Nachtzug nach Lissabon - Teil 21
wie es vor vierzig Jahren gewesen war, als Amadeu de Prado die Leute aus dem Viertel behandelt hatte. Es lag Verehrung in ihren Stimmen, eine Verehrung, wie man sie jemandem entgegenbringt, der weit über einem selbst steht. Doch daneben füllte noch ein anderes Gefühl den
Raum, das Gregorius nur allmählich als eine Scheu erkannte, wie sie einem lange zurückliegenden Vorwurf entspringt, den man lieber leugnen möchte, ohne ihn jedoch ganz aus dem Gedächtnis tilgen zu können. Jetzt mieden ihn die Leute. Das hat ihm das Herz gebrochen, hörte er Coutinho sagen, nachdem er erzählt hatte, wie Prado Rui Luis Mendes, den Schlächter von Lissabon, gerettet hatte.
Jetzt zog der Mann ein Hosenbein hoch und zeigte Gregorius eine Narbe. »Eie fez isto«, hat er gemacht, sagte er und fuhr mit der nikotingelben Fingerspitze darüber. Die Frau rieb sich mit ihren runzligen Fingern die Schläfen und machte dann die Geste des Davonfliegens: Prado hatte ihre Kopfschmerzen zum Verschwinden gebracht. Und dann zeigte auch sie eine kleine Narbe an einem Finger, wo wahrscheinlich eine Warze gewesen war.
Wenn sich Gregorius später manchmal fragte, was es gewesen war, das den Ausschlag gegeben und ihn schließlich an der blauen Tür hatte läuten lassen, so kamen ihm stets diese Gesten der beiden Menschen in den Sinn, an deren Körpern der verehrte, später verfemte und schließlich von neuem verehrte Arzt Spuren hinterlassen hatte. Es war gewesen, als wären seine Hände von neuem lebendig geworden.
Jetzt ließ sich Gregorius den Weg zu Prados ehemaliger Praxis beschreiben und verließ die beiden dann. Kopf an Kopf blickten sie ihm aus dem Fenster nach, und es kam ihm vor, als läge Neid in ihren Blicken, ein paradoxer Neid darüber, daß er etwas tun konnte, was ihnen nicht mehr möglich war: Ama-deu de Prado ganz neu kennenzulernen, indem er sich den Weg in seine Vergangenheit hinein bahnte.
War es möglich, daß der beste Weg, sich seiner selbst zu vergewissern, darin bestand, einen anderen kennen und verstehen zu lernen? Einen, dessen Leben ganz anders verlaufen war und eine ganz andere Logik besessen hatte als das eigene? Wie paßte die Neugierde auf ein anderes Leben zu dem Bewußtsein, daß die eigene Zeit ablief?
Gregorius stand an der Theke einer kleinen Bar und trank einen Kaffee. Es war schon das zweite Mal, daß er hier stand. Vor einer Stunde war er auf die Rua Luz Soriano gestoßen und hatte nach wenigen Schritten vor Prados blauer Praxis gestanden, einem dreistöckigen Haus, das einmal wegen der blauen Kacheln insgesamt blau wirkte, aber viel mehr noch, weil sämtliche Fenster von hohen Rundbögen überwölbt wurden, die mit leuchtendem Ultramarin ausgemalt waren. Der Anstrich war alt, die Farbe bröckelte, und es gab feuchte Stellen, an denen schwarzes Moos wucherte. Auch an den schmiedeeisernen Gittern unterhalb der Fenster bröckelte die blaue Farbe. Nur die blaue Eingangstür hatte einen makellosen Anstrich, als habe jemand sagen wollen: Sie ist, worauf es ankommt.
Die Klingel war ohne Namensschild. Mit pochendem Herzen hatte Gregorius die Tür mit dem Messingklopfer betrachtet. Als läge meine ganze Zukunft hinter dieser Tür, hatte er gedacht. Dann war er ein paar Häuser weiter in die Bar gegangen und hatte gegen das bedrohliche Gefühl angekämpft, daß er dabei war, sich zu entgleiten. Er hatte auf die Uhr gesehen: Vor sechs Tagen war es gewesen, daß er um diese Zeit im Klassenzimmer den feuchten Mantel vom Haken genommen hatte und aus seinem so sicheren, übersichtlichen Leben davongelaufen war, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hatte in die Tasche dieses Mantels gegriffen und nach dem Schlüssel zu seiner Berner Wohnung getastet. Und plötzlich hatte ihn, so heftig und körperlich spürbar wie ein Anfall von Heißhunger, das Bedürfnis überfallen, in einem griechischen oder hebräischen Text zu lesen; die fremden, schönen Buchstaben vor sich zu sehen, die für ihn auch nach vierzig Jahren nichts von ihrer orientalischen, märchenhaften Eleganz verloren hatten; sich zu vergewissern, daß er im Laufe der sechs verwirrenden Tage nichts von der Fähigkeit verloren hatte, alles zu verstehen, was sie ausdrücken sollten.
Im Hotel lag das Neue Testament, griechisch und portugiesisch, das Coutinho ihm geschenkt hatte; doch das Hotel war zu weit, es ging darum, daß er hier und jetzt lesen konnte, unweit des blauen Hauses, das ihn zu verschlucken drohte, noch bevor sich die Tür geöffnet hatte. Hastig hatte er bezahlt und sich auf die Suche nach einer Buchhandlung gemacht, wo er solche Texte würde finden können. Doch es war Sonntag, und das einzige, was er fand, war eine geschlossene kirchliche Buchhandlung mit Büchern im Schaufenster, die griechische und hebräische Titel trugen. Er hatte die Stirn an die nebelfeuchte Scheibe gelehnt und gespürt, wie ihn wieder einmal die Versuchung überkam, zum Flughafen zu fahren und mit der nächsten Maschine nach Zürich zu fliegen. Erleichtert hatte er wahrgenommen, daß es ihm gelang, den bedrängenden Wunsch wie ein anbrandendes und wieder zurückweichendes Fieber zu erleben und geduldig vorübergehen zu lassen, und schließlich war er langsam zur Bar in der Nähe des blauen Hauses zurückgegangen.
Jetzt holte er Prados Buch aus der Tasche seiner neuen Jacke und betrachtete das kühne, unerschrockene Gesicht des Portugiesen. Ein Arzt, der seinen Beruf mit steinerner Konsequenz ausgeübt hatte. Ein Widerstandskämpfer, der unter Lebensgefahr eine Schuld abzutragen versuchte, die keine war. Ein Goldschmied der Worte, dessen tiefste Leidenschaft gewesen war, die schweigsamen Erfahrungen des menschlichen Lebens ihrer Stummheit zu entreißen.
Plötzlich überfiel Gregorius die Angst, es könnte inzwischen jemand ganz anderes in dem blauen Haus wohnen. Hastig legte er die Münzen für den Kaffee auf die Theke und ging mit raschen Schritten hinüber zu dem Haus. Vor der blauen
Tür atmete er zweimal tief ein und ließ die Luft ganz langsam aus der Lunge entweichen. Dann drückte er auf die Klingel.
Ein schepperndes Läuten, das klang, als käme es aus mittelalterlicher Ferne, hallte übertrieben laut durch das Haus. Nichts geschah. Kein Licht, keine Schritte. Wiederum zwang sich Gregorius zur Ruhe, dann klingelte er ein zweites Mal. Nichts. Er drehte sich um und lehnte sich erschöpft gegen die Tür. Er dachte an seine Wohnung in Bern. Er war froh, daß es vorbei war. Langsam schob er Prados Buch in die Manteltasche und berührte dabei das kühle Metall des Wohnungsschlüssels. Dann löste er sich von der Tür und schickte sich an wegzugehen.
In diesem Augenblick hörte er innen Schritte. Jemand kam die Treppe herunter. Hinter einem Fenster war ein Lichtschein zu erkennen. Die Schritte näherten sich der Tür.
»Quem e?«rief eine dunkle, heisere Frauenstimme.
Gregorius wußte nicht, was er sagen sollte. Schweigend wartete er. Sekunden verrannen. Dann wurde ein Schlüssel im Schloß gedreht, und die Tür ging auf.
ZWEITER TEIL Die Begegnung
13 Die große, ganz in Schwarz gekleidete Frau, die vor ihm stand, schien in ihrer strengen, nonnenhaften Schönheit einer griechischen Tragödie zu entstammen. Das bleiche, hagere Gesicht wurde von einem gehäkelten Kopftuch umrahmt, das sie mit einer Hand unter dem Kinn zusammenhielt, einer schlanken, knochigen Hand mit hervortretenden, dunklen Venen, die deutlicher als die Gesichtszüge das hohe Alter verrieten. Aus tiefliegenden Augen, die wie schwarze Diamanten leuchteten, musterte sie Gregorius mit bitterem Blick, der von Entbehrungen sprach, von Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, mit einem Blick, der wie eine mosaische Mahnung an all diejenigen war, deren Leben darin bestand, sich widerstandslos treiben zu lassen. Diese Augen konnten in Flammen stehen, dachte Gregorius, wenn sich jemand dem stummen, unbeugsamen Willen dieser Frau entgegenstellte, die sich kerzengerade hielt und den Kopf ein bißchen höher trug, als es ihre Größe eigentlich erlaubte. Eine eisige Glut ging von ihr aus, und Gregorius hatte keine Ahnung, wie er vor ihr bestehen sollte. Er wußte nicht einmal mehr, was »Guten Tag« auf portugiesisch hieß.
»Bonjour«, sagte er heiser, als ihn die Frau auch weiterhin nur stumm anblickte, und dann holte er aus der Manteltasche Prados Buch, schlug es beim Portrait auf und zeigte es ihr.
»Ich weiß, daß dieser Mann, ein Arzt, hier gelebt und gearbeitet hat«, fuhr er auf französisch fort. »Ich … ich wollte sehen, wo er gewohnt hat, und mit jemandem sprechen, der ihn gekannt hat. Es sind so eindrucksvolle Sätze, die er da geschrieben hat. Weise Sätze. Wundervolle Sätze. Ich möchte wissen, wie der Mann war, der solche Sätze schreiben konnte. Wie es war, mit ihm zusammenzusein.«
Die Veränderung in dem strengen, weißen Gesicht der Frau, das durch das Schwarz des Kopftuchs zu einem matten Leuchten gebracht wurde, war kaum wahrzunehmen. Nur jemand mit der besonderen Wachheit, die Gregorius in diesem Augenblick besaß, konnte erkennen, daß sich die straffen Züge ein kleines bißchen — eine Winzigkeit nur — entspannten und der Blick eine Spur von seiner abweisenden Schärfe verlor. Doch sie blieb stumm, und die Zeit begann sich zu dehnen.
»Pardonnez-moi, je ne voulais pas …«, begann Gregorius jetzt, machte zwei Schritte von der Tür weg und nestelte an seiner Manteltasche, die mit einemmal zu klein schien, um das Buch wieder aufzunehmen. Er wandte sich zum Gehen.
»Attendez!« sagte die Frau. Die Stimme klang jetzt weniger gereizt und wärmer als vorhin hinter der Tür. Und in dem französischen Wort schwang der gleiche Akzent wie in der Stimme der namenlosen Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke. Trotzdem klang es wie ein Befehl, dem man sich nicht zu widersetzen traute, und Gregorius dachte an Coutinhos Äußerung über die herrische Art, mit der Adriana die Patienten behandelt hatte. Er wandte sich ihr wieder zu, das sperrige Buch immer noch in der Hand.
»Entrez«, sagte die Frau, trat von der Tür zurück und wies mit der Hand zu der Treppe nach oben. Sie schloß die Tür mit einem großen Schlüssel ab, der aus einem anderen Jahrhundert zu