Nachtzug nach Lissabon - Teil 2
manchen Lehrstuhlinhaber für das Alte Testament in Erstaunen versetzt hatte. Wenn ihr einen wahren Gelehrten sehen wollt, pflegte der Rektor zu sagen, wenn er ihn einer neuen Klasse vorstellte: Hier ist er.
Und dieser Gelehrte, dachte Gregorius jetzt, dieser trockene Mann, der einigen nur aus toten Wörtern zu bestehen schien und der von Kollegen, die ihm seine Beliebtheit neideten, gehässig der Papyrus genannt wurde – dieser Gelehrte würde mit einer Telefonnummer den Raum betreten, die ihm eine verzweifelte, offenbar zwischen Wut und Liebe hin- und hergerissene Frau auf die Stirn gemalt hatte, eine Frau in einem roten Ledermantel und mit einem märchenhaft weichen, südländischen Tonfall, der wie ein endlos in die Länge gezogenes Flüstern klang, das einen schon durch das bloße Anhören zum Komplizen machte.
Als Gregorius ihr das Handtuch gebracht hatte, klemmte die Frau einen Kamm zwischen die Zähne und frottierte mit dem Tuch das lange schwarze Haar, das in dem Mantelkragen lag wie in einer Schale. Der Hausmeister betrat die Halle und warf, als er Gregorius sah, einen verwunderten Blick auf die Uhr über dem Ausgang und dann auf seine Armbanduhr. Gregorius nickte ihm zu, wie er es immer tat. Eine Schülerin hastete an ihnen vorbei, drehte sich im Lauf zweimal um und lief weiter.
»Ich unterrichte dort oben«, sagte Gregorius zu der Frau und zeigte durchs Fenster hinauf zu einem anderen Gebäudeteil. Sekunden verrannen. Er spürte seinen Herzschlag. »Wollen Sie mitkommen?«
Gregorius konnte später nicht glauben, daß er das wirklich gesagt hatte; aber es mußte wohl so gewesen sein, denn auf einmal gingen sie nebeneinander auf das Klassenzimmer zu, er hörte das Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Linoleum und das Klacken der Stiefeletten, wenn die Frau den Fuß aufsetzte.
»Was ist Ihre Muttersprache?« hatte er sie vorhin gefragt.
»Portuges«, hatte sie geantwortet.
Das o, das sie überraschend wie ein u aussprach, die ansteigende, seltsam gepreßte Helligkeit des e und das weiche sch am Ende fügten sich für ihn zu einer Mélodie, die viel länger klang, als sie wirklich war, und die er am liebsten den ganzen Tag lang gehört hätte.
»Warten Sie«, sagte er jetzt, holte sein Notizbuch aus der Jacke und riß ein Blatt heraus: »Für die Nummer.«
Er hatte schon die Hand auf der Klinke, da bat er sie, das Wort von vorhin noch einmal zu sagen. Sie wiederholte es, und da sah er sie zum erstenmal lächeln.
Das Schwatzen brach schlagartig ab, als sie das Klassenzimmer betraten. Eine Stille, die ein einziges Staunen war, füllte den Raum. Gregorius erinnerte sich später genau: Er hatte diese überraschte Stille, diese sprachlose Ungläubigkeit, die aus jedem einzelnen Gesicht sprach, genossen, und er hatte auch seine Freude darüber genossen, daß es ihm möglich war, auf eine Weise zu empfinden, die er sich nicht zugetraut hätte.
Was ist denn jetzt los? Die Frage sprach aus jedem einzelnen der gut zwanzig Blicke, die auf das sonderbare Paar an der Tür fielen, auf Mundus, der mit nasser Glatze und regendunklem Mantel neben einer notdürftig gekämmten Frau mit bleichem Gesicht stand.
»Vielleicht dort?« sagte Gregorius zu der Frau und deutete auf den leeren Stuhl hinten in der Ecke. Dann ging er nach vorn, grüßte wie gewohnt und setzte sich hinters Pult. Er hatte keine Ahnung, was er zur Erklärung hätte sagen können, und so ließ er einfach den Text übersetzen, an dem sie gerade arbeiteten. Die Übersetzungen kamen zögernd, und er fing manch neugierigen Blick auf. Auch verwirrte Blicke gab es, denn er — er, Mundus, der jeden Fehler noch im Schlaf erkannte — ließ reihenweise Fehler, Halbheiten und Unbeholfen-heiten durchgehen.
Es gelang ihm zu tun, als blickte er nicht zu der Frau hinüber. Und doch sah er sie in jeder Sekunde, er sah die feuchten Strähnen, die sie aus dem Gesicht strich, die weißen Hände, die sich ineinander krampften, den abwesenden, verlorenen Blick, der zum Fenster hinausging. Einmal holte sie den Stift hervor und schrieb die Telefonnummer auf den Zettel. Dann lehnte sie sich wieder zurück und schien kaum mehr zu wissen, wo sie war.
Es war eine unmögliche Situation, und Gregorius schielte auf die Uhr: noch zehn Minuten bis zur Pause. Da erhob sich die Frau und ging leise zur Tür. Im Türspalt drehte sie sich zu ihm um und legte den Finger an die Lippen. Er nickte, und lächelnd wiederholte sie die Geste. Dann fiel die Tür mit einem leisen Schnappen ins Schloß.
Von diesem Augenblick an hörte Gregorius nichts mehr von dem, was die Schüler sagten. Ihm war, als sei er ganz allein und von einer betäubenden Stille umschlossen. Irgendwann stand er am Fenster und folgte der roten Frauengestalt mit dem Blick, bis sie um die Häuserecke verschwunden war. Er spürte, wie die Anstrengung in ihm nachhallte, die es ihn gekostet hatte, ihr nicht nachzulaufen. Immer wieder sah er den Finger an ihren Lippen, der so vieles bedeuten konnte: Ich will nicht stören, und: Es bleibt unser Geheimnis, aber auch: Lassen Sie mich jetzt gehen, es kann keine Fortsetzung geben.
Als es zur Pause klingelte, blieb er am Fenster stehen. Hinter ihm gingen die Schüler ungewohnt leise aus dem Zimmer. Später ging auch er hinaus, verließ das Gebäude durch den Hintereingang und setzte sich auf der anderen Straßenseite in die Landesbibliothek, wo ihn niemand suchen würde.
Zum zweiten Teil der Doppelstunde war er pünktlich wie immer. Er hatte die Zahlen von der Stirn gerieben, sie nach einer Minute des Zögerns im Notizbuch festgehalten und dann den schmalen Kranz von grauem Haar getrocknet. Nur die feuchten Flecke auf Jacke und Hose verrieten noch, daß es etwas Ungewöhnliches gegeben hatte. Jetzt nahm er den Stoß durchnäßter Hefte aus der Aktentasche.
»Ein Malheur«, sagte er knapp. »Ich bin gestolpert, und da sind sie herausgerutscht, in den Regen. Die Korrekturen dürften trotzdem noch lesbar sein; sonst müßt ihr mit Konjekturen arbeiten.«
So kannten sie ihn, und hörbare Erleichterung ging durch den Raum. Ab und zu noch fing er einen neugierigen Blick auf, und auch ein Rest von Scheu war bei einigen in der Stimme. Sonst war alles wie früher. Er schrieb die häufigsten Fehler an die Tafel. Dann ließ er die Schüler still für sich arbeiten.
Konnte man, was in der nächsten Viertelstunde mit ihm geschah, eine Entscheidung nennen? Gregorius sollte sich die Frage später immer wieder stellen, und nie war er sicher. Doch wenn es keine Entscheidung war – was war es dann?
Es begann damit, daß er die auf ihre Hefte blickenden, nach vorne gebeugten Schüler auf einmal betrachtete, als sähe er sie zum erstenmal.
Lucien von Graffenried, der beim alljährlichen Schachturnier in der Aula, bei dem Gregorius simultan gegen ein Dutzend Schüler spielte, eine Figur heimlich verrückt hatte. Nach den Zügen an den anderen Brettern hatte Gregorius wieder vor ihm gestanden. Er merkte es sofort. Ruhig sah er ihn an. Flammende Röte überzog Luciens Gesicht. »Das hast du doch nicht nötig«, sagte Gregorius, und dann sorgte er dafür, daß diese Partie Remis ausging.
Sarah Winter, die morgens um zwei vor seiner Wohnungstür gestanden hatte, weil sie nicht wußte, was sie mit ihrer Schwangerschaft machen sollte. Er hatte Tee gekocht und zugehört, sonst nichts. »Ich bin so froh, daß ich Ihrem Rat gefolgt bin«, sagte sie eine Woche später, »es wäre viel zu früh gewesen für ein Kind.«
Beatrice Lüscher mit der ebenmäßigen, gestochenen Schrift, die unter der Last ihrer stets perfekten Leistungen erschrek-kend schnell alt wurde. Rene Zingg, stets an der untersten Notengrenze.
Und natürlich Natalie Rubin. Ein Mädchen, das mit seiner Gunst geizte und ein bißchen war wie ein höfisches Fräulein aus vergangenen Jahrhunderten, unnahbar, umschwärmt und gefürchtet wegen ihrer spitzen Zunge. Vergangene Woche war sie nach dem Pausenzeichen aufgestanden, hatte sich gestreckt wie jemand, der sich in seinem Körper wohl fühlt, und hatte ein Bonbon aus der Rocktasche geholt. Auf dem Weg zur Tür packte sie es aus, und als sie an ihm vorbeikam, führte sie es zum Mund. Es hatte gerade die Lippen berührt, da brach sie die Bewegung ab, drehte sich zu ihm, hielt ihm das knallrote Bonbon hin und fragte: »Möchten Sie?« Belustigt über seine Verblüffung hatte sie ihr seltenes, helles Lachen gelacht und dafür gesorgt, daß ihre Hand die seine berührte.
Gregorius ging sie alle durch. Zuerst kam es ihm vor, als zöge er nur eine Zwischenbilanz seiner Gefühle für sie. In der Mitte der Bankreihen dann merkte er, daß er immer häufiger dachte: Wieviel Leben sie noch vor sich haben; wie offen ihre Zukunft noch ist; was noch alles mit ihnen passieren kann; was sie noch alles erleben können!
Portuges. Er hörte die Melodie und sah das Gesicht der Frau, wie es mit geschlossenen Augen hinter dem frottierenden Handtuch aufgetaucht war, weiß wie Alabaster. Ein letztes Mal ließ er den Blick über die Köpfe der Schüler hinweggleiten. Dann erhob er sich langsam, ging zur Tür, wo er den feuchten Mantel vom Haken nahm, und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Zimmer.
Seine Aktentasche mit den Büchern, die ihn ein Leben lang begleitet hatten, war auf dem Pult zurückgeblieben. Oben an der Treppe hielt er inne und dachte daran, wie er die Bücher alle paar Jahre von neuem zum Binden gebracht hatte, immer in demselben Geschäft, wo man über die abgegriffenen, mürben Seiten lachte, die sich beinahe schon wie Löschpapier anfühlten. Solange die Tasche auf dem Pult lag, würden die Schüler annehmen, er käme wieder. Doch das war nicht der Grund, warum er die Bücher hatte liegenlassen und warum er jetzt der Versuchung widerstand, sie doch noch zu holen. Wenn er jetzt ging, dann mußte er auch von diesen Büchern weggehen. Das spürte er