einband gleiten, strich mit der Hand darüber, und erst nachdem einige weitere Sekunden verronnen waren, legte sie das Buch auf den Tisch, so sanft und vorsichtig, als könnte es durch einen Stoß zu Staub zerfallen. Einen Moment lang blieb sie danach beim Tisch stehen, und es sah aus, als würde sie es sich vielleicht anders überlegen und das Buch doch noch kaufen. Dann ging sie hinaus, die Hände in den Manteltaschen vergraben und den Kopf gesenkt. Gregorius nahm das

Buch in die Hand und las: amadeu inAcio de almeida PRADO, UM OURIVES DAS PALAVRAS, LISBOA 1975.

Der Buchhändler war gekommen, warf jetzt einen Blick auf das Buch und sprach den Titel aus. Gregorius hörte nur einen Fluß von Zischlauten; die verschluckten, kaum hörbaren Vokale schienen nur als Vorwand dazusein, um das rauschende sch am Schluß stets von neuem wiederholen zu können.

»Sprechen Sie Portugiesisch?«

Gregorius schüttelte den Kopf.

»Ein Goldschmied der Worte, heißt es. Ist das nicht ein schöner Titel?«

»Still und elegant. Wie mattes Silber. Würden Sie ihn noch einmal auf Portugiesisch sagen?«

Der Buchhändler wiederholte die Worte. Außer den Worten selbst konnte man hören, wie er ihren samtenen Klang genoß. Gregorius schlug das Buch auf und blätterte, bis der Text begann. Er reichte es dem Mann, der ihm einen verwunderten und wohlgefälligen Blick zuwarf und vorzulesen begann. Gregorius schloß beim Zuhören die Augen. Nach ein paar Sätzen hielt der Mann inne.

»Soll ich übersetzen?«

Gregorius nickte. Und dann hörte er Sätze, die in ihm eine betäubende Wirkung entfalteten, denn sie klangen, als seien sie allein für ihn geschrieben worden, und nicht nur für ihn, sondern für ihn an diesem Vormittag, der alles verändert hatte.

Von tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache, und auch diese bloß zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente. Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Form, seine Färbung und seine Melodie geben. Wenn wir uns dann, als Archäologen der Seele, diesen Schätzen zuwenden, entdecken wir, wie verwirrend sie sind. Der Gegenstand der Be

trachtung weigert sich stillzustehen, die Worte gleiten am Erlebten ab, und am Ende stehen lauter Widersprüche auf dem Papier. Lange Zeit habe ich geglaubt, das sei ein Mangel, etwas, das es zu überwinden gelte. Heute denke ich, daß es sich anders verhält: daß die Anerkennung der Verwirrung der Königsweg zum Verständnis dieser vertrauten und doch rätselhaften Erfahrungen ist. Das klingt sonderbar, ja eigentlich absonderlich, ich weiß. Aber seit ich die Sache so sehe, habe ich das Gefühl, das erstemal richtig wach und am Leben zu sein.

»Das ist die Einleitung«, sagte der Buchhändler und begann zu blättern. »Und nun, so scheint es, beginnt er, Abschnitt für Abschnitt nach all den verborgenen Erfahrungen zu graben. Sein eigener Archäologe zu sein. Es gibt Abschnitte von mehreren Seiten, und dann wieder ganz kurze. Hier zum Beispiel ist einer, der aus einem einzigen Satz besteht.« Er übersetzte:

Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist — was geschieht mit dem Rest?

»Ich möchte das Buch haben«, sagte Gregorius.

Der Buchhändler klappte es zu und fuhr mit der Hand auf dieselbe zärtliche Weise über den Einband, wie es die Studentin vorhin getan hatte.

»Ich habe es letztes Jahr in einer Ramschkiste eines Antiquariats in Lissabon gefunden. Und jetzt erinnere ich mich auch wieder: Ich habe es mitgenommen, weil mir die Einleitung gefiel. Irgendwie habe ich es dann aus den Augen verloren.« Er sah Gregorius an, der umständlich nach seiner Brieftasche tastete. »Ich schenke es Ihnen.«

»Das ist …«, begann Gregorius heiser und räusperte sich.

»Es hat ohnehin so gut wie nichts gekostet«, sagte der Buchhändler und reichte ihm das Buch. »Jetzt erinnere ich mich auch wieder an Sie: San Juan de la Cruz. Richtig?«

»Das war meine Frau«, sagte Gregorius.

»Dann sind Sie der Altphilologe vom Kirchenfeld, sie hat von Ihnen gesprochen. Und später einmal hörte ich noch jemanden von Ihnen sprechen. Es klang, als seien Sie ein wandelndes Lexikon.« Er lachte. »Ein ausgesprochen beliebtes Lexikon.«

Gregorius steckte das Buch in die Manteltasche und gab ihm die Hand. »Vielen Dank.«

Der Buchhändler begleitete ihn zur Tür. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht…«

»Keineswegs«, sagte Gregorius und berührte ihn am Arm.

Auf dem Bubenbergplatz blieb er stehen und ließ den Blick kreisen. Hier hatte er sein ganzes Leben verbracht, hier kannte er sich aus, hier war er zu Hause. Für einen, der so kurzsichtig war wie er, war das wichtig. Für einen wie ihn war die Stadt, in der er wohnte, wie ein Gehäuse, eine wohnliche Höhle, ein sicherer Bau. Alles andere bedeutete Gefahr. Nur jemand, der ähnlich dicke Brillengläser hatte, konnte das verstehen. Florence hatte es nicht verstanden. Und vielleicht aus dem gleichen Grunde hatte sie nicht verstanden, daß er nicht gerne flog. Ein Flugzeug besteigen und wenige Stunden später in einer ganz anderen Welt ankommen, ohne daß man Zeit gehabt hatte, einzelne Bilder von der Strecke dazwischen in sich aufzunehmen — das mochte er nicht, und es verstörte ihn. Es ist nicht richtig, hatte er zu Florence gesagt. Was meinst du: nicht richtig? hatte sie gereizt gefragt. Er hatte es nicht erklären können, und so war sie denn immer öfter allein geflogen, oder mit anderen, meistens nach Südamerika.

Gregorius trat vor das Anzeigenfenster des Kinos Bubenberg. In der Spätvorstellung gab es einen Schwarzweißfilm nach einem Roman von Georges Simenon: L’homme qui regardait passer les trains. Der Titel gefiel ihm, und auch die Ausschnitte betrachtete er lange. Ende der siebziger Jahre, als jedermann einen Farbfernseher kaufte, hatte er tagelang vergeblich versucht, noch ein Schwarzweißgerät zu bekommen. Schließlich hatte er eins aus dem Sperrmüll mit nach Hause genommen. Zäh hatte er auch nach der Heirat daran festge-halten, es stand in seinem Arbeitszimmer, und wenn er allein war, ließ er den farbigen Apparat im Wohnzimmer links liegen und schaltete die alte Kiste ein, die flimmerte und in der die Bilder gelegentlich rollten. Mundus, du bist unmöglich, hatte Florence eines Tages gesagt, als sie ihn vor dem häßlichen, unförmigen Kasten fand. Daß sie ihn anzureden begann wie die anderen und er nun auch zu Hause wie ein Faktotum der Stadt Bern behandelt wurde – das war der Anfang vom Ende gewesen. Als der Farbfernseher mit der Scheidung aus der Wohnung verschwunden war, hatte er aufgeatmet. Erst Jahre später, als die Bildröhre ganz kaputt war, hatte er sich ein neues Gerät in Farbe gekauft.

Die Ausschnitte im Kinofenster waren groß und gestochen scharf. Der eine zeigte das bleiche, alabasterne Gesicht von Jeanne Moreau, die sich feuchte Strähnen aus der Stirn strich. Gregorius riß sich los und ging ins nächste Café, um das Buch näher zu betrachten, in dem der adlige Portugiese versucht hatte, sich mit seinen stummen Erfahrungen in Worte zu fassen.

Erst jetzt, da er mit der Bedächtigkeit des Liebhabers alter Bücher langsam Seite für Seite umblätterte, entdeckte er das Portrait des Autors, ein altes, zur Zeit der Drucklegung bereits vergilbtes Foto, auf dem die ehemals schwarzen Flächen zu dunklem Braun ausgeblichen waren, das helle Gesicht vor einem Hintergrund aus grobkörnigem, schattenhaftem Dunkel. Gregorius putzte die Brille, setzte sie wieder auf und war innerhalb weniger Augenblicke vollständig von dem Gesicht gefangengenommen.

Der Mann mochte Anfang dreißig sein und strahlte eine Intelligenz, ein Selbstbewußtsein und eine Kühnheit aus, die Gregorius förmlich blendeten. Das helle Gesicht mit der hohen Stirn war überwölbt von üppigem dunklem Haar, das matt zu glänzen schien und, nach hinten gekämmt, wie ein

Helm wirkte, aus dem seitlich in weichen Wellen Strähnen auf die Ohren fielen. Eine schmale, römische Nase gab dem Gesicht große Klarheit, unterstützt von kräftigen Augenbrauen, die gesetzt waren wie feste Balken, gemalt mit breitem Pinsel und nach außen hin früh abbrechend, so daß eine Konzentration zur Mitte hin entstand, dorthin, wo die Gedanken waren. Die vollen, geschwungenen Lippen, die im Gesicht einer Frau nicht überrascht hätten, waren eingefaßt von einem dünnen Lippenbärtchen und einem gestutzten Kinnbart, der durch den schwarzen Schatten, den er auf den schlanken Hals warf, bei Gregorius den Eindruck hinterließ, als müsse man auch mit einer gewissen Rauheit und Härte rechnen. Was jedoch alles entschied, waren die dunklen Augen. Sie waren von Schatten untermalt, doch waren es nicht Schatten der Müdigkeit, Erschöpfung oder Krankheit, sondern Schatten des Ernstes und der Melancholie. In seinem dunklen Blick mischte sich Sanftmut mit Unerschrockenheit und U Inbeugsa.mke.it. Der Mann war ein Träumer und Dichter, dachte Gregorius, zugleich aber einer, der mit Entschiedenheit eine Waffe führen könnte oder ein Skalpell, und einer, dem man besser aus dem Weg ging, wenn seine Augen in Flammen standen, Augen, die ein Heer von schlagkräftigen Riesen auf Abstand halten konnten, Augen auch, denen nicht jeder gemeine Blick fernlag. Von der Kleidung war nur der weiße Hemdkragen mit einem Krawattenknoten zu erkennen, darüber eine Jacke, die sich Gregorius als einen Gehrock vorstellte.

Es war beinahe ein Uhr, als Gregorius aus der Versunkenheit auftauchte, die das Portrait in ihm hervorgerufen hatte. Wiederum war der Kaffee vor ihm kalt geworden. Er wünschte, er könnte die Stimme des Portugiesen hören und sehen, wie er sich bewegte. 1975: Wenn er da Anfang dreißig gewesen war, wie es schien, so war er jetzt etwas über sechzig. Portuges. Gregorius rief sich die Stimme der namenlosen

Portugiesin in Erinnerung und transponierte sie in

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