Nachtzug nach Lissabon - Teil 24
Gesicht mit den Händen. Wenn ihm jemand vor einer Woche, als er, Latein hefte korrigierend, in seiner Berner Wohnung gesessen hatte, prophezeit hätte, er würde sieben Tage später in einem neuen Anzug und mit einer neuen Brille in Lissabon auf einem Boot sitzen, um bei einem gefolterten Opfer des Salazar-Regimes etwas über einen portugiesischen Arzt und Poeten zu erfahren, der seit mehr als dreißig Jahren tot war: er hätte ihn für verrückt gehalten. War das immer noch er, Mundus, der myopische Bücherwurm, der Angst bekommen hatte, nur weil in Bern ein paar Schneeflocken gefallen waren?
Das Boot legte an, und Gregorius ging langsam zum Heim hinüber. Wie würde es mit der Verständigung sein? Sprach Joao Ega neben Portugiesisch noch etwas anderes? Es war Sonntag nachmittag, die Leute machten ihre Besuche im Heim, man erkannte sie schon auf der Straße an den Blumensträußen, die sie bei sich trugen. Auf den schmalen Balkonen des Heims saßen die alten Leute in Decken an der Sonne, die immer wieder hinter Wolken verschwand. Gregorius ließ sich an der Pforte die Zimmernummer geben. Bevor er klopfte, atmete er ein paarmal langsam ein und aus, es war das zweite Mal an diesem Tag, daß er mit pochendem Herzen vor einer Tür stand, ohne zu wissen, was ihn erwartete.
Sein Klopfen blieb unbeantwortet, auch beim zweiten Mal. Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, da hörte er, wie die Tür mit einem leisen Quietschen aufging. Er hatte einen Mann in vernachlässigter Kleidung erwartet, einen, der sich oft gar nicht mehr richtig anzog, sondern im Bademantel vor dem Schachbrett saß. Der Mann, der jetzt lautlos wie ein Geist im Türspalt erschien, war ganz anders. Er trug eine dunkelblaue Strickjacke über einem blütenweißen Hemd mit roter Krawatte, eine Hose mit tadelloser Bügelfalte und glänzende schwarze Schuhe. Die Hände hielt er in den Taschen der Jacke verborgen, der kahle Kopf mit dem wenigen, kurzgeschnittenen Haar über den abstehenden Ohren war leicht zur Seite gedreht wie bei einem, der sich mit dem, was ihm begegnet, nicht befassen mag. Aus grauen, zusammengekniffenen Augen kam ein Blick, der alles, was er traf, zu zerschneiden schien. Joao Ega war alt, und er mochte krank sein, wie seine Nichte gesagt hatte; ein gebrochener Mann war er nicht. Es war besser, dachte Gregorius unwillkürlich, ihn nicht zum Gegner zu haben.
»Senhor Ega?« sagte Gregorius. »Venho da parte de Mariana, a sua sobrinha. Trago este disco. Sonatas de Schubert.« Es waren Worte, die er auf dem Boot nachgeschlagen und sich dann mehrmals vorgesagt hatte.
Ega blieb reglos in der Tür stehen und sah ihn an. Einen solchen Blick hatte Gregorius noch nie aushalten müssen, und nach einer Weile sah er zu Boden. Jetzt zog Ega die Tür ganz auf und machte ihm ein Zeichen einzutreten. Gregorius betrat ein penibel aufgeräumtes Zimmer, in dem es das Nötigste gab und nur das Nötigste. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte er an die luxuriösen Räume, in denen die Ärztin wohnte, und fragte sich, warum sie den Onkel nicht besser untergebracht hatte. Der Gedanke wurde weggewischt von Egas ersten Worten:
»Who are you« Die Worte kamen leise und heiser, und doch besaßen sie Autorität, die Autorität eines Mannes, der alles gesehen hatte und dem man nichts vormachen konnte.
Gregorius, die Platte in der Hand, gab auf Englisch Auskunft über seine Herkunft und seinen Beruf und erklärte, wie er Mariana kennengelernt hatte.
»Warum sind Sie hier? Doch nicht wegen der Platte.«
Gregorius legte die Platte auf den Tisch und holte Atem. Dann zog er Prados Buch aus der Tasche und zeigte ihm das Portrait.
»Ihre Nichte meinte, Sie hätten ihn vielleicht gekannt.«
Nach einem kurzen Blick auf das Bild schloß Ega die Augen. Er schwankte ein bißchen, dann ging er, immer noch mit geschlossenen Augen, hinüber zum Sofa und setzte sich.
»Amadeu«, sagte er in die Stille hinein, und dann noch einmal: »Amadeu. O sacerdote ateu. Der gottlose Priester.«
Gregorius wartete. Ein falsches Wort, eine falsche Geste, und Ega würde kein Wort mehr sagen. Er ging hinüber zum Schachtisch und betrachtete die angefangene Partie. Er mußte es riskieren.
»Hastings 1922. Aljechin schlägt Bogoljubov«, sagte er.
Ega schlug die Augen auf und warf ihm einen erstaunten Blick zu.
»Tartakower wurde einmal gefragt, wen er für den größten Schachspieler halte. Er sagte: >Wenn Schach ein Kampf ist — Lasker; wenn es eine Wissenschaft ist — Capablanca; wenn es eine Kunst ist — Aljechin.<«»Ja«, sagte Gregorius, »das Opfer der beiden Türme ist etwas, das die Phantasie eines Künstlers verrät.«»Klingt nach Neid.«»Ist es auch. Würde mir einfach nicht einfallen.«Auf Egas wettergegerbten, bäurischen Zügen erschien der Anflug eines Lächelns.»Wenn es Sie tröstet: mir auch nicht.«Ihre Blicke kreuzten sich, dann sah jeder vor sich hin. Entweder Ega unternahm jetzt etwas, um das Gespräch fortzusetzen, dachte Gregorius, oder die Begegnung war zu Ende.»Drüben in der Nische ist Tee«, sagte Ega. »Ich hätte auch gerne eine Tasse.«Im ersten Augenblick befremdete es Gregorius, daß er geheißen wurde zu tun, was sonst der Gastgeber tat. Doch dann sah er, wie sich Egas Hände in den Taschen der Strickjacke zu Fäusten ballten, und jetzt begriff er: Er wollte nicht, daß Gregorius seine entstellten und zitternden Hände sah, die bleibenden Male des Schreckens. Und so goß er Tee für beide ein. Aus den beiden Tassen dampfte es. Gregorius wartete. Aus dem Nebenzimmer hörte man das Lachen von Besuchern. Dann war es wieder still.Die lautlose Art, mit der Ega schließlich die Hand aus der Tasche nahm und zur Tasse führte, erinnerte an sein lautlosesErscheinen in der Tür. Er hielt dabei die Augen geschlossen, als glaube er, die entstellte Hand werde dadurch auch für den anderen unsichtbar. Die Hand war übersät von Spuren brennender Zigaretten, zwei Fingernägel fehlten, und sie zitterte wie bei einer Schüttellähmung. Jetzt warf Ega Gregorius einen prüfenden Blick zu: ob er dem Anblick gewachsen sei. Gregorius hielt sein Entsetzen, das ihn wie ein Schwächeanfall durchflutete, in Schach, und er führte seine Tasse ruhig zum Mund.»Meine darf man nur halb füllen.«Ega sagte es leise und gepreßt, und Gregorius sollte diese Worte nie vergessen. Er spürte ein Brennen in den Augen, das Tränen ankündigte, und dann tat er etwas, das die Beziehung zwischen ihm und diesem geschundenen Mann für immer prägen sollte: Er nahm Egas Tasse und goß die Hälfte des heißen Tees in sich hinein.Zunge und Kehle brannten. Es spielte keine Rolle. Ruhig stellte er die halbvolle Tasse zurück und drehte den Henkel hin zu Egas Daumen. Jetzt sah ihn der Mann mit einem langen Blick an, und auch dieser Blick grub sich tief hinein in sein Gedächtnis. Es war ein Blick, in dem sich Ungläubigkeit und Dankbarkeit mischten, eine Dankbarkeit, die nur versuchsweise galt, denn Ega hatte vor langer Zeit aufgegeben, von anderen etwas zu erwarten, für das man dankbar sein konnte. Zitternd führte er die Tasse an die Lippen, wartete einen günstigen Augenblick ab und trank dann in hastigen Schlucken. Es gab ein rhythmisches Klirren, als er die Tasse auf die Untertasse setzte.Jetzt holte er eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche, steckte eine zwischen die Lippen und führte die zitternde Flamme zum Tabak. Er rauchte in tiefen, ruhigen Zügen, und das Zittern wurde weniger. Die Hand mit der Zigarette hielt er so, daß man die fehlenden Fingernägel nicht sah. Die andereHand war wieder in der Jacken tasche verschwunden. Er sah zum Fenster hinaus, als er zu sprechen begann.»Das erstemal bin ich ihm im Herbst 1952 begegnet, in England, im Zug von London nach Brighton. Ich war auf einem Sprachkurs, zu dem mich der Betrieb geschickt hatte, sie wollten, daß ich auch Auslandskorrespondenz lernte. Es war der Sonntag nach der ersten Woche, und ich fuhr nach Brighton, weil ich das Meer vermißte, ich bin an der See aufgewachsen, oben im Norden, in Esposende. Die Abteiltür ging auf, und herein kam dieser Mann mit dem glänzenden Haar, das ihm wie ein Helm auf dem Kopf saß, und mit diesen unglaublichen Augen, kühn, sanft und schwermütig. Er machte mit Fatima, seiner Braut, eine weite Reise. Geld spielte nie eine Rolle für ihn, damals nicht und auch nicht später. Ich erfuhr, daß er Arzt war, einer, den vor allem das Gehirn faszinierte. Beinharter Materialist, der ursprünglich hatte Priester werden wollen. Ein Mann, der zu vielen Dingen eine paradoxe Einstellung hatte, nicht widersinnig, aber paradox.Ich war siebenundzwanzig, er fünf Jahre älter. Er war mir in allem turmhoch überlegen. Jedenfalls empfand ich es auf jener Fahrt so. Er der Sohn aus adligem Lissaboner Hause, ich der Bauernsohn aus dem Norden. Wir verbrachten den Tag zusammen, gingen am Strand spazieren, aßen gemeinsam. Irgendwann kamen wir auf die Diktatur zu sprechen. Deve-mos resjstj'r, wir müssen Widerstand leisten, sagte ich, ich erinnere mich noch heute an die Worte, ich erinnere mich, weil sie mir irgendwie plump vorkamen einem Mann gegenüber, der das feingeschnittene Gesicht eines Poeten hatte und manchmal ein Wort gebrauchte, das ich noch nie gehört hatte.Er schlug die Augen nieder, blickte zum Fenster hinaus, nickte. Ich hatte ein Thema berührt, bei dem er mit sich nicht im reinen war. Es war das falsche Thema für einen Mann, der mit seiner Braut die Welt bereiste. Ich sprach von anderem, doch er war nicht mehr recht bei der Sache und überließ das Gespräch Fatima und mir. >Du hast recht<, sagte er beim Abschied, natürlich hast du recht<. Und es war klar, daß er vom Widerstand sprach.Als ich auf der Rückfahrt nach London an ihn dachte, kam es mir vor, als wäre er, oder ein Teil von ihm, lieber mit mir nach Portugal