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Lea - Pascal Mercier - Teil 33

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Stimme, kamen nun all die Worte, in denen man den Fahrtwind spürte, den Wind einer Fahrt, die ihn in das verrückteste Abenteuer seines ganzen Lebens getrieben hatte. Ich sah von den weißen Knöcheln weg, ich wollte nicht, daß er sich zerfleischte, er sollte leben, leben. Ich dachte an Liliane und andere Gelegenheiten, wo ich nicht gelebt hatte, was ich hätte leben können und vielleicht hätte leben sollen.

»Es war verrückt, vollständig irre, um Mitternacht mit einem Koffer voller veruntreuten Geldes zu der Auktion eines verschrobenen Greises von krankhaftem Geiz zu gehen, um eine der teuersten Geigen der Welt zu ersteigern. Eigentlich konnte es gar nicht wahr sein, daß ich dahin ging. Doch es stimmte, ich hörte meine Schritte auf dem Pflaster, und als ich auf ihr leises Echo in der menschenleeren Gasse horchte, sah ich auf einmal wieder die Straße vor mir, die Lea entlanggegangen war, als sie von Marie kam und die falsche Richtung einschlug. Auch jetzt blich die endlose, schnurgerade Straße aus, der Schein jenes fernen Ausbleichens legte sich über den trüben Schein der nackten Glühbirnen, die die Gasse in Cremona an Stelle von Laternen kärglich erleuchteten. Und auch jetzt spürte ich wieder, wie gut die Wirklichkeitsferne meines nächtlichen Gangs der Wirklichkeitsferne entsprach, die sich in Lea ausbreitete.«

Van Vliet schloß die Augen. Vor der Tür gingen lärmende Gäste vorbei. Er wartete, bis es wieder still war.

»Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Es hat so vieles, es hat alles zerstört. Und doch: Ich möchte den Moment nicht missen, als ich durch die blaue Tür trat, zwischen feuchten Wänden die Treppe hochstieg und bei dem Alten an die Tür klopfte. Es war, als ob ich im Zustand höchster Wachheit einen vollständig luziden Traum durchlebte und schwerelos, von nichts anderem gehalten als von der Absurdität, in einem imaginären Raum stünde, der der Raum auf einem Bild von Chagall hätte sein können, märchenhaft und schrecklich schön. Und auch die folgenden Stunden möchte ich nicht missen; diese verrückten, aberwitzigen Stunden, in denen ich sie alle aus dem Rennen warf.«

Der Alte wohnte in zwei Zimmern, getrennt durch eine Schiebetür. Die Tür stand offen, damit die sieben Männer, die mitboten, auf ihren wackligen Stühlen Platz hatten. Trotzdem war es so eng, daß sie sich unweigerlich berührten. Es muß stickig gewesen sein, überall lagen Staubmäuse, und aus jedem Winkel kam der säuerliche Geruch nach Greis. Einer der Männer, dem man die Übelkeit ansah, stand wortlos auf und ging.

Signor Buio, ganz so gekleidet, wie die Legende sagte, saß in einem schmierig aussehenden Lehnstuhl in der Ecke. Von dort konnte er alles überblicken und den Blick seiner hellen Augen, die im Laufe der Nacht immer mehr auszubleichen und immer irrer zu werden schienen, auf jeden einzelnen richten. Niemand war beim Eintreten begrüßt worden, die Tür war wie von Geisterhand von einem unscheinbaren Mädchen geöffnet worden, das dastand, als stünde niemand da. Keiner schien den anderen zu kennen, niemand stellte sich vor, man sah sich befremdet, kalkulierend und mißtrauisch an.

Van Vliet erzählte es so, daß ich dachte: Er hat sie genossen, diese surrealistische Situation.

»Ein bißchen war es wie eine Versammlung von Fledermäusen, wir sahen uns gar nicht richtig, sondern hörten und spürten uns nur«, sagte er. Es war, denke ich, diese absolute, gespenstische Fremdheit, die er genoß. Nicht so, wie man etwas Angenehmes genießt. Eher so, wie man sich darauf stürzt und sich daran klammert, wenn sich herausgestellt hat, daß eine rabenschwarze, verzweifelte Vermutung der Wahrheit entspricht.

Bei ihm war es die Vermutung einer letzten, unüberbrückbaren Fremdheit zwischen den Menschen. Und eigentlich ist es falsch, es eine Vermutung zu nennen. Eher war es in ihm wie eine abgelagerte Erfahrung, der Bodensatz aller anderen Gefühle. Ich habe das Wort Fremdheit aus seinem Munde nicht gehört. Doch wenn ich die Augen schließe und in seine Erzählung hineinhöre wie in ein Musikstück, so wird mir klar, daß er die ganze Zeit von nichts anderem sprach als von dieser Fremdheit. Er kannte sie schon als Gassenjunge und Schlüsselkind. Dann kam der Lehrer, der ihm die Bücher von Louis Pasteur und Marie Curie schenkte. Es kamen Jean-Louis Trintignant und Cécile. Und vor allem kam für einige Jahre Lea, die er als Bollwerk gegen die Fremdheit erlebte oder doch erleben wollte, bis sie im Rosengarten à très bientôt zu Lévy sagte und er sie einige Zeit danach tablettentrunken durch die Wohnung schleppen und sich ihre ordinären Ausbrüche anhören mußte, um schließlich von Caroline zu erfahren, daß sie ihn derart unbegreiflich mißverstand. Und dann brach dieser Mann mit Millionen von gestohlenem Geld zu einer Reise auf, um mit einer Guarneri del Gesù denjenigen Gegenstand – einen wahrhaft magischen Gegenstand – in seinen Besitz zu bringen, der als einziger, wie ihm schien, das Mißverständnis beseitigen und die Fremdheit überwinden könnte, und landete in einer Versammlung von Fledermäusen, die ihm die ganze Fremdheit in roher, unmißverständlicher Form vor Augen führte. Das, diese fulminante, himmelschreiende Paradoxie, war es, was er genoß. Es muß eine schwindelerregende Erfahrung gewesen sein, ein Vertigo der Einsamkeit, eine rasende Abwärtsspirale selbstzerfetzender Einsicht. Und ja: Martijn van Vliet war genau der Mann, der das genießen würde.

Ich fragte mich, wie es sein würde, wenn die Fremdheit zwischen ihm und mir aufbrach. Und sie würde aufbrechen. Ich schloß die Augen, hörte zu und stellte mir vor, wir führen wieder durch die Camargue, rechts und links Reisfelder und Wasser, in dem sich ziehende Wolken unter hohem Himmel spiegelten. Le bout du monde. Wir hätten dort unten bleiben sollen, lachend vor der weißen Wand und trinkend im Gegenlicht, und das Ende hätte sein müssen wie ein eingefrorenes Bild am Schluß eines Films.

»Die Geigen kamen aus einer großen Schiffstruhe, die neben dem Sessel des Alten stand«, fuhr Van Vliet fort. »Aufgemalte Anker an der Seite, abblätternde Farbe. Ein riesiges Ding, sicher ein Meter hoch und mindestens doppelt so lang. Darin und nicht im Schrank oder unter dem Bett, wie man sich erzählte, lagen die Geigen, und sie waren vorsichtig geschichtet, mit weichen Tüchern dazwischen. Die enormen Messingverschlüsse quietschten, als der Alte die Kiste öffnete und die erste Geige herausnahm.

Es war eine Geige von Pietro Guarneri, dem ältesten Sohn von Andrea und Onkel von del Gesù, ich erinnere mich, weil ich von ihm am wenigsten wußte, in dem Buch, das ich damals aus Mailand mitgebracht hatte, konnte man über ihn am wenigsten lesen.

›Mille milioni!‹ rief der Alte, es war ja damals noch die Zeit der Lira. Zu einer der weniger wertvollen Guarneris paßte dieser Preis. Doch je weiter die Nacht fortschritt, desto besser verstand ich, daß diese Worte für den Alten viel mehr waren als Worte für einen nüchternen Preis. Es waren Worte, die natürlich viel Geld bedeuteten, doch darüber hinaus standen sie für eine abgerundete, leuchtende Einheit von Reichtum, für die Ureinheit des Reichtums, für die Idee des Geldes überhaupt. Mille milioni – das war die ultimative Geldsumme, hinter der es keine größere geben konnte. Due mila milioni, tre mila milioni – das wäre, obgleich ein Vielfaches, weniger.

Die Geige wurde von einem Mann in einem Anzug gekauft, der von Armani sein mußte und zu dem schäbigen Ort paßte wie die Faust aufs Auge. Bis auf mich und einen Franzosen waren die Männer alle Italiener, zumindest der Sprache nach. Doch dann fiel einem von ihnen, als er etwas in seinen Papieren suchte, der Paß auf den Boden, praktisch vor die Füße des Alten. Es war ein amerikanischer Paß. ›Fuori!‹ schrie er, ›fuori!‹ Der Mann wollte erklären, sich verteidigen, doch der Alte wiederholte seinen Schrei, und schließlich ging der Mann. Es war eisig in dem Raum, obgleich wir schwitzten.

Das unscheinbare Mädchen, das lautlos hereingekommen war und sich an den Tisch in der Ecke gesetzt hatte, schrieb alles auf. Die Geigen gingen von Hand zu Hand, die anderen hatten alle kleine Lämpchen in der Form von Füllfederhaltern, mit denen sie hineinleuchteten, um den Geigenzettel zu sehen. Diese Männer waren erfahrene Leute, die man nicht leicht würde übertölpeln können, das sah man an der Art, wie ihre Hände die C-Bügel und f-Löcher entlangfuhren, die Schnecken abtasteten und den Lack prüften. Und trotzdem füllte Mißtrauen den Raum. Die meisten, bevor sie boten, lehnten sich zurück und betrachteten den Alten aus halb geöffneten Augen mit abschätzendem Blick. Was mit Echtheitszertifikaten sei, fragte jemand. ›Sono io il certificato‹, ich bin das Zertifikat, sagte der Alte. Eigentlich kaufe er nie, ohne die Geige vorher gehört zu haben, sagte ein älterer Herr von vornehmem Aussehen, den man sich in einem venezianischen Palazzo vorstellen konnte. Niemand werde gezwungen zu kaufen, erwiderte der Alte trocken und endgültig.

Die Guarneri del Gesù kam als neunte oder zehnte. Ich lieh mir ein Lämpchen. JOSEPH GUARNERIUS FECIT CREMONAE ANNO 1743†IHS stand auf dem vergilbten Geigenzettel. Es mußte eine seiner letzten Arbeiten sein, er war 1744 gestorben, unweit von hier. Konnte man einen solchen Zettel fälschen und nachträglich hineinpraktizieren? Es war ein kleineres Format, das Meßband machte die Runde. Geringe Boden- und Deckenwölbung, offene C-Bügel, kurze Ecken, lange f-Löcher, prachtvoller Lack. Die typischen Merkmale. Dazu gab es einen hellen Fleck, wo die Kinnstütze gesessen hatte, ähnlich wie bei Il Cannone, die Paganini gespielt hatte.

›Mille milioni e mille milioni e mille milioni!‹ krächzte der Alte. Wie er diese Worte liebte und genoß! Ich begann ihn zu mögen. Trotzdem war ich auch mißtrauisch. Das Krächzen, da war ich inzwischen sicher, war Show, eine Show für uns arme Irre, die wir mitten in der Nacht bei ihm antanzten, um unsere Gier nach Guarneris zu befriedigen.

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