▶ JETZT! Kostenlos lesen Bestseller-Bücher online
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
Suche Erweitert
Sign in Sign up
  • HOME
  • BUCH
    • Populäres Buch
    • Bücherliste
    • Genre-Liste
  • BLOG
  • Adult
  • Action
  • Bestseller
  • Romance
  • Fantasy
  • Thrillers
  • Science-fiction

Nachtzug nach Lissabon - Teil 23

  1. Home
  2. Nachtzug nach Lissabon
  3. Teil 23
Prev
Next

um keinen Preis verändern durfte, denn das wäre gewesen, als versuchte einer in prometheischer Anmaßung, die Vergangenheit ihrer Un-verrückbarkeit zu entreißen oder die Naturgesetze umzustürzen.

Was für den Stuhl galt, galt auch für die Gegenstände auf dem Pult, auf dem sich ein sanft ansteigender Aufsatz befand, damit man besser lesen und schreiben konnte. Darauf lag in abenteuerlicher Schieflage ein riesiges, in der Mitte aufgeschlagenes Buch und vor ihm ein Stoß Blätter, das oberste, soweit Gregorius mit angestrengtem Blick ausmachen konnte, nur mit wenigen Worten beschrieben. Sanft strich Adriana mit dem Handrücken über das Holz und berührte jetzt die Tasse aus bläulichem Porzellan, die auf einem kupferroten Tablett stand, zusammen mit einer Zuckerdose voll mit Kandiszucker und einem überfüllten Aschenbecher. Waren diese Dinge ebenso alt? Dreißigjähriger Kaffeesatz? Zigarettenasche, älter als ein Vierteljahrhundert? Die Tinte in der offenen Füllfeder mußte zu feinstem Staub zerfallen oder zu einem schwarzen Klumpen getrocknet sein. Würde die Glühbirne in der reich verzierten Schreibtischlampe mit dem smaragdgrünen Schirm noch brennen?

Es gab etwas, das Gregorius verwunderte, doch es dauerte, bis er es zu fassen bekam: Es lag kein Staub auf den Dingen. Er schloß die Augen, und nun war Adriana nur noch ein Geist mit hörbaren Umrissen, der durch den Raum glitt. Hatte dieser Geist hier regelmäßig Staub gewischt, an elftausend Tagen? Und war dabei grau geworden?

Als er die Augen wieder öffnete, stand Adriana vor einem turmhohen Bücherstapel, der aussah, als könne er jederzeit einstürzen. Sie blickte auf ein dickes, großformatiges Buch hinunter, das oben lag und ein Bild des Gehirns auf dem Umschlag hatte.

»O cerebro, sempre o cerebro«, sagte sie leise und vorwurfsvoll. Das Gehirn, immer das Gehirn. »Porque nao disseste nada.« Warum hast du nichts gesagt?

Jetzt lag Ärger in ihrer Stimme, resignierter Ärger, abgeschliffen von der Zeit und dem Schweigen, mit dem der tote Bruder seit Jahrzehnten darauf antwortete. Er hatte ihr nichts von dem Aneurysma gesagt, dachte Gregorius, nichts von seiner Angst und dem Bewußtsein, daß es jederzeit zu Ende sein konnte. Erst durch die Aufzeichnungen hatte sie davon erfahren. Und war, durch alle Trauer hindurch, wütend gewesen, daß er ihr die Intimität dieses Wissens verweigert hatte.

Jetzt blickte sie hoch und sah Gregorius an, als habe sie ihn vergessen gehabt. Nur langsam fand ihr Geist wieder in die Gegenwart zurück.

»Ach so, ja, kommen Sie«, sagte sie auf französisch und ging mit Schritten, die fester waren als vorhin, zurück zum Schreibtisch, wo sie zwei Schubladen aufzog. Darin lagen dicke Stöße von Blättern, zusammengepreßt zwischen Kartondeckeln und mit rotem Band mehrfach verschnürt.

»Begonnen hat er damit kurz nach Fatimas Tod. >Es ist ein Kampf gegen die innere Lähmung<, sagte er, und einige Wochen später: >Warum bloß habe ich nicht früher damit begonnen! Man ist nicht richtig wach, wenn man nicht schreibt. Und man hat keine Ahnung, wer man ist. Ganz zu schweigen davon, wer man nicht ist.< Niemand durfte es lesen, auch ich nicht. Er zog den Schlüssel ab und trug ihn stets bei sich. Er war ... er konnte sehr mißtrauisch sein.«Sie schob die Schubladen zu. »Ich möchte jetzt allein sein«, sagte sie abrupt, beinahe feindselig, und während sie die Treppen hinunterstiegen, sagte sie kein Wort mehr. Als sie dieHaustür aufgeschlossen hatte, stand sie stumm da, eckig und steif. Sie war keine Frau, der man die Hand gab.»Au revoir et merci«, sagte Gregorius und schickte sich zögernd an zu gehen.»Wie heißen Sie?«Die Frage kam lauter als nötig, ein bißchen klang sie wie ein heiseres Bellen, das ihn an Coutinho erinnerte. Sie wiederholte den Namen: Gregoriusch.»Wo wohnen Sie?«Er nannte ihr das Hotel. Ohne ein Wort des Abschieds schloß sie die Tür und drehte den Schlüssel.14 Auf dem Tejo spiegelten sich die Wolken. In rasendem Tempo jagten sie hinter den sonnenglitzernden Flächen her, glitten darüber, verschluckten das Licht und ließen es statt dessen an anderer Stelle mit stechendem Glanz aus dem Schattendunkel hervorbrechen. Gregorius nahm die Brille ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Der fiebrige Wechsel zwischen gleißender Helligkeit und bedrohlichem Schatten, der mit ungewohnter Schärfe durch die neuen Gläser drang, war eine Marter für die schutzlosen Augen. Vorhin im Hotel, nachdem er aus einem leichten und unruhigen Mittagsschlaf aufgewacht war, hatte er es wieder mit der alten Brille versucht. Doch inzwischen fühlte sich ihre kompakte Schwere störend an, es war, als müsse er mit dem Gesicht eine mühsame Last durch die Welt schieben.Unsicher und sich selbst ein bißchen fremd, hatte er lange auf der Bettkante gesessen und versucht, die verwirrenden Erlebnisse des Vormittags zu entziffern und zu ordnen. Im Traum, durch den eine stumme Adriana mit einem Gesicht von marmorner Blässe gegeistert war, hatte die Farbe Schwarz vorgeherrscht, ein Schwarz, das die befremdliche Eigenschaft gehabt hatte, den Gegenständen - allen Gegenständen - anzuhaften, ganz gleich, was sie sonst für Farben hatten und wie sehr sie in diesen anderen Farben leuchteten. Das Samtband um Adrianas Hals, das bis zum Kinn hinaufreichte, schien sie zu würgen, denn sie zerrte unablässig daran. Dann wieder faßte sie sich mit beiden Händen an den Kopf, und es war weniger der Schädel als das Gehirn, das sie damit zu schützen suchte. Türme von Büchern waren, einer nach dem anderen, eingestürzt, und für einen Moment, in dem sich gespannte Erwartung mit Beklommenheit und dem schlechten Gewissen des Voyeurs mischte, hatte Gregorius an Prados Schreibtisch gesessen, auf dem ein Meer von Versteinerungen lag und mittendrin ein halb beschriebenes Blatt, dessen Zeilen blitzschnell bis zur Unleserlichkeit ausblichen, wenn er seinen Blick darauf richtete.Während er sich dann erinnernd mit diesen Traumbildern beschäftigt hatte, war es ihm manchmal vorgekommen, als habe der Besuch in der blauen Praxis gar nicht wirklich stattgefunden - als sei das Ganze nur ein besonders lebhafter Traum gewesen, innerhalb dessen - als eine Episode sich überschlagender Täuschung — ein Unterschied zwischen Wachen und Träumen vorgetäuscht wurde. Dann hatte auch er sich an den Kopf gefaßt, und wenn er das Gefühl für die Wirklichkeit seines Besuchs wiedergewonnen und die Gestalt von Adriana, aller traumhaften Zusätze entkleidet, ruhig und klar vor sich gesehen hatte, war er die knappe Stunde, die er bei ihr gewesen war, in Gedanken durchgegangen, Bewegung für Bewegung, Wort für Wort. Manchmal hatte er gefroren, wenn er an ihren strengen, bitteren Blick dachte, in dem Unversöhnlichkeit fernen Geschehnissen gegenüberlag. Eine unheimliche Empfindung hatte ihn beschlichen, wenn er sie durch Amadeus Zimmer schweben sah, ganz der vergangenen Gegenwart zugewandt und dem Wahnsinn nahe. Dann wieder hätte er das gehäkelte Tuch sanft um ihren Kopf legen mögen, um dem gemarterten Geist eine Ruhepause zu gönnen.Der Weg zu Amadeu de Prado führte über diese zugleich harte und zerbrechliche Frau, oder besser: er führte durch sie hindurch, durch die dunklen Korridore ihrer Erinnerung. Wollte er das auf sich nehmen? War er dem gewachsen? Er, den die gehässigen Kollegen den Papyrus nannten, weil er mehr in alten Texten als in der Welt gelebt hatte?Es kam darauf an, noch andere Menschen zu finden, die Prado gekannt hatten; nicht nur gesehen, wie Coutinho, und als Arzt erlebt, wie der hinkende Mann und die Greisin von heute morgen, sondern richtig gekannt, als Freund, vielleicht auch als Mitkämpfer im Widerstand. Es würde schwer sein, dachte er, darüber etwas von Adriana zu erfahren; sie betrachtete den toten Bruder als ihr ausschließliches Eigentum, das war spätestens in der Art klargeworden, in der sie, auf das medizinische Buch hinunterblickend, zu ihm gesprochen hatte. Jeden anderen, der das einzig richtige Bild von ihm — welches das ihre war und nur das ihre - in Frage stellen könnte, würde sie verleugnen oder mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten suchen.Gregorius hatte Mariana Egas Nummer herausgesucht und sie dann, nach langen Minuten des Zögerns, angerufen. Ob sie etwas dagegen hätte, wenn er Joao, ihren Onkel, im Heim besuchte? Er wisse jetzt, daß Prado auch im Widerstand gewesen sei, und vielleicht habe Joao ihn gekannt. Eine Weile hatte Schweigen geherrscht, und Gregorius wollte sich gerade für das Ansinnen entschuldigen, da sagte sie nachdenklich:»Ich habe natürlich nichts dagegen, im Gegenteil, ein neues Gesicht würde ihm vielleicht guttun. Ich überlege nur, wie er es aufnehmen würde, er kann sehr schroff sein, und gestern war er noch wortkarger als sonst. Auf keinen Fall dürfen Sie mit der Tür ins Haus fallen.«Sie schwieg.»Ich glaube, ich weiß etwas, das helfen könnte. Ich wollte ihm gestern eine Platte mitbringen, eine neue Einspielung von Schuberts Sonaten. Eigentlich will er am Klavier nur Maria Joao Pires hören, ich weiß nicht, ob es der Klang ist, oder die Frau, oder eine skurrile Form von Patriotismus. Aber diese Platte wird ihm trotzdem gefallen. Ich habe sie dann vergessen mitzunehmen. Sie könnten bei mir vorbeikommen und sie ihm dann bringen. Als Bote in meinem Auftrag sozusagen. Vielleicht haben Sie dann eine Chance.«Er hatte bei ihr Tee getrunken, einen rotgoldenen, dampfenden Assam mit Kandiszucker, und dabei hatte er von Adriana erzählt. Er hätte sich gewünscht, daß sie etwas dazu sagte, aber sie hörte bloß still zu, und nur einmal, als er von der gebrauchten Kaffeetasse und dem vollen Aschenbecher sprach, die anscheinend drei Jahrzehnte überdauert hatten, verengten sich ihre Augen wie bei jemandem, der sich plötzlich auf einer Spur wähnt.»Seien Sie vorsichtig«, sagte sie beim Abschied. »Mit Adriana, meine ich. Und berichten Sie mir, wie es bei Joao war.«Und nun saß er, mit Schuberts Sonaten in der Tasche, auf dem Boot und fuhr hinüber nach Cacilhas zu einem Mann, der durch die Hölle der Folter gegangen war, ohne seinen geraden Blick zu verlieren. Wieder bedeckte Gregorius das

Prev
Next

SIE KÖNNEN AUCH MÖGEN

Das Gewicht der Worte
Das Gewicht der Worte
April 18, 2020
Lea
Lea – Pascal Mercier
April 22, 2020
Der Klavierstimmer
Der Klavierstimmer
April 22, 2020
Perlmanns Schweigen
Perlmanns Schweigen
April 22, 2020
  • HOME
  • Copyright
  • Privacy Policy
  • DMCA Notice
  • ABOUT US
  • Contact Us

© 2019 Das Urheberrecht liegt beim Autor der Bücher. All rights reserved