Lea - Pascal Mercier - Teil 2
Ihnen etwas ausmachen, das Steuer zu übernehmen?« fragte er heiser. »Ich … mir ist nicht besonders.«
An der Bar des Hotels trank er zwei Pernod. »Jetzt geht es wieder«, sagte er danach. Es sollte tapfer klingen, doch es war eine fadenscheinige Tapferkeit.
Statt zum Auto ging er noch einmal zur Koppel. Eines der Pferde stand am Zaun. Van Vliet streichelte ihm den Kopf. Die Hand zitterte.
»Lea liebte Tiere, und das spürten sie. Sie hatte einfach keine Angst vor ihnen. Noch die wütendsten Hunde wurden friedlich, wenn sie kam. ›Papa, sieh bloß, er mag mich!‹ rief sie dann aus. Als bräuchte sie die Zuneigung der Tiere, weil sie sonst keine erfuhr. Und sie sagte es zu mir. Ausgerechnet zu mir. Sie streichelte die Tiere, ließ sich die Hände lecken. Was hatte ich für eine Angst, wenn ich das sah! Ihre kostbaren, ihre so schrecklich kostbaren Hände. Später, auf meinen heimlichen Fahrten nach Saint-Rémy, stand ich oft hier und stellte mir vor, sie würde die Pferde streicheln. Es hätte ihr gutgetan. Ich bin ganz sicher, das hätte es. Aber ich durfte sie ja nicht mitnehmen. Der Maghrebiner, der verdammte Maghrebiner, er verbot es, er verbot es mir einfach.«
Ich hatte immer noch Angst vor der Geschichte, jetzt sogar noch mehr; trotzdem war ich nicht mehr sicher, daß ich sie nicht hören wollte. Van Vliets zitternde Hand am Pferdekopf, sie hatte die Dinge verändert. Ich überlegte, ob ich Fragen stellen sollte. Doch es wäre falsch gewesen. Ich hatte ein Zuhörer zu sein, nichts weiter als ein Zuhörer, der sich still den Weg in die Welt seiner Gedanken bahnte.
Stumm reichte er mir den Autoschlüssel. Die Hand zitterte immer noch.
Ich fuhr langsam. Wenn wir einen Lastwagen kreuzten, blickte Van Vliet weit nach rechts hinaus. Bei der Ortseinfahrt dirigierte er mich zum Strand. Wir hielten hinter der Düne, gingen die Böschung hinauf und traten auf den Sand hinaus. Hier war es windig, die glitzernden Wellen brachen sich, und für einen Moment dachte ich an Cape Cod und Susan, meine damalige Freundin.
Wir gingen mit Abstand nebeneinander her. Ich wußte nicht, was er hier wollte. Oder doch: nun, da Lea, von der er in der Vergangenheitsform gesprochen hatte, nicht mehr lebte, wollte er noch einmal den Strand entlanggehen, den er damals, als der Maghrebiner ihm den Zugang zu seiner Tochter verwehrt hatte, allein hatte entlanggehen müssen. Jetzt ging er auf das Wasser zu, und einen Augenblick lang hatte ich die Vorstellung, er würde einfach hineingehen, mit geradem, festem Schritt, durch nichts aufzuhalten, immer weiter hinaus, bis die Wellen über seinem Kopf zusammenschlügen.
Auf dem feuchten Sand blieb er stehen und zog einen Flachmann aus der Jacke. Er schraubte ihn auf und warf mir einen Blick zu. Er zögerte, dann warf er den Kopf zurück, hob den Arm und goß den Schnaps in sich hinein. Ich holte die Kamera hervor und schoß ein paar Bilder. Sie zeigen ihn als Schattenriß im Gegenlicht. Eines davon steht hier vor mir, an die Lampe gelehnt. Ich liebe es. Ein Mann, der unter dem Blick eines anderen, der vorhin keinen Pernod wollte, trotzig trinkt. Je m’en fous, sagt die Haltung dieses großen, schweren Mannes mit dem wirren Haar. Wie Tom Courtenay, der nach einer verweigerten Entschuldigung in den Arrest abmarschiert.
Van Vliet ging noch eine Weile auf dem feuchten Sand weiter. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, legte, wie vorhin beim Trinken, den Kopf in den Nacken und hielt das Gesicht in die Sonne. Ein gebräunter Mann, der Ende fünfzig sein mochte, Spuren des Alkohols unter den Augen, sonst aber mit dem Aussehen eines gesunden, kräftigen Mannes, dem man Sport zugetraut hätte, dahinter Trauer und Verzweiflung, die jederzeit in Wut und Haß umschlagen konnte, in Haß auch gegen sich selbst, ein Mann, der seinen Händen nicht mehr traute, wenn er die hohe, herandonnernde Front eines Lastwagens vor sich sah.
Jetzt kam er langsam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Die Art, wie es aus ihm herausbrach, bewies, wie sehr die Erinnerung in ihm gewütet hatte, als er am Wasser stand.
»Meridjen heißt er, der Maghrebiner, Dr. Meridjen. Jetzt geht es vor allem um Ihre Tochter; daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Stellen Sie sich vor: Das wagte mir der Mann zu sagen. Mir! C’est de votre fille qu’il s’agit. Als sei das nicht siebenundzwanzig Jahre lang der Leitsatz meines Lebens gewesen! Die Worte verfolgten mich wie ein nicht enden wollendes Echo. Er sagte sie am Ende unseres ersten Gesprächs, bevor er hinter dem Schreibtisch aufstand, um mich zur Tür des Sprechzimmers zu begleiten. Er hatte hauptsächlich zugehört, ab und zu war die dunkle Hand mit dem silbernen Stift über das Papier geflogen. An der Decke drehten sich träge die riesigen Blätter eines Ventilators, in den Gesprächspausen hörte ich das leise Summen des Motors. Nach meinem langen Bericht fühlte ich mich wie ausgeleert, und wenn er mir über die Gläser der Halbbrille hinweg einen seiner schwarzen, arabischen Blicke zuwarf, kam ich mir vor, als säße ich schuldig vor einem Richter.
Sie ziehen nicht nach Saint-Rémy, sagte er unter der Tür zu mir. Es war ein vernichtender Satz. Die wenigen Worte ließen es so aussehen, als sei meine Hingabe an das, was ich für Leas Glück hielt, nichts weiter als eine Orgie väterlichen Ehrgeizes gewesen und der verzweifelte Versuch, sie an mich zu binden. Als müsse man meine Tochter vor allem vor mir beschützen. Wo ich doch für Lea nur diesen einen Wunsch hatte, diesen einen, alles verdrängenden Wunsch: daß die Trauer und Verzweiflung über Céciles Tod für immer vorbei sein möchten. Natürlich hatte dieser Wunsch auch mit mir zu tun. Natürlich hatte er das. Doch wer will mir das vorwerfen? Wer?«
In seinen Augen standen Tränen. Am liebsten wäre ich ihm mit der Hand über das windzerzauste Haar gefahren. Wie denn alles gekommen sei, fragte ich, nachdem wir uns an der Böschung in den Sand gesetzt hatten.
3
»ICH KANN AUF DEN TAG, ja die Stunde genau sagen, wann alles begann. Es war an einem Dienstag vor achtzehn Jahren, dem einzigen Wochentag, an dem Lea auch nachmittags Schule hatte. Ein Tag im Mai, tiefblau, überall blühende Bäume und Sträucher. Lea kam aus der Schule, neben sich Caroline, ihre Freundin seit den ersten Schultagen. Es tat weh zu sehen, wie traurig und erstarrt Lea neben der hüpfenden Caroline die wenigen Stufen zum Schulhof hinunterging. Es war der gleiche schleppende Gang wie vor einem Jahr, als wir zusammen aus der Klinik gekommen waren, in der Cécile den Kampf gegen die Leukämie verloren hatte. An diesem Tag, beim Abschied vom stillen Gesicht der Mutter, hatte Lea nicht mehr geweint. Die Tränen waren aufgebraucht. In den letzten Wochen vorher hatte sie immer weniger gesprochen, und mit jedem Tag, so schien es mir, waren ihre Bewegungen langsamer und eckiger geworden. Nichts hatte diese Erstarrung zu lösen vermocht: nichts, was ich mit ihr zusammen unternommen hatte; keines von den vielen Geschenken, die ich gekauft hatte, wenn mir schien, ich könne ihr einen Wunsch vom Gesicht ablesen; keiner meiner verkrampften Scherze, die ich der eigenen Erstarrung abtrotzte; auch nicht der Schuleintritt mit all den neuen Eindrücken; und ebensowenig die Mühe, die sich Caroline vom ersten Tag an gegeben hatte, sie zum Lachen zu bringen.
›Adieu‹, sagte Caroline am Tor zu Lea und legte ihr den Arm um die Schulter. Für ein achtjähriges Mädchen war das eine ungewöhnliche Geste: als sei es die erwachsene Schwester, die der jüngeren Schutz und Trost mit auf den Weg gab. Lea hielt den Blick wie immer zu Boden gesenkt und erwiderte nichts. Wortlos legte sie ihre Hand in die meine und ging neben mir her, als wate sie durch Blei.
Wir waren eben am Hotel SCHWEIZERHOF vorbeigegangen und näherten uns der Rolltreppe, die in die Bahnhofshalle hinunterführt, als Lea mitten im Strom der Leute stehenblieb. Ich war in Gedanken bereits bei der schwierigen Sitzung, die ich bald zu leiten hatte, und zog ungeduldig an ihrer Hand. Da entwand sie sich mit einer plötzlichen Bewegung, blieb noch einige Augenblicke mit gesenktem Kopf stehen und lief dann in Richtung Rolltreppe. Noch heute sehe ich sie laufen, es war ein Slalomlauf durch die eilige Menge, der breite Schultornister auf ihrem schmalen Rücken verfing sich mehr als einmal in fremden Kleidern. Als ich sie einholte, stand sie mit vorgerecktem Hals oben an der Rolltreppe, unbekümmert um die Leute, denen sie im Weg stand. ›Écoute!‹ sagte sie, als ich zu ihr trat. Sie sagte es in dem gleichen Tonfall wie Cécile, die diese Aufforderung auch stets auf französisch geäußert hatte, selbst wenn wir sonst deutsch sprachen. Für jemanden wie mich, dessen Kehle nicht für die hellen französischen Laute gemacht ist, hatte das spitze Wort einen befehlshaberischen, diktatorischen Klang, der mich einschüchterte, selbst wenn es um etwas Harmloses ging. Und so zügelte ich meine Ungeduld und horchte gehorsam in die Bahnhofshalle hinunter. Nun hörte auch ich, was Lea vorhin hatte innehalten lassen: die Klänge einer Geige. Zögernd ließ ich mich von ihr auf die Rolltreppe ziehen, und nun glitten wir, eigentlich gegen meinen Willen, in die Halle des Berner Bahnhofs hinunter.
Wie oft habe ich mich gefragt, was aus meiner Tochter geworden wäre, wenn wir es nicht getan hätten! Wenn uns kein Zufall diese Klänge zugespielt hätte. Wenn ich meiner Ungeduld und Anspannung der bevorstehenden Sitzung wegen nachgegeben und Lea mit mir fortgezogen hätte. Wäre sie der Faszination durch den Geigenklang bei anderer Gelegenheit, in anderer Gestalt erlegen? Was sonst hätte sie eines Tages aus ihrer lähmenden Trauer