Lea - Pascal Mercier - Teil 35
und ließ Lea die Kathedrale bauen. Die Töne hatten die Farbe Sepia, das schien mir offenkundig, auch wenn ich es niemandem hätte erklären können.
Es war am Ende der zweiten Nacht, daß ich spürte: Ich werde verlieren. Dabei sah es, als ich ging, nicht eindeutig aus. Aber die Züge des Alten hatten etwas Zwingendes, dem ich mich nur entgegenstemmte, ohne den Duktus seines Angriffs brechen zu können. Ich habe die Partie im Hotel stundenlang analysiert, und auch später habe ich sie Dutzende von Malen nachgespielt, ich könnte sie Ihnen aufsagen wie einen Kinderreim, den man nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Körper hat. Grobe Fehler habe ich keine gemacht, aber einen Einfall, der das Ganze hätte drehen können, hatte ich auch nicht. Wir spielten mit Figuren aus Jade, der einzige Luxus weit und breit. Und es gab etwas Irritierendes an ihnen: Es mischte sich in ihnen die gewöhnliche grüne Jade mit der seltenen rötlichen Jade, rötliche Adern durchzogen die grünen Körper der Figuren. Das stiftete Unruhe für die Augen und irgendwie auch für die Gedanken, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß mir die letzte Konzentration fehlte, die sich vor einem Brett sonst einstellte. Aber eigentlich kann es das nicht gewesen sein, denn ich kam auch vor dem Brett im Hotel nicht auf die Lösung. Irgendwann gingen mir meine Parisiennes aus, und alle anderen Zigaretten, die ich probierte, brachten mich durcheinander. Trotzdem war es auch zu Hause, mit einer Parisienne zwischen den Lippen, nicht besser. Er war einfach zu gut für mich.
Gegen vier Uhr in der letzten Nacht sah ich ihn an. Er las die Kapitulation in meinem Blick. ›Ecco!‹ sagte er und lächelte matt, auch er war erschöpft. Er holte zwei Gläser und schenkte Grappa ein. Unsere Blicke begegneten sich.
Wenn ich denke, daß ich ihn in diesen Minuten vielleicht hätte umstimmen und dazu bringen können, mir die Geige zu schenken! Drei Nächte mit jemandem am Brett, Ewigkeiten des Wartens auf den nächsten Zug, das Eindringen in die Gedanken des anderen, in seine Pläne und Finten, in die Gedanken über die eigenen Gedanken, der andere als Zielscheibe der Hoffnung und der Angst – all das hatte eine große Intimität geschaffen, aus der heraus es vielleicht möglich gewesen wäre. Ein anderes Wort von mir, eine andere Betonung, und alles hätte anders kommen können. Etwas an meiner Geschichte über Lea hatte den Alten berührt. Wenn ich an ihn denke, dann als einen Mann, in dem es viele abgelagerte Gefühle gab, viel Bodensatz, dicke Schichten davon, und etwas davon war aufgewirbelt worden, vielleicht wegen seiner vergötterten Tochter, die es dem Gerücht nach gab, vielleicht auch einfach so. Vielleicht hätte ich ihn dazu bringen können, die Geige nicht mir, sondern sozusagen Lea zu schenken, er hatte sehr still dagesessen, als ich ihm von dem Abend erzählte, da sie ohne die Amati aus Neuchâtel gekommen war.
Aber ich habe es verpfuscht, ich habe es, verdammtnochmal, verpfuscht. Du mußt dich mehr öffnen, Martijn, sagte Cécile oft, du kannst nicht erwarten, daß die Leute hinter dir herlaufen, um dich in deinen Gefühlen zu erraten. Auch mir mußt du dich mehr öffnen, sonst geht es schief mit uns, sagte sie. Gegen Ende sagte sie es besonders oft. Als ich bei meinem letzten Besuch durch den langen Krankenhausflur auf ihr Zimmer zuging, nahm ich mir fest vor, ihr zu sagen, wieviel sie mir bedeutete. Doch dann kamen jene Worte: ›Du mußt mir versprechen, daß du gut auf Lea …‹. Nun konnte ich nicht mehr, ich konnte einfach nicht. Merde. Wo hätte ich es auch lernen sollen. Meine Mutter war Tessinerin, es gab Wutausbrüche, aber die Sprache der Gefühle, die Fähigkeit zu sagen, wie es einem geht – das hat mir niemand gezeigt.«
Er warf mir einen fragenden Blick zu. »Mir auch nicht«, sagte ich. Und dann fragte ich ihn, warum er dem Alten nicht von dem Betrug erzählt habe, das hätte ihn vielleicht beeindruckt.
»Ja, das habe ich mich auf der Rückfahrt auch gefragt. Eigentlich war er genau der Mann dafür. Es muß gewesen sein, weil die Sache zentnerschwer auf mir lastete und mich in den Schlaf hinein verfolgte. Immer wieder fragte mich Ruth Adamek im Traum nach dem Paßwort, und an ihrem Gesicht war klar zu erkennen: Sie wußte alles. Deshalb. Ich habe erwogen, in Mailand den Zug zurück zu nehmen und noch einmal mit ihm zu sprechen. Aber zu bitten, daß er mir das Geld zurückgebe – nein, das ging nicht. Daß er das Geld jetzt hatte, machte es unmöglich.«
Van Vliet nahm einen Bissen von dem Essen, das wir uns aufs Zimmer hatten bringen lassen. Man sah: Er schwankte zwischen Hunger und Widerwillen.
»Die Sache mit dem Geld müßte einer mal aufschreiben. Einfach alles erzählen: Armut, Reichtum, die Euphorie des Goldes, Verlust, Betrug, Beschämung, Demütigung, ungeschriebene Regeln – alles. Geradlinig. Ungeschminkt. Die ganze verdammte Geschichte über das Geldgift. Darüber, wie es die Gefühle verätzt.«
Er hatte Signor Buio das Geld auf den Tisch gezählt, mille milioni, ein gutes Geschäft, nüchtern betrachtet. Ein Haufen Scheine, der da auf dem Tisch lag. Der Alte hatte nicht gierig danach gegriffen, das Geld vielmehr liegen lassen und in einer Haltung betrachtet, die deutlich machte: Es war egal, ob er es hatte oder nicht, er brauchte es nicht.
»Das war der allerletzte Moment«, sagte Van Vliet, »und ich habe ihn verstreichen lassen.«
Beim Umsteigen in Mailand verfolgte ihn der Gedanke, jemand könnte an die Geige stoßen und sie kaputtmachen. Ängstlich nahm er den Kasten unter den Arm und preßte ihn an sich. Es war ein schäbiger Kasten, der zu dem Alten paßte. Er hatte Van Vliet angesehen, daß er ihn schäbig fand. »Il suono!« sagte er spöttisch. Auf den Klang kommt es an!
Die anderen Leute im Zug schenkten weder der Geige noch dem Geldkoffer besondere Aufmerksamkeit. Trotzdem war sein Hemd schweißnaß, als er in Thun ausstieg. Er zahlte das übriggebliebene Geld ein, dann fuhr er nach Bern und ging auf direktem Weg zu Krompholz, um die Geige mit neuen Saiten bespannen zu lassen.
Katharina Walther warf einen verwunderten Blick auf den schäbigen Kasten, dann machte sie ihn auf.
»Ich glaube nicht, daß sie sofort wußte, daß sie eine Guarneri vor sich hatte. Doch daß es ein kostbares Instrument war – das sah sie. Sie sah mich an und sagte nichts. Dann ging sie nach hinten. Als sie zurückkam, war ein sonderbarer Ausdruck auf ihrem Gesicht. ›Eine del Gesù‹, sagte sie, ›eine echte Guarneri del Gesù‹. Ihre Augen verengten sich ein bißchen. ›Sie muß ein Vermögen gekostet haben.‹
Ich nickte und sah zu Boden. Sie war nicht Ruth Adamek im Traum, sie konnte es nicht wissen. Im Traum dieser Nacht freilich wußte sie es. Und deshalb hatten ihre Worte etwas Richterliches und Bedrohliches, als sie sagte: ›Das sollten Sie auf keinen Fall tun, auf keinen Fall.‹ In Wirklichkeit sagte sie etwas anderes: ›Um sie die Amati vergessen zu lassen, ich verstehe. Trotzdem … ich weiß nicht … meinen Sie nicht, es könnte sie … sagen wir: überfordern? Daß sie dann meint, sie müsse unbedingt zurück in diese Umlaufbahn, diese verrückte Umlaufbahn? Ich will mich nicht einmischen, aber meinen Sie nicht, sie sollte erst einmal zu sich kommen? Wie lange ist es jetzt her, daß Sie die erste Geige für sie kauften, die kleine? Zwölf, dreizehn Jahre? Alles ein bißchen atemlos, fand ich immer, und dann haben Sie mir ja von dieser Krise erzählt … Aber natürlich bespannen wir Ihnen die Geige bis heute abend, es wird dem Kollegen eine Ehre sein, er ist ganz aus dem Häuschen.‹
Warum habe ich nicht auf sie gehört!«
Van Vliet fuhr ins Büro und überwies das restliche Geld zurück auf das Forschungskonto. Auf dem Flur ging Ruth Adamek wortlos an ihm vorbei. Er legte sich auf die Couch, um kurze Zeit danach mit klopfendem Herzen aufzuwachen. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, das Herz könnte ihn eines Tages im Stich lassen.
Katharina Walther brachte ihm die Geige in einem neuen, eleganten Kasten. Ein Geschenk des Hauses, wie sie sagte. Und sie entschuldigte sich für die Einmischung. Der Kollege kam. Er hatte darauf gespielt. »Dieser Klang«, sagte er nur, »dieser Klang.«
Van Vliet fuhr nach Hause. Bevor er hinaufging, setze er sich in das Café an der Ecke. Nach zwei, drei Schlucken ließ er den Kaffee stehen. Das Herz hämmerte. Er konzentrierte sich aufs Atmen, bis es besser wurde. Dann ging er hinauf und betrat die Wohnung mit einer der kostbarsten Geigen der Welt, die alles wieder in Ordnung bringen sollte.
25
LEA HATTE GESCHLAFEN. Sie schlief zu den unmöglichsten Zeiten, dafür geisterte sie nachts durch die Wohnung und scheuchte den Hund auf. Jetzt sah sie den Vater verwirrt an, mit schlaftrunkenem, unstetem Blick. »Du bist so lange … Ich habe nicht gewußt …«, sagte sie mit schwerer Zunge. In der Küche fand der Vater später leere Weinflaschen.
»Ich dachte an jene fernen Nächte zurück, in denen ich am Rechner gesessen hatte, bis ich ihre ruhigen Atemzüge hörte«, sagte Van Vliet. »Verglichen mit heute: Was war das für eine glückliche Zeit gewesen! Seitdem waren mehr als zehn Jahre vergangen. Ich stand da, sah meine verschlafene und ein bißchen verwahrloste Tochter vor mir, und wünschte mir mehr als alles andere, daß ich die Zeit zurückdrehen könnte. Schon seit längerem, wenn ich nachts wachlag, feilschte ich mit dem Teufel, damit er mir diesen einen Wunsch erfülle: mit Lea zurückreisen zu können bis vor den Tag, an dem wir Loyola de Colón im Bahnhof gehört hatten. Meine Seele hätte er dafür