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Lea - Pascal Mercier - Teil 16

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weit nach hinten, wo er sich im Ungefähren verlor, unser Atem ging im Gleichklang, die Versuchung der Lippen, wir erlebten, durchschritten, verbrannten unser gemeinsames Leben, das nicht möglich war, weil es für mich nicht möglich war.

Eine Woche noch wischte mir Liliane bei der Arbeit den Schweiß von der Stirn. Dann, an einem Montag morgen, brachte mir die Sekretärin einen Umschlag, zögernd, weil sie wußte, daß er von Liliane war. Ein kleiner Bogen Papier, eigentlich nur ein Zettel, hellgelb: Adrian – I tried, I tried hard, but I can’t, I just can’t. Love. Liliane.

Ich habe kein Foto von ihr, und die drei Jahrzehnte haben ihre Züge verwischt. Zwei genaue Erinnerungsbilder aber sind geblieben, genau weniger in den sinnlichen Konturen als in der Ausstrahlung: am Tisch im Schwesternzimmer, rauchend, und: auf dem Sofa, mit untergeschlagenen Beinen, den Strohhalm zwischen den Lippen. Und ich habe ein Foto von der Treppe gemacht, auf der wir damals, in der Morgendämmerung, vor ihrem Haus saßen. Bevor wir Boston verließen, bin ich hingefahren und habe das Bild gemacht. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und Schnee türmte sich auf Geländer und Stufen. Ein Märchenbild. An Leslies Geburtstag denke ich daran, immer. Daran, daß ich sie an jenem Tag um ein Haar verraten hätte.

Nach einem Jahr rief mich Liliane in der Klinik an. Sie war aus Boston geflohen und war nach Paris gegangen, zu den Médecins sans Frontières. Einsätze in Afrika und Indien. Es gab mir einen Stich. Das hätte ich mir auch vorstellen können. In der Nacht nach dem Anruf schützte ich Nachtdienst vor und blieb in der Klinik. Es paßte so gut zu ihr, so unheimlich gut, und ich beneidete sie um die Stimmigkeit ihres unsteten Lebens, um die Stimmigkeit, wie ich sie mir vorstellte. Faces along the bar/Cling to their average day:/ The lights must never go out,/The music must always play … Auch diese Zeilen von W.H. Auden hatte sie damals, auf dem Sofa, rezitiert. Sie hatten nach etwas bloß Atmosphärischem geklungen, etwas Privatem, wie eine Begleitmelodie zu einem Bild von Edward Hopper. Erst später entdeckte ich, daß sie zu einem eminent politischen Gedicht gehörten, das vom deutschen Überfall auf Polen handelte. Und auch das hatte gepaßt: In ihrem blauen Blick hatte neben der Hingabe auch Wut gelegen, Wut auf die Feiglinge und Übeltäter dieser Welt. Und so hatte sie ihre flinken, ruhigen Hände und die Schnelligkeit ihres Denkens in den Dienst der Opfer gestellt.

In unregelmäßigen Abständen kamen weitere Anrufe, es waren sonderbare Gespräche, sprunghaft und intensiv, grand, sie sprach von Hunger und anderem Leid, dann wieder beschrieb sie mir ihre Stimmung, als hätten wir uns damals, in ihrem Flur, nicht nur mit der Stirn berührt, sondern auch mit den Lippen. Ich nannte ihr die Klinik, an der ich in der Schweiz arbeiten würde, und auch dorthin kamen Anrufe. Als sie mir von den Médecins sans Frontières erzählte, hatte ich nachher das Gefühl, auf dem falschen Kontinent zu leben. Und als wir in Kloten aufsetzten, dachte ich: Jetzt bin ich ihr näher. Es war Unsinn, denn sie konnte ja wer weiß wo sein; aber ich dachte es trotzdem. Darüber erschrak ich und warf Leslie neben mir einen verstohlenen Blick zu. Als die Anrufe Jahre später aufhörten, rief ich eines Tages in Paris an und fragte nach ihr. Sie war bei einem ihrer Einsätze tödlich verunglückt. Da wurde mir klar, daß ich die ganze Zeit über ein Leben mit ihr geführt hatte. Die Monate, in denen wir nichts voneinander gehört hatten und in denen ich auch nicht ausdrücklich an sie gedacht hatte, änderten daran nichts. Unser gemeinsames Leben ging weiter, schweigsam, bruchlos und verschwiegen.

Van Vliets Frage vor dem offenen Aufzug hatte mich aus der Fassung gebracht, weil sie mir klargemacht hatte, daß ich dieses verschwiegene Leben mit Liliane immer noch lebte, obwohl ich es schon lange vor niemandem mehr verschweigen mußte. Un accident mortel, hatte der Franzose damals am Telefon gesagt. Etwas in mir muß sich geweigert haben, es zur Kenntnis zu nehmen, und so habe ich mit ihr weitergemacht, als lebte sie ihr streunendes Leben weiter, ihr Leben und mein Leben und unser Leben.

Ich dachte an den Abschied von Joanne, den endgültigen Abschied am Flughafen. »I will say one thing for you, Adrian: You are a loyal man, a truly loyal man.« Ich weiß nicht, warum, aber es klang wie die Feststellung eines Charakterfehlers, unter dem sie hatte leiden müssen. Ein bißchen, als hätte sie gesagt: ein Mann ohne Phantasie, ein Langweiler. Ich hatte vorgehabt, von der Aussichtsterrasse aus zuzusehen, wie die Frau, mit der ich elf Jahre verheiratet gewesen war, zurück in ihre Heimat flog. Doch die Bemerkung hatte mich verstört, und ich ließ es. Zu Hause suchte ich das Foto von Lilianes Haus mit der verschneiten Treppe heraus.

Ich war in den Kleidern eingeschlafen und fror. Kurz bevor ich aufwachte, sah ich Liliane in den klackenden Clogs über den Kinikflur gehen. Sie kleidete sich jetzt in Batik und badete in Chintz.

Ich duschte, zog etwas anderes an und ging in der Morgendämmerung durch Saint-Rémy. Eine Weile stand ich vor Van Vliets Hotel. Ich machte ein paar Fotos und schlief dann noch ein bißchen, bis es Zeit wurde, ihn abzuholen.

12

DIE LANDSCHAFT DER PROVENCE war in schattenloses, kreidiges Winterlicht getaucht, als wir losfuhren. Jeder Ausschnitt wirkte wie ein riesiges Aquarell in Farben, die waren, als hätte man sie mit Weiß abgemischt. Ich sah die hitzeflimmernden, endlosen Straßen vor mir, auf denen ich mit Joanne und Leslie durch den amerikanischen Westen gefahren war. Changing skies, eine Formulierung, die mir sofort gefallen hatte, weil sie die Erfahrung der riesigen Dimensionen, die eine so typisch amerikanische Erfahrung ist, in zwei Worten zum Ausdruck bringt. Ein gebieterisches Licht füllte den hohen Himmel, ein Licht, das nichts als den Augenblick gelten ließ, weder den Gedanken an die Vergangenheit noch an die Zukunft, ein Licht, das blind machte für die Frage, woher man kam und wohin man ging, ein Licht, das alle Fragen nach Sinn und Zusammenhang unter seiner gleißenden Wucht erstickte. Was für ein Unterschied zu dem diskreten Licht an diesem Morgen! Angenehm für die Augen, sanft und nachsichtig, dann aber doch unbarmherzig, weil es allem den falschen Zauber nahm und jede Kleinigkeit, auch jede häßliche, gnadenlos hervortreten ließ, so daß die Dinge sich zeigen konnten, wie sie wirklich waren. Ein Licht wie geschaffen für ruhige, furchtlose, unbestechliche Erkenntnis aller Dinge, seien es fremde oder die eigenen.

Der Kellner im Café von gestern trug die Weste offen, sie hing nachlässig an ihm herunter, und er hatte Zigarettenasche auf dem Hemd. Er hustete. Nein, ich hätte nicht mit ihm tauschen mögen.

In Avignon gab ich den Mietwagen ab. Van Vliet hielt mir seine Autoschlüssel hin. Es war anders als gestern, bei der Pferdekoppel in der Camargue. Dort hatte er gesagt, ihm sei nicht besonders, und man hätte an Übelkeit denken können. Jetzt brauchte er keine Ausrede. Überhaupt brauchte er keine Erklärung. Er gab mir einfach die Schlüssel. Ich war sicher: Er wußte, daß ich wußte, warum. Wieder waren unsere Gedanken verschränkt. Wie gestern, als der Neufundländer ihm die Hand geleckt hatte und wir beide voneinander wußten, daß wir an Leas Hände dachten, die sich vor allem gefürchtet hatten, nur vor Tieren nicht.

Neben uns auf dem Parkplatz stritt sich ein junges Paar, er sprach deutsch, sie französisch, und das Bestehen auf den verschiedenen Sprachen wirkte wie ein Waffengang.

»Mit mir sprach Lea immer deutsch, mit Cécile meistens französisch«, sagte Van Vliet beim Losfahren, »besonders, wenn sie mit ihr gegen mich sprach. Auf diese Weise wurde aus meiner Liebe zu Céciles Französisch ein Haß auf Leas Französisch.«

Lea hatte im Fieber ihrer Fortschritte gelebt. Ihre Triumphe beim Bewältigen technischer Schwierigkeiten jagten sich. Auch die Triller wurden besser. Vater und Tochter lebten jetzt in einer Wohnung, die durch die Brandung der Töne mehr und mehr zu einer neuen Wohnung geworden war, in der über Céciles Abwesenheit immer seltener gesprochen wurde. Lea störte das weniger als den Vater. Ab und zu dann, scheinbar aus heiterem Himmel, wollte Lea alles über ihre Mutter wissen. Van Vliet spürte, daß sie sie mit Marie verglich.

»Ich merkte, daß nichts von dem, was ich sagte, stimmte. Alles falsch. Merde. Nach diesen Gesprächen lag ich wach und dachte an unsere erste Begegnung im Kino. Es war kurz nach meiner Promotion. Un homme et une femme, mit Jean-Louis Trintignant, der einer Frau wegen im Auto von der Côte d’Azur nach Paris rast, eine ganze Nacht lang. Céciles Parfum neben mir roch, als sei es auch das Parfum der Frau auf der Leinwand. Am nächsten Tag habe ich die Stadt abgesucht, bis ich es hatte. Ein Parfum von Dior. In der Pause blieben wir beide sitzen und schimpften über die Unsitte, einen Film zu unterbrechen, um Eis zu verkaufen. Auf der Straße sahen wir uns einen Moment länger an, als Zufallsbekannte es sonst tun. Wenn ich denke, daß es dieser Moment war, der über alles entschied, auch über Lea, ihr Glück und die Katastrophe, in die es mündete. Das Kino royal an der Laupenstraße. Ein warmer Sommerabend. Ein bißchen Feuchtigkeit auf unseren Augäpfeln. Mein Gott.

›Martijn, der romantische Zyniker!‹ sagte sie, als ich beim nächsten Treffen von Trintignants übernächtigtem Gesicht auf der Fahrt nach Paris sprach und davon, daß er, indem er fuhr und fuhr, alles gegeben hatte, einfach alles. ›Ich dachte nicht, daß es das wirklich gibt!‹ Sie sprach meinen Namen französisch aus, das hatte noch niemand getan, und ich mochte es. Aber

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