Nachtzug nach Lissabon - Teil 10
an seiner Tür. »Boa noite«, sagte er, als sich ihre Blicke trafen. »Boa noite«, sagte auch Gregorius.
Als er die unbeholfene Aussprache hörte, huschte ein Lächeln über das Gesicht des Fremden. Es war ein feingeschnittenes Gesicht mit klaren, bestimmten Zügen, denen etwas Vornehmes und Unnahbares anhaftete. Die dunkle Kleidung des Mannes war von auffallender Eleganz und ließ Gregorius an das Foyer eines Opernhauses denken. Nur die gelockerte Krawatte paßte nicht dorthin. Jetzt kreuzte der Mann die Arme über der Weste, lehnte auch den Kopf gegen die Tür und schloß die Augen. Mit geschlossenen Augen wirkte das Gesicht sehr weiß und strahlte Müdigkeit aus, eine Müdigkeit, die noch mit anderen Dingen zu tun haben mußte als mit der späten Stunde. Als der Zug nach ein paar Minuten seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte, öffnete der Mann die Augen, nickte Gregorius zu und verschwand in seinem Abteil.
Gregorius hätte alles darum gegeben, einschlafen zu können, doch auch das monotone Klopfen der Räder, das sich aufs Bett übertrug, half nicht. Er richtete sich auf und preßte die Stirn gegen das Fenster. Verlassene kleine Bahnhöfe glitten vorbei, milchige, diffuse Lichtkugeln, pfeilschnell vorbeihuschende, unlesbare Ortsnamen, abgestellte Gepäckwagen, ein Kopf mit einer Mütze in einem Bahnwärterhäuschen, ein herrenloser Hund, ein Rucksack an einem Pfeiler, darüber ein blonder Haarschopf. Die Sicherheit, die ihm der Erfolg mit den ersten portugiesischen Worten verliehen hatte, begann zu bröckeln. Sie rufen einfach an. Tag oder Nacht Er hörte die Stimme von Doxiades und dachte an ihre erste Begegnung vor zwanzig Jahren, als er noch einen stärkeren Akzent gehabt hatte.
»Blind? Nein. Sie haben bei den Augen einfach ein schlechtes Los gezogen. Wir kontrollieren regelmäßig die Netzhaut.
Außerdem gibt es jetzt Laser. Kein Grund zur Panik.« Auf dem Weg zur Tür war er stehengeblieben und hatte ihn mit konzentriertem Blick angesehen. »Sonstige Sorgen?«
Gregorius hatte stumm den Kopf geschüttelt. Daß er die Scheidung von Florence kommen sah, hatte er ihm erst einige Monate später gesagt. Der Grieche hatte genickt, es schien ihn nicht zu überraschen. Manchmal fürchtet man sich vor etwas, weil man sich vor etwas anderem fürchtet, hatte er gesagt.
Kurz vor Mitternacht ging Gregorius in den Speisewagen. Der Wagen war leer bis auf den Mann mit dem graumelierten Haar, der mit dem Kellner Schach spielte. Eigentlich sei der Wagen schon geschlossen, bedeutete ihm der Kellner, aber dann holte er Gregorius doch ein Mineralwasser und lud ihn mit einer Geste ein, sich an ihren Tisch zu setzen. Gregorius sah schnell, daß der Mann von vorhin, der eine goldgeränderte Brille aufgesetzt hatte, dabei war, in eine raffinierte Falle des Kellners zu gehen. Die Hand schon bei der Figur, sah der Mann ihn an, bevor er zog. Gregorius schüttelte den Kopf, und der Mann zog die Hand zurück. Der Kellner, ein Mann mit schwieligen Händen und groben Gesichtszügen, hinter denen man kein Schachgehirn vermutete hätte, blickte überrascht auf. Jetzt drehte der Mann mit der goldenen Brille das Brett in die Richtung von Gregorius und forderte ihn mit einer Handbewegung auf weiterzuspielen. Es wurde ein langer, zäher Kampf, und es ging bereits auf zwei Uhr, als der Kellner aufgab.
Als sie nachher vor seiner Abteiltür standen, fragte der Mann Gregorius, woher er komme, und dann sprachen sie französisch. Er fahre alle zwei Wochen in diesem Zug, sagte der Mann, und nur ein einziges Mal habe er gegen diesen Kellner gewinnen können, während er den anderen meistens schlage. Er stellte sich vor: Jose Antonio da Silveira. Er war, wie er sagte, Geschäftsmann und verkaufte Porzellan nach Biarritz, und da er Angst vor dem Fliegen hatte, fuhr er mit dem Zug.
»Wer kennt schon die wahren Gründe seiner Angst«, sagte er nach einer Pause, und nun erschien wieder die Erschöpfung auf seinem Gesicht, die Gregorius früher schon bemerkt hatte.
Als er dann erzählte, wie er den kleinen Betrieb seines Vaters übernommen und zu einer großen Firma ausgebaut hatte, sprach er über sich selbst wie über einen anderen, der lauter verständliche, aber insgesamt falsche Entscheidungen getroffen hatte. Und so klang es auch, als er von seiner Scheidung sprach und von den beiden Kindern, die er kaum noch zu sehen bekam. Enttäuschung und Trauer lagen in seiner Stimme, und es beeindruckte Gregorius, daß sie frei von Selbstmitleid waren.
»Das Problem ist«, sagte Silveira, als der Zug im Bahnhof von Valladolid stand, »daß wir keinen Überblick über unser Leben haben. Weder nach vorn noch nach hinten. Wenn etwas gutgeht, haben wir einfach Glück gehabt.« Ein unsichtbarer Hammer schlug prüfend auf die Bremsen. »Und wie kommt es, daß Sie in diesem Zug sind?«
Sie saßen auf Silveiras Bett, als Gregorius seine Geschichte erzählte. Die Portugiesin auf der Kirchenfeldbrücke ließ er aus. So etwas konnte er Doxiades sagen, nicht einem Fremden. Er war froh, daß Silveira ihn nicht bat, das Buch von Prado zu holen. Er wollte nicht, daß jemand anderes darin las und etwas dazu sagte.
Es blieb still, als er geendet hatte. In Silveira arbeitete es, Gregorius sah es daran, wie er an seinem Siegelring drehte, und an den kurzen, scheuen Blicken, die er ihm zuwarf.
»Und Sie sind einfach aufgestanden und haben die Schule verlassen? Einfach so?«
Gregorius nickte. Plötzlich bedauerte er, davon gesprochen zu haben; etwas Kostbares schien dadurch in Gefahr geraten zu sein. Er wolle jetzt zu schlafen versuchen, sagte er. Da holte Silveira ein Notizbuch hervor. Ob er ihm die Worte von Marc Aurel über die Regungen der eigenen Seele wiederholen würde? Als Gregorius sein Abteil verließ, saß Silveira über das Notizbuch gebeugt und fuhr mit dem Stift die Worte entlang.
Gregorius träumte von roten Zedern. Stets von neuem irr-lichterten die Worte cedros vermelhos durch seinen unruhigen Schlaf. Es war der Name des Verlags, in dem Prados Aufzeichnungen erschienen waren. Er hatte ihm bisher keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Erst Silveiras Frage, wie er den Autor finden wolle, hatte ihn daran erinnert, daß er als erstes nach diesem Verlagshaus würde suchen müssen. Vielleicht war das Buch im Selbstverlag erschienen, hatte er beim Einschlafen gedacht, dann hätten die roten Zedern eine Bedeutung, die nur Amadeu de Prado kannte. Im Traum dann irrte er, den geheimnisvollen Namen auf den Lippen und das Telefonbuch unter dem Arm, durch mühsame, immerfort steil ansteigende Straßen von Lissabon, verloren in einer gesichtslosen Stadt, von der er nur wußte, daß sie auf Hügeln lag.
Als er gegen sechs Uhr aufwachte und vor seinem Abteilfenster den Namen SALAMANCA sah, öffnete sich, ohne daß es dafür die geringsten Vorboten gegeben hätte, eine Schleuse der Erinnerung, die vier Jahrzehnte lang verschlossen geblieben war. Das erste, was sie freigab, war der Name einer anderen Stadt: Isfahan. Plötzlich war er da, der Name der persischen Stadt, in die er nach der Schule hatte gehen wollen. Der Name, der so viel geheimnisvolle Fremdheit in sich trug, berührte Gregorius in diesem Moment wie die Chiffre für ein anderes mögliches Leben, das er nicht zu leben gewagt hatte. Und als der Zug nun den Bahnhof von Salamanca verließ, durchlebte er nach der langen Zeit noch einmal die Empfindungen, in denen sich jenes andere Leben damals sowohl aufgetan als auch verschlossen hatte.
Begonnen hatte es damit, daß der Hebräischlehrer sie bereits nach einem Jahr das Buch Hiob lesen ließ. Es war für Gregorius wie ein Rausch gewesen, als er die Sätze zu verstehen begann und sich ihm ein Weg auftat, der mitten in den Orient hineinführte. Bei Karl May klang der Orient sehr deutsch, nicht nur wegen der Sprache. Jetzt, in dem Buch, das man von hinten nach vorne las, klang er wie der Orient. Elifas von Teman, Bildad von Schuach, Zofar von Naama. Die drei Freunde von Hiob. Allein schon die Namen, die in ihrer betörenden Fremdheit von jenseits aller Ozeane zu kommen schienen. Was war das für eine wunderbare, traumgleiche Welt!
Danach hatte er eine Weile Orientalist werden wollen. Einer, der sich im Morgenland auskannte, er liebte das Wort, es führte hinaus aus der Länggasse in ein helleres Licht. Kurz vor der Maturität hatte er sich auf die Stelle eines Hauslehrers in Isfahan beworben, die ein Schweizer Industrieller für seine Kinder ausgeschrieben hatte. Widerstrebend – voller Sorge um ihn, aber auch voller Angst vor der Lücke, die er hinterlassen würde — hatte ihm der Vater die dreizehn Franken dreißig für die persische Grammatik gegeben, und er hatte die neuen Chiffren des Orients in seiner Kammer auf die kleine Wandtafel geschrieben.
Doch dann hatte ein Traum angefangen, ihn zu verfolgen, ein Traum, den er die ganze Nacht über zu träumen schien. Es war ein denkbar einfacher Traum gewesen, und ein Teil der Qual hatte in dieser Einfachheit bestanden, die sich zu steigern schien, je öfter das Bild wiederkehrte. Denn eigentlich hatte der Traum nur aus einem einzigen Bild bestanden: Heißer orientalischer Sand, Wüstensand, weiß und sengend, war ihm vom Gluthauch Persiens an die Brille geweht worden und hatte sich dort als glühende Kruste festgesetzt, die ihm alle Sicht raubte, um dann die Gläser zum Schmelzen zu bringen und sich in seine Augen zu fressen.
Nach zwei, drei Wochen, in denen ihn der Traum stets von neuem ansprang und bis weit in den Tag hinein verfolgte, hatte er die persische Grammatik zurückgebracht und dem Vater das Geld wiedergegeben. Die drei Franken dreißig, die er behalten durfte, hatte er in einer kleinen Dose aufbewahrt, und es war gewesen, als besäße er nun persisches Geld.
Was wäre aus ihm geworden, wenn er die Angst vor dem sengenden Staub des Orients überwunden hätte und gefahren wäre? Gregorius dachte an die Kaltblütigkeit, mit der er am Bärenplatz in die Kasse der Marktfrau gegriffen