Nachtzug nach Lissabon - Teil 19
ihm Rauheit aufblitzen. Etwa wenn er fluchte oder wenn er heftig an der Zigarette zog. Die dunklen Bartstoppeln und das dichte schwarze Haar auf den Unterarmen wirkten in solchen Momenten wild und unbezähmbar.
Er hielt es also für selbstverständlich, daß die Wahrnehmung der anderen ihn verfehlte. War es möglich, daß einem das gar nichts ausmachte? Und war das mangelnde Sensibilität? Oder erstrebenswerte innere Unabhängigkeit? Es begann zu dämmern, als Gregorius schließlich einschlief.
11 Das kann nicht sein, das ist unmöglich. Gregorius nahm die neue, federleichte Brille ab, rieb sich die Augen und setzte sie wieder auf. Es war möglich: Er sah besser als jemals zuvor. Das galt besonders für die obere Hälfte der Gläser, durch die er in die Welt hinausblickte. Die Dinge schienen ihn förmlich anzuspringen, es war, als drängten sie sich danach, seinen Blick auf sich zu ziehen. Und da er nicht mehr das bisherige Gewicht auf der Nase spürte, das die Brille zu einem schützenden Bollwerk gemacht hatte, schienen sie in ihrer neuen Klarheit aufdringlich, ja bedrohlich. Ein bißchen machten ihn die neuen Eindrücke auch schwindlig, und er nahm die Brille wieder ab. Über Cesar Santarems mürrisches Gesicht huschte ein Lächeln.
»Und jetzt wissen Sie nicht, ob die alte oder die neue besser ist«, sagte er.
Gregorius nickte und stellte sich vor den Spiegel. Das schmale, rötliche Gestell und die neuen Gläser, die nicht mehr wie martialische Barrieren vor seinen Augen wirkten, machten einen anderen aus ihm. Einen, dem sein Aussehen wichtig war. Einen, der elegant aussehen wollte, chic. Gut, das war eine Übertreibung; aber trotzdem. Santarems Assistentin, die ihm das Gestell aufgeschwatzt hatte, machte aus dem Hintergrund eine anerkennende Geste. Santarem sah es. »Tem razäo«, sagte er, sie hat recht. Gregorius spürte Wut in sich aufsteigen. Er setzte die alte Brille auf, ließ die neue einpacken und zahlte schnell.
Zu Mariana Egas Praxis im Alfama-Viertel war es eine halbe Stunde zu Fuß. Gregorius brauchte vier Stunden. Es begann damit, daß er sich jedesmal, wenn er eine Bank fand, setzte und die Brillen wechselte. Mit den neuen Gläsern war die Welt größer, und der Raum besaß zum erstenmal wirklich drei Dimensionen, in die hinein sich die Dinge ungehindert ausdehnen konnten. Der Tejo war nicht mehr eine vage Fläche von bräunlicher Farbe, sondern ein Fluß, und das Castelo de Säo Jorge ragte in drei Richtungen in den Himmel hinein, wie eine richtige Burg. Doch so war die Welt anstrengend. Zwar ging es sich mit dem leichten Gestell auf der Nase auch leichter, die schweren Schritte, die er gewohnt war, paßten nicht mehr zu der neuen Leichtigkeit im Gesicht. Aber die Welt war näher und bedrängender, sie verlangte mehr von einem, ohne daß klar war, worin ihre Forderungen bestanden. Wurden sie ihm zuviel, diese undurchsichtigen Forderungen, zog er sich hinter die alten Gläser zurück, die alles auf Abstand hielten und ihm den Zweifel erlaubten, ob es jenseits von Worten und Texten überhaupt eine Außenwelt gab, einen Zweifel, der ihm lieb und teuer war und ohne den er sich das Leben eigentlich gar nicht vorstellen konnte. Aber vergessen konnte er den neuen Blick auch nicht mehr, und in einem kleinen Park holte er Prados Aufzeichnungen hervor und probierte, wie es mit dem Lesen war.
O verdadeiro encenador da nossa vida e o acaso — um encena-dor cheio de crueldade, misericordia e encanto cativante. Gregorius traute seinen Augen nicht: So mühelos hatte er noch keinen von Prados Sätzen verstanden: Der wirkliche Regisseur unseres Lebens ist der Zufall — ein Regisseur voll der Grausamkeit, der Barmherzigkeit und des bestrickenden Charmes. Er schloß die Augen und gab sich der süßen Illusion hin, die neuen Brillengläser würden ihm auch jeden anderen Satz des
Portugiesen auf diese Weise zugänglich machen — als seien sie ein märchenhaftes, magisches Instrument, das über die äußeren Konturen der Wörter hinaus auch ihre Bedeutung sichtbar machte. Er faßte an die Brille und rückte sie zurecht. Er begann sie zu mögen.
Ich möchte wissen, ob ich es richtig gemacht habe — das waren die Worte der Frau mit den großen Augen und der schwarzen Samtjacke gewesen; Worte, die ihn überrascht hatten, weil sie wie die eines strebsamen Schulmädchens mit wenig Selbstvertrauen geklungen hatten, was gar nicht zu der Sicherheit paßte, die sie ausstrahlte. Gregorius sah einem Mädchen auf Rollschuhen nach. Hätte der Rollschuhfahrer vom ersten Abend den Ellbogen ein kleines, ein winziges bißchen anders geführt — knapp an seiner Schläfe vorbei —, so wäre er jetzt nicht zu dieser Frau unterwegs, hin- und hergerissen zwischen einem unmerklich verschleierten und einem grellklaren Blickfeld, das der Welt diese unwirkliche Wirklichkeit verlieh.
In einer Bar trank er einen Kaffee. Es war Mittagszeit, der Raum füllte sich mit gutgekleideten Männern aus einem Bürohaus nebenan. Gregorius betrachtete sein neues Gesicht im Spiegel, dann die ganze Gestalt, wie die Ärztin sie nachher sehen würde. Die ausgebeulte Kordhose, der grobe Rollkragenpullover und die alte Windjacke stachen ab gegenüber den vielen taillierten Jacketts, den farblich abgestimmten Hemden und Krawatten. Und auch zur neuen Brille paßten sie nicht; überhaupt nicht. Es ärgerte Gregorius, daß ihn der Kontrast störte, von Schluck zu Schluck wurde er wütender darüber. Er dachte daran, wie ihn der Kellner im Hotel Bellevue am Morgen seiner Flucht gemustert hatte, und wie ihm das nichts ausgemacht hatte, im Gegenteil, er hatte das Gefühl gehabt, sich mit seinem schäbigen Aussehen gegen die hohle Eleganz der Umgebung zu behaupten. Wo war diese Sicherheit geblieben? Er setzte die alte Brille auf, zahlte und ging.
Hatten die noblen Häuser neben und gegenüber der Praxis von Mariana Ega wirklich auch bei seinem ersten Besuch dagestanden? Gregorius setzte die neue Brille auf und sah sich um. Ärzte, Rechtsanwälte, eine Weinfirma, eine afrikanische Botschaft. Er schwitzte unter dem dicken Pullover, gleichzeitig spürte er im Gesicht den kalten Wind, der den Himmel leergefegt hatte. Hinter welchem Fenster lag das Behandlungszimmer?
Wie gut man sieht, hängt von so vielen Dingen ab, hatte sie gesagt. Es war Viertel vor zwei. Konnte er um diese Zeit einfach hinaufgehen? Er ging einige Straßen weiter und blieb vor einem Geschäft für Herrenbekleidung stehen. Du könntest dir ruhig mal was Neues zum Anziehen kaufen. Die Schülerin Florence, das Mädchen in der ersten Reihe, hatte die Gleichgültigkeit seinem Äußeren gegenüber anziehend gefunden. Der Ehefrau war sie bald auf die Nerven gegangen, diese Einstellung. Schließlich lebst du nicht allein. Und dafür reicht Griechisch nicht. In den neunzehn Jahren, in denen er nun wieder allein gelebt hatte, war er nur zwei-, dreimal in einem Kleidergeschäft gewesen. Er hatte es genossen, daß ihm niemand einen Vorwurf machte. Waren neunzehn Jahre Trotz genug? Zögernd betrat er das Geschäft.
Die beiden Verkäuferinnen gaben sich alle erdenkliche Mühe mit ihm, dem einzigen Kunden, und am Ende holten sie noch den Geschäftsführer. Stets von neuem sah sich Gregorius im Spiegel: zuerst in Anzügen, die einen Bankier aus ihm machten, einen Opernbesucher, einen Lebemann, einen Professor, einen Buchhalter; später in Jacken, die vom zweireihigen Blazer bis zum Sportsakko reichten, das an einen Ausritt im Schloßpark denken ließ; schließlich in Ledersachen. Von all den begeisterten portugiesischen Sätzen, die auf ihn niederprasselten, verstand er keinen einzigen, und er schüttelte nur immer wieder den Kopf. Schließlich verließ er das Ge-schäft in einem Anzug aus grauem Kord. Unsicher betrachtete er sich einige Häuser weiter in einem Schaufenster. Paßte der feine weinrote Rollkragenpullover, den er sich hatte aufdrängen lassen, zum Rot des neuen Brillengestells?
Ganz plötzlich dann verlor Gregorius die Nerven. Mit schnellen, wütenden Schritten ging er zum Toilettenhäuschen auf der anderen Straßenseite und zog sich wieder die alten Sachen an. Als er an einer Einfahrt vorbeikam, hinter der sich ein Berg von Schrott türmte, stellte er die Tüte mit den neuen Kleidern ab. Dann ging er langsam in die Richtung, in der die Ärztin wohnte.
Kaum hatte er ihr Haus betreten, hörte er oben die Tür gehen, und dann sah er sie in wehendem Mantel herunterkommen. Jetzt wünschte er, den neuen Anzug anbehalten zu haben.
»Ach, Sie sind’s«, sagte sie und fragte, wie es ihm mit der neuen Brille gehe.
Während er erzählte, trat sie auf ihn zu, faßte an die Brille und prüfte, ob sie richtig saß. Er roch ihr Parfüm, eine Strähne ihres Haars streifte sein Gesicht, und einen winzigen Augenblick lang verschmolz ihre Bewegung mit derjenigen von Florence, als sie ihm das erstemal die Brille abgenommen hatte. Als er von der unwirklichen Wirklichkeit sprach, die die Dinge auf einmal hatten, lächelte sie und sah dann auf die Uhr.
»Ich muß auf die Fähre, einen Besuch machen.« Etwas in seinem Gesicht mußte sie stutzig gemacht haben, denn sie hielt mitten in der Bewegung des Weggehens inne. »Waren Sie schon einmal auf dem Tejo? Möchten Sie mitkommen?«
An die Autofahrt hinunter zur Fähre erinnerte sich Gregorius später nicht mehr. Nur daran, daß sie mit einer einzigen flüssigen Bewegung in eine Parklücke hineingefahren waren, die viel zu klein erschien. Dann saßen sie auf dem oberen Deck der Fähre, und Mariana Ega erzählte von dem Onkel, den sie besuchen wollte, dem Bruder ihres Vaters.
Joao Ega lebte drüben in Cacilhas in einem Pflegeheim, sprach kaum ein Wort und spielte den ganzen Tag berühmte Schachpartien nach. Er war Buchhalter in einem großen Betrieb gewesen, ein bescheidener, unscheinbarer, beinahe unsichtbarer Mann. Niemand konnte auf die Idee kommen, er arbeite für den Widerstand. Die Tarnung war perfekt. Er war siebenundvierzig, als Salazars Schergen ihn holten. Als Kommunist wurde er wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Jahre später holte ihn Mariana, die Lieblingsnichte, vor dem Gefängnis ab.
»Das war im Sommer 1974, wenige Wochen