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Nachtzug nach Lissabon - Teil 17

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die Lippen. Während er den Rauch des ersten Zuges ausatmete, wanderte sein Blick und blieb schließlich an mir haften. Wir Menschen: was wissen wir voneinander?, dachte ich und tat- um seinem gespiegelten Blick nicht begegnen zu müssen —, als könnte ich die Auslage im Fenster mühelos erkennen. Der Fremde sah einen hageren Mann mit angegrautem Haar, einem schmalen, strengen Gesicht und dunklen Augen hinter runden Gläsern, in Gold gefaßt. Ich warf einen prüfenden Blick auf mein Spiegelbild. Wie immer stand ich mit meinen ek-kigen Schultern gerader als gerade, den Kopf weiter oben, als meine Größe es eigentlich erlaubte, dazu war er eine Spur nach hinten geneigt, und es war unzweifelhaft richtig, was selbst diejenigen sagten, die mich mochten: Ich sah aus wie ein hochmütiger Menschenverächter, der alles Menschliche geringachtete, ein Misanthrop, der für alles und jeden eine spöttische Bemerkung bereithielt. Das war der Eindruck, den der rauchende Mann gewinnen mußte.

Wie sehr er sich täuschte! Manchmal nämlich denke ich: Ich stehe und gehe deshalb so übertrieben gerade, um gegen den unwiderruflich gekrümmten Leib meines Vaters zu protestieren, gegen seine Qual, von der Bechterevschen Krankheit niedergedrückt zu werden, den Blick zu Boden richten zu müssen wie ein geschundener Knecht, der sich nicht traut, dem Herrn erhobenen Hauptes und mit geradem Blick zu begegnen. Es ist dann vielleicht, als könnte ich, indem ich mich strecke, den Rücken meines stolzen Vaters über das Grab hinaus begradigen oder durch ein rückwärts gewandtes, magisches Wirkungsgesetz dafür sorgen, daß sein Leben weniger gebeugt und schmerzgeknechtet wäre, als es tatsächlich war — als könnte ich durch meine gegenwärtige Anstrengung die gequälte Vergangenheit ihrer Tatsächlichkeit entkleiden und sie durch eine bessere, freiere ersetzen.

Und das war nicht die einzige Täuschung, die mein Anblick in dem Fremden hinter mir hervorrufen mußte. Nach einer endlosen Nacht, in der ich ohne Schlaf und Trost geblieben war, wäre ich der letzte gewesen, der auf andere hinabgesehen hätte. Am Vortag hatte ich einem Patienten in Gegenwart seiner Frau eröffnet, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Du mußt es tun,

hatte ich auf mich selbst eingeredet, bevor ich die beiden ins Sprechzimmer rief, sie müssen für sich und die fünf Kinder planen können — und überhaupt: Ein Teil der menschlichen Würde besteht in der Kraft, seinem Geschick, auch dem schweren, ins Auge sehen zu können. Es war am frühen Abend gewesen, durch die offene Balkontür hatte ein leichter, warmer Wind die Geräusche und Gerüche eines ausklingenden Sommertages hereingetragen, und wenn man sich dieser sanften Welle von Lebendigkeit rückhaltlos und selbstvergessen hätte überlassen können, so hätte es ein Augenblick des Glücks sein können. Wenn doch nur ein scharfer, unbarmherziger Wind den Regen gegen die Scheiben peitschte!, hatte ich gedacht, als sich der Mann und die Frau mir gegenüber auf die äußerste Kante der Stühle setzten, zögernd und voll von ängstlicher Ungeduld, begierig, das Urteil zu hören, das sie von dem Schrecken eines baldigen Todes freisprechen würde, so daß sie hinuntergehen und sich unter die flanieren

den Passanten mischen könnten, ein Meer von Zeit vor sich. Ich nahm die Brille ab und faßte mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, bevor ich sprach. Die beiden müssen die Geste als Vorboten einer schrecklichen Wahrheit erkannt haben, denn als ich aufsah, hatten sie sich bei den Händen gefaßt, die — so schien es mir, und der Gedanke schnürte mir die Kehle zu, so daß das bange Warten noch einmal länger wurde — es seit Jahrzehnten nicht mehr gewohnt gewesen waren, sich zu suchen. Ich sprach hinunter zu diesen Händen, so schwer war es, den Augen standzuhalten, aus denen namenloses Entsetzen sprach. Die Hände krampften sich ineinander, das Blut wich aus ihnen, und es war dieses Bild eines blutleeren, weißen Fingerknäuels, das mir den Schlaf raubte und das ich zu verscheuchen suchte, als ich zu meinem Spaziergang aulbrach, der mich vor das spiegelnde Schaufenster geführt hatte. (Und noch etwas anderes hatte ich in den leuchtenden Gassen zu verscheuchen versucht: die Erinnerung daran, wie sich mein Zorn über die Ungeschicklichkeit meiner Worte beim Verkünden der bitteren Botschaft später gegen Adriana gerichtet hatte, nur weil sie, die besser für mich sorgt als eine Mutter, ausnahmsweise vergessen hatte, mein Lieblingsbrot mitzubringen. Mochte das weißgoldene Licht des Vormittags diese Ungerechtigkeit, die für mich nicht untypisch war, auslöschen!)

Der Mann mit der Zigarette, der jetzt an einem Laternenpfahl lehnte, ließ seinen Blick hin und her wandern zwischen mir und dem Geschehen in der Gasse. Was er von mir sah, konnte ihm nichts über meine selbstzweiflerische Zerbrechlichkeit verraten, die meiner stolzen, ja überheblichen Körperhaltung so wenig entsprach. Ich versetzte mich in seinen Blick hinein, bildete ihn

in mir nach und nahm aus ihm heraus mein Spiegelbild in mich auf. So wie ich aussah und wirkte — dachte ich — war ich nie gewesen, keine einzige Minute meines Lebens. Nicht in der Schule, nicht im Studium, nicht in der Praxis. Geht es den Anderen auch so: daß sie sich in ihrem Äußeren nicht wiedererkennen? Daß ihnen das Spiegelbild wie eine Kulisse voll von plumper Verzerrung vorkommt? Daß sie mit Schrecken einen Abgrund bemerken zwischen der Wahrnehmung, die die Anderen von ihnen haben, und der Art, wie sie sich selbst erleben? Daß die Vertrautheit von innen und die Vertrautheit von außen so weit auseinander liegen können, daß sie kaum mehr als Vertrautheit mit demselben gelten können?

Die Ferne zu den Anderen, in die uns dieses Bewußtsein rückt, wird noch einmal größer, wenn uns klar wird, daß unsere äußere Gestalt den Anderen nicht so erscheint wie den eigenen Augen. Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, daß sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines Anderen. Unterwegs wird der Blick abgelenkt und getrübt von all den Wünschen und Phantasmen, die uns zu dem besonderen, unverwechselbaren Menschen machen, der wir sind. Selbst die Außenwelt einer Innenwelt ist noch ein Stück unserer Innenwelt, ganz zu schweigen von den Gedanken, die wir uns über die fremde Innenwelt machen und die so unsicher und ungefestigt sind, daß sie mehr

über uns selbst als über den Anderen aussagen. Wie sieht der Mann mit der Zigarette einen betont aufrechten Mann mit hagerem Gesicht, vollen Lippen und einer goldgeränderten Brille auf der scharfen, geraden Nase, die mir selbst zu lang vorkommt und zu dominierend? Wie fügt sich diese Gestalt in das Gerüst seines Gefallens und Mißfallens und in die sonstige Architektur seiner Seele? Was an meiner Erscheinung übertreibt und überhöht sein Blick, und was läßt er weg, als wäre es gar nicht vorhanden? Es wird unvermeidlich ein Zerrbild sein, was sich der rauchende Fremde von meinem Spiegelbild macht, und sein Gedankenbild von meiner Gedankenwelt wird Zerrbild auf Zerrbild türmen. Und so sind wir uns doppelt fremd, denn zwischen uns steht nicht nur die trügerische Außenwelt, sondern auch das Trugbild, das von ihr in jeder Innenwelt entsteht.

Ist sie ein Übel, diese Fremdheit und Ferne? Müßte uns ein Maier mit weit ausgestreckten Armen darstellen, verzweifelt in dem vergeblichen Versuch, die Anderen zu erreichen? Oder sollte uns sein Bild in einer Haltung zeigen, in der Erleichterung darüber zum Ausdruck kommt, daß es diese doppelte Barriere gibt, die auch ein Schutzwall ist? Sollten wir für den Schutz dankbar sein, den uns die Fremdheit voreinander gewährt? Und für die Freiheit, die sie möglich macht? Wie wäre es, wenn wir uns ungeschützt durch die doppelte Brechung, die der gedeutete Körper darstellt, gegenüberstünden? Wenn wir, weil nichts Trennendes und Verfälschendes zwischen uns stünde, gleichsam ineinanderstürzten?

Beim Lesen von Prados Selbstbeschreibung blickte Gregorius immer wieder auf das Portrait vorne im Buch. In Gedanken ließ er das zum Helm gekämmte Haar des Arztes grau werden und setzte ihm eine goldgeränderte Brille mit runden Gläsern auf. Hochmut, sogar Menschenverachtung hatten die anderen an ihm gesehen. Dabei war er, hatte Coutinho gesagt, ein beliebter Arzt gewesen, ein verehrter sogar. Bis er dem Mann von der Geheimpolizei das Leben gerettet hatte. Danach war er von denselben Leuten, die ihn geliebt hatten, geächtet worden. Es hatte ihm das Herz gebrochen, und er hatte versucht, es gutzumachen, indem er für den Widerstand arbeitete.

Wie konnte es sein, daß ein Arzt das Bedürfnis nach Sühne hatte für etwas, was jeder Arzt tat – tun mußte – und was das Gegenteil einer Verfehlung war? Etwas, dachte Gregorius, konnte an Coutinhos Darstellung nicht stimmen. Die Dinge mußten komplizierter gewesen sein, verwickelter. Gregorius blätterte. Nós homens, que sabemos uns dos outros? Wir Menschen: was wissen wir voneinander? Eine Weile blätterte Gregorius noch. Vielleicht gab es eine Aufzeichnung über diese dramatische und leidvolle Wendung in seinem Leben?

Als er nichts fand, verließ er in der Dämmerung das Hotel und machte sich auf den Weg zur Rua Garrett, wo Prado im Schaufenster auf sein Spiegelbild geblickt hatte und wo auch das Antiquariat von Julio Simöes lag.

Es gab kein Sonnenlicht mehr, das die Schaufenster zu Spiegeln machte. Doch nach einer Weile fand Gregorius ein hell erleuchtetes Kleidergeschäft mit einem riesigen Spiegel, in dem er sich durch die Scheibe hindurch betrachten konnte. Er versuchte zu tun, was Prado getan hatte: sich in einen fremden Blick hineinzuversetzen, ihn in sich nachzubilden und aus diesem Blick heraus sein Spiegelbild in sich aufzunehmen. Sich selbst wie

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