Lea - Pascal Mercier - Teil 17
Zyniker? Ich weiß nicht, warum sie das sagte und ob sie dabei blieb. Ich habe sie nie gefragt; überhaupt habe ich sie viele wichtige Dinge nicht gefragt. Das merkte ich, wenn Lea mit ihren Fragen kam.«
Marie zählte mehr als alle anderen. Auch mehr als der Vater. Nur wenn es mit Marie Unstimmigkeiten gegeben hatte und sie sich verletzt fühlte, wandte sich Lea wieder ihm zu, und dann wollte sie die dampfenden und tropfenden Spaghetti auf dem Tennisschläger sehen.
»Lea wuchs nun schnell, fast sprunghaft, sie wurde erkennbar die Tochter eines großgewachsenen Vaters. Es wurde Zeit für ihre erste ganze Geige. Wir fuhren nach Zürich, nach Luzern und zu einem berühmten Geigenbauer nach St. Gallen. Katharina Walther war verschnupft, weil mir die Auswahl bei Krompholz nicht genügte. Marie fühlte sich übergangen, als wir mit einem Instrument zurückkamen, das wunderbar anzusehen war und noch viel schöner klang. Es kostete ein Vermögen, und als ich in der Bank stand und Aktien mit Verlust verkaufte, fragte ich mich fröstelnd, was ich da tat. Ich spüre noch heute, wie ich die ersten Schritte auf der Straße mit einer Vorsicht tat, als könnte der Asphalt unter mir jederzeit wegbrechen. Etwas in mir war ins Rutschen geraten, doch ich wollte es nicht spüren und nahm mir statt dessen vor, zu Hause ein kleines Fest zu veranstalten.
Wir saßen am Küchentisch, um die Einladungsliste zu machen. Es kam keine Liste zustande. Marie Pasteur bei uns zu Hause? Und gerade jetzt, nach der Verstimmung? Lea preßte die Lippen aufeinander und zeichnete mit dem Finger Muster auf die Tischplatte. Ich war froh darüber. Caroline? Sie kannte unsere Wohnung; aber als Partygast? Andere Mitschüler vielleicht? Die ganze Klasse, zusammen mit dem Musiklehrer? Ich klappte das Notizbuch zu. Wir hatten keine Freunde.
Ich machte Reis mit Safran, und nach dem schweigsamen Essen ging Lea in ihr Zimmer, um auf der neuen Geige zu üben. Sie hatte einen warmen, goldenen Klang, und nach ein paar Minuten machte es nichts mehr, daß wir keine Freunde hatten.«
Van Vliet erlebte Leas Ehrgeiz, ihren Fanatismus, auch ihre Kälte, wenn ihr jemand im Weg stand. Markus Gerber war längst auf der Strecke geblieben. Ein anderer Junge verliebte sich in die Vierzehnjährige und machte den schrecklichen Fehler, sich zum Geburtstag eine Geige schenken zu lassen. Leas Kommentar war grausam. Bei solchen Gelegenheiten fror der Vater. Doch dann kam sie nach einer verunglückten Stunde bei Marie nach Hause, weinte, schmiegte sich an ihn und war wieder das kleine Mädchen, das hin und wieder sonderbare, ein bißchen unlogische Dinge sagte.
»Dann war da die Sache mit Paganini. Die Griffe, die er verlangt, sind unmenschlich, Lea hat mir gezeigt, wie sie sein müßten. Il diablo, wie sie ihn nannten, konnte eine unglaublich große Spanne greifen. Und für solche Hände schrieb er. Lea begann mit Dehnübungen. Marie verbot es ihr. Sie machte heimlich weiter, las Bücher über Niccolò. Erst als Marie ihr ein Ultimatum stellte, hörte sie auf.
Ich wußte, daß es nicht gutgehen konnte, ich wußte es die ganze Zeit. Der Fanatismus. Die Kälte. Die sonderbaren Äußerungen. Ich hätte mit Marie reden sollen. Sie fragen, ob sie nicht auch merkte, wie gefährlich es wurde. Aber ich … enfin, es war Marie, ich wollte nicht … Und ich wollte ja auch nicht, daß Leas Töne aus der Wohnung verschwänden, es wäre eine fürchterliche Stille gewesen. Später dann habe ich sie gehört, diese schrecklich Stille, diese Totenstille. Heute abend werde ich sie wieder hören müssen.«
Mit jedem Kilometer kamen wir ihr nun näher, dieser Stille in seiner neuen und – wie er gesagt hatte – kleinen Wohnung, die ich mir, ich weiß nicht warum, schäbig vorstellte, mit einem Treppenhaus voller unangenehmer Gerüche. Unwillkürlich fuhr ich langsamer.
»In der Zeit vor dem ersten Wettbewerb, an dem sie teilnehmen würde, wachte ich in der Morgendämmerung auf und dachte: Ich habe mein eigenes Leben vergessen; seit Loyola de Colón denke ich nur noch an Leas Leben. Unrasiert fuhr ich durch menschenleere Straßen zum Bahnhof. Langsam ging ich die noch unbewegliche Rolltreppe von damals hinunter und versuchte mir vorzustellen, wie es gewesen war, ich zu sein, bevor die Violinmusik die Regie über mein Leben übernommen hatte. Kann man wissen, wie es früher war, wissend, wie es später kam? Kann man es wirklich wissen? Oder ist, was man bekommt, das Spätere, betäubt durch den krampfhaften Gedanken, es sei das Frühere?
Mit dem Aufzug fuhr ich zur Universität hinauf und ging ins Institut, das zu dieser frühen Stunde leer und still war. Ich sah die Post durch und rief die elektronischen Botschaften ab. All das galt einem, der ich war und doch auch nicht mehr war. Zwei eilige Anfragen beantwortete ich knapp, dann schloß ich das Büro ab. Die Titel vor meinem Namen an der Bürotür berührten mich heute morgen besonders lächerlich, geradezu affig. Draußen erwachte die Stadt. Verwirrt stellte ich fest, daß es mich ins Monbijou zog, das Quartier, wo ich in einer Mietskaserne aufgewachsen war. Das vergessene Leben, auf dessen Suche ich war, schien gar nicht mein berufliches Leben zu sein, sondern das Leben davor und dahinter.
Die Mietskaserne sah noch genau so aus wie damals. Dort oben, im dritten Stock, war mein erster Berufswunsch herangereift: Ich wollte Geldfälscher werden. Ich lag auf dem Bett und malte mir aus, was man dazu alles können mußte. Es hatte nichts damit zu tun, daß mein Urgroßvater ein betrügerischer holländischer Banker war, der in die Schweiz flüchtete. Das erfuhr ich erst viel später. Banknoten hatten mich schon als kleiner Junge fasziniert. Daß man im Geschäft für ein Stück farbiges Papier Pralinen bekam, fand ich unglaublich. Ich war maßlos erstaunt, daß man uns nicht nachlief und einsperrte, als wir mit den Pralinen hinausgingen. Ich fand es so unglaublich, daß ich es stets von neuem ausprobieren mußte. Ich begann, aus Mutters Geldschatulle Scheine zu stehlen. Es war verblüffend leicht und ungefährlich, denn sie reiste mit ihren modischen Schnittmustern durchs Land und war selten zu Hause, ebenso selten wie der Vater, der mit pharmazeutischen Produkten bei den Ärzten die Runde machte. Später ging ich in jeden Film, bei dem es ums Fälschen ging, auch das Fälschen von Gemälden. Ich war enttäuscht und voller Groll, als die Zahlgewohnheiten um mich herum immer ungreifbarer wurden. Kaum kannte ich mich mit Computern aus, rächte ich mich mit Plänen für einen elektronischen Bankeinbruch. Es war unglaublich, daß es jetzt nur noch um das klickende Verschieben von Zahlen ging, die gar nicht wirklich existierten. Ich fand das noch unglaublicher als die Sache mit den Pralinen.
Wenn der Vater von seinen Touren als Vertreter zurückkam, war er erschöpft und gereizt. Er hatte keine Kraft und keine Lust, sich mit seinem Jungen zu beschäftigen, einem Kind, das nicht geplant gewesen war. Aber den einen Weg zueinander fanden wir doch: Schach. Da konnte man zusammensitzen und mußte nicht reden. Mein Vater war ein impulsiver Spieler mit brillanten Einfällen, aber ohne das Stehvermögen, sie gegen zäh rechnende Gegner wie mich durchzusetzen. Er verlor immer öfter. Was ich ihm nie vergessen werde, ist, daß er nicht verärgert über seine Niederlagen war, sondern stolz auf meine Siege.
Auch im Krankenhaus spielten wir noch. Ich glaube, er war froh, daß die Hetzerei des Verkäuferdaseins ein Ende hatte, als das Herz nicht mehr mitmachte. Er erlebte gerade noch mein frühes Doktorexamen. Er grinste. ›Dr. Martijn van Vliet. Klingt gut. Klingt sehr gut. Das hätte ich nicht gedacht, daß du das schaffst, wo du ständig in Schachclubs herumhängst.‹ Meine Mutter, deren Schnittmuster aus der Mode gekommen waren, zog in eine kleinere Wohnung. Bevor ich mich nach meinem wöchentlichen Besuch verabschiedete, ging ich mit einer Ausrede in ihr Schlafzimmer und legte ein paar Geldscheine in die Schatulle. ›Aber du brauchst das Geld doch selbst‹, sagte sie hin und wieder. ›Ich drucke es‹, sagte ich. ›Martijn!‹ Sie erlebte noch die Geburt von Lea. ›Daß du jetzt Vater bist!‹ sagte sie. ›Wo du doch immer ein so schrecklicher Einzelgänger warst.‹
Auf der Bundesterrasse spielten zwei Männer Schach mit riesigen Figuren, die ihnen bis zum Knie reichten. Die Partie war in den letzten Zügen. Der alte Mann würde verlieren, wenn er jetzt das Naheliegende tat und den angebotenen Bauern schlug. Unsicher sah er mich an. Ich schüttelte den Kopf. Er zog an dem Bauern vorbei. Der junge Mann, der unseren stummen Austausch beobachtet hatte, fixierte mich. Es ist besser, man tut das mit mir nicht; man kann nur verlieren.
Er verlor die Partie nach fünf Zügen, die ich dem alten Mann diktierte. Der Alte wäre gerne etwas mit mir trinken gegangen, aber ich war auf der Suche nach meinem Leben und zog weiter über die Kirchenfeldbrücke zu meinem Gymnasium. Die Schüler, die ein Vierteljahrhundert jünger waren als ich, strömten in den Unterricht. Verwirrt stellte ich fest, daß ich mich ausgeschlossen fühlte, als sich die Türen zu den Klassenzimmern schlossen. Wo ich damals doch den Rekord im Schwänzen hielt.
Ich betrat die leere Aula, die nach der gleichen Wichse roch wie damals. Wie viele Simultanturniere hatte ich hier drin gespielt? Ich wußte es nicht mehr. Nur drei Partien hatte ich insgesamt verloren. ›Immer gegen Mädchen‹, sagten sie grinsend, ›und immer mit kurzen Röcken.‹
Am meisten Spaß machte es, gegen Beat Käser zu spielen, Hans Lüthis Intimfeind, bei dem ich Geographie hatte. Käser war ein phantasieloses Individuum mit einem riesigen Unterkiefer, über dem sich die Haut glänzend spannte, und er war für sein Gefühl vor allem das eine: Generalstabsoffizier. Am liebsten hätte er in der Uniform mit Dolch unterrichtet. Geographie bestand für ihn darin,