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Lea - Pascal Mercier - Teil 13

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daran geleckt. War das das Ende? Geigerin mit Kolophonium-Allergie? War das nicht eine Unmöglichkeit?

Mit einem Fanatismus, an den ich ungern zurückdenke, studierte ich die Literatur über Allergien und erfuhr, wie wenig man weiß. Berge von Salben türmten sich im Bad. Mein tägliches Telefonieren mit dem Arzt rief bei den Helferinnen Spott hervor, ich erkannte ihn am unvorsichtigen Kichern. Die Apothekerin hob erstaunt die Brauen, wenn ich zum dritten Mal am selben Tag erschien. Als sie von Streß sprach, von Psychosomatik und Homöopathie, wechselte ich die Apotheke. Ich glaube an Zellen, Mechanismen, Chemie, nicht an feinsinnige Märchen, die mit wissendem Ausdruck vorgetragen werden.

Mit unbarmherziger Akribie zwang ich Lea, sich an alles zu erinnern, womit sie in den vergangenen Tagen in Berührung gekommen war, besonders an alles Ungewohnte. Auch mit der Nase sollte sie sich erinnern. Es gab Tränen ob meiner Unnachgiebigkeit des Forschens.

Und dann hatte sie es plötzlich: Die Bänke im Klassenzimmer rochen anders als sonst. Wir fuhren hin, sprachen mit dem Hausmeister. Und tatsächlich: Er hatte ein neues Reinigungsmittel benutzt. Ich nahm eine Probe mit, und der Arzt machte einen Allergietest. Es war dieses Mittel, nicht das Kolophonium. Ich notierte die Zusammensetzung und klebte den Zettel an den Kühlschrank. Er hing dort, bis er gelb wurde.

Ich wollte die erlösende Nachricht feiern, und wir gingen fein essen. Aber Lea saß zusammengekauert vor dem Teller und rieb die rauhen, gefühllosen Fingerkuppen am Tischtuch. Noch jetzt meine ich das leise scheuernde Geräusch zu hören.

Eine Woche lang war es für sie, als trüge sie Handschuhe aus Sandpapier. Mehrmals am Tage griff sie zur Geige, aber es war hoffnungslos. Dann begann die Hautkruste aufzuplatzen, und darunter kam die neue Haut zum Vorschein, unter der es rot pulsierte und die noch keinerlei Berührung vertrug. Als die kranke Haut schließlich abfiel wie eine Kollektion zerborstener Fingerhüte, lief Lea durch die Wohnung, besänftigte die empfindlichen Kuppen durch Blasen und probierte jede Stunde aus, ob sie jetzt die Berührung mit einer Saite vertrügen. Tagelang lebten wir, so will es mir heute scheinen, wie in einem Gefängnis, dessen unsichtbare Mauern durch die in alle Ewigkeit vorweggenommene Angst gebildet wurde, so etwas könne jederzeit wieder passieren.

Und noch einen anderen Kerker gab es: Die Stunden mit Marie fielen aus. Mit erstickter Stimme, in der sich Wut und Tränen mischten, erzählte Lea, daß jemand anderes – jemand anderes! – zu ihren Zeiten – ihren Zeiten! – bei Marie im Musikzimmer war. Als es schließlich soweit war und ich sie bei Marie absetzte, sah ich, daß die Hände mit den unnatürlich roten Kuppen schweißnaß waren und der Hals mit den roten Flecken der Aufregung übersät war.

Ob jemals etwas mit Leas Händen gewesen sei, fragte der Maghrebiner. Die Frage nötigte mir Achtung ab, das kann ich nicht leugnen. Nein, sagte ich. Eine Weile schwieg er, und jetzt war das Geräusch des Ventilators wirklich aufdringlich. Nein, sagte ich noch einmal, gegen meinen Willen. Auch die Sache mit dem Karussell und dem goldenen Ring habe ich ihm verschwiegen.

Die Mitarbeiter nahmen es mir übel, daß ich wegen Leas Ekzem – wegen eines Ekzems! – nicht zu der Konferenz gefahren war, um unsere letzten Forschungsergebnisse vorzustellen. Und vor allem, daß ich abgesagt hatte, ohne Ruth Adamek an meiner Stelle hinzuschicken. ›Könnte es sein, daß du es wieder einmal vergessen hast?‹ fragte sie, und es lag eine Härte in der Stimme, die mir zeigte, daß ich immer mehr an Boden verlor.

Auch die Universitätsspitze zeigte sich enttäuscht. Doch eine wirkliche Gefahr war damals nicht zu erkennen. Solange ich nicht die silbernen Löffel stahl, konnte man mir nichts anhaben. Und von den verstörenden Geschehnissen, die mich dazu brachten, sie zu stehlen, konnte ich damals noch nichts wissen.«

9

»LEAS ERSTER ÖFFENTLICHER AUFTRITT fand an dem Tag statt, an dem die Primarschüler der vierten Klasse entlassen wurden. Der Schulleiter, ein griesgrämiger, gefürchteter Mann, hatte sie in sein Büro bitten lassen, die Sekretärin hatte ihr Tee und Biscuits angeboten, und dann hatte er sie gefragt, ob sie an jenem Tag etwas spielen würde. Sie muß so geschmeichelt gewesen sein, daß sie auf der Stelle zusagte. Aufgeregt, wie im Fieber, platzte sie in eine Besprechung in meinem Büro. Ich ging mit ihr im Korridor auf und ab, bis die flackernde Panik sich gelegt hatte. Dann schickte ich sie zu Marie, und als sie nach Hause kam, wußte sie, was sie spielen würde.

Lampenfieber kannte ich bis dahin kaum. Vor meinen ersten Vorträgen war ich eher aufgedreht als flattrig gewesen, und als ich zum ersten Mal in einem Hörsaal stand, fand ich das räumliche Arrangement, das ich als Student über viele Jahre von der anderen Seite aus erlebt hatte, eher lächerlich als beängstigend. Doch nun, wo es gar nicht um mich ging, sollte ich das Lampenfieber kennenlernen.

Ich lernte es hassen und fürchten, und ich lernte es auch lieben und vermissen, wenn es vorbei war. Es einte Lea und mich, und es trennte uns auch. Ihre feuchten Hände wurden auch meine feuchten Hände, ihre Zerstreutheit und Fahrigkeit wucherte auch in mich hinein. Es gab Momente, da vibrierten unsere Nerven wie die eines einzigen Wesens. Das durfte auch nicht anders sein; Lea fiel in einen Abgrund an Verlassenheit, wenn sie den Eindruck hatte, daß ich nicht mitfieberte. Und doch bestand sie auch darauf, daß sie es war, die Grund zur Angst hatte, nicht ich. Es war nicht mit Worten, daß sie darauf bestand; wir sprachen kaum über den allgegenwärtigen fiebrigen Wahn, der uns umfing. Aber sie ging sofort wieder aus dem Zimmer, wenn sie mich antraf, wie ich am Balkonfenster eine meiner seltenen Zigaretten rauchte. Sie ist trotz allem noch ein kleines Mädchen, sagte ich mir dann, was erwartest du.

In solchen Momenten spürte ich die Einsamkeit, die Cécile in mir zurückgelassen hatte. Ich spürte sie wie einen inneren Frost.

Als Lea am frühen Abend des Konzerts aus dem Bad kam, verschlug es mir den Atem. Das war kein Mädchen von elf Jahren. Das war eine junge Dame, eine Lady, die darauf wartete, daß die Scheinwerfer angingen. Das schlichte schwarze Kleid hatten wir zusammen ausgesucht. Aber wo hatte sie gelernt, sich so zu pudern und zu kämmen? Wo hatte sie den Lippenstift her? Sie genoß meine Verblüffung. Ich machte ein Foto von ihr, das ich in die Brieftasche steckte und nie gegen ein anderes austauschte.

Warum läßt sich die Zeit nicht anhalten? Warum konnte es nicht bleiben, wie es an jenem schwülen, gewittrigen Abend im Hochsommer war, eine Stunde, bevor mir Lea von den vielen Blicken und den vielen klatschenden Händen weggenommen wurde, entwendet direkt vor meinen Augen, ohne daß ich das geringste dagegen tun konnte?

Ich habe keine zusammenhängende Erinnerung an den Abend, es ist, als hätte ihn die Heftigkeit der Gefühle in Stücke gerissen und nur verstreute Splitter übriggelassen. Wir nahmen ein Taxi zur Schule, an diesem Abend durfte uns im Verkehr auf keinen Fall etwas zustoßen. Als wir am Bahnhof vorbeikamen, dachte ich: Noch keine drei Jahre ist es her, und jetzt gibt sie ihr erstes Konzert. Ob das auch Leas Gedanke war, weiß ich nicht, aber sie legte ihre Hand in die meine. Sie war feucht und fühlte sich gar nicht wie eine Hand an, die bald mit sicheren Griffen Bach und Mozart spielen würde. Als ich ihren Kopf an der Schulter spürte, dachte ich einen Moment lang, sie wolle umkehren. Es war ein erlösender Gedanke, der im unruhigen Schlaf der kommenden Nacht stets von neuem aufblitzte, begleitet von einem Gefühl der Ohnmacht und Vergeblichkeit.

Das nächste, was ich vor mir sehe, ist, wie Marie Pasteur Lea mit dem Daumen das Kreuz auf die Stirn zeichnete. Ich traute meinen Augen nicht und verlor vollends die Fassung, als sich Lea bekreuzigte. Meine Tochter war nie getauft worden und hatte, soweit ich wußte, nie eine Bibel in der Hand gehabt. Und nun bekreuzigte sie sich, und dazu mit einer Selbstverständlichkeit und Grazie, als habe sie das ihr Leben lang getan. Es hat lange gedauert, bis ich verstand, daß es nicht das war, was es zunächst schien: Maries Versuch, aus Lea eine Katholikin zu machen. Daß es einfach ein Ritual war, das die beiden verband, eine Geste, mit der sie sich einer Zuneigung und Verbundenheit versicherten, die ihnen größer vorkam als sie selbst. Und auch als ich es schließlich begriffen hatte, blieb eine leise Empfindung von Entfremdung und Verrat. An jenem Abend flackerte der Anblick immer wieder in mir auf, bevor er jeweils vom Geschehen auf der Bühne der Aula überdeckt wurde.

Lea stieg die paar Stufen empor, die Hand am Kleid, um nicht über den Saum zu stolpern. In der Mitte der Bühne, ein paar Schritte vom Flügel entfernt, blieb sie stehen und verbeugte sich mehrmals vor dem klatschenden Publikum. Das hatte ich noch nie gesehen, mein Blick hing an ihren anmutigen Bewegungen. Hatte ihr Marie das gezeigt? Oder hatte sie es einfach in sich?

Marie ließ ihr Zeit, es sollte Lea sein, ganz allein sie, die im Rampenlicht stand. Dann ging sie lautlos und unauffällig auf die Bühne und setzte sich an den Flügel. Sie trug ein nachtblaues, hochgeschlossenes Batikkleid, und weil sie auch bei unserer ersten Begegnung Batik getragen hatte, kam es mir einen Augenblick lang vor, als hätten die beiden das Musikzimmer von Maries Wohnung hierher mitgebracht. Es war ein schönes Gefühl, denn es bedeutete, daß Lea auch auf der Bühne bei Marie geborgen war, wie beim Üben in ihrer Wohnung. Doch es war flüchtig, dieses Gefühl, und wurde bald weggewischt von einem anderen: daß sie dort oben

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