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Kompass - Teil 1

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Über das Buch

Unter dem Schock einer alarmierenden medizinischen Diagnose verbringt Franz Ritter, Wiener Musikwissenschaftler, eine schlaflose Nacht. Schon lange hat er kaum mehr seine Wohnung verlassen, die über die Jahre zu einer einzigen großen Bibliothek des europäischen Orientalismus geworden ist. In dieser einsamen Nacht begibt er sich im Geiste noch einmal auf Reisen zu all den Orten, an die ihn seine Studien geführt haben: nach Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra, alles Orte, die für ihn untrennbar mit Sarah verbunden sind, der berühmten Orientalistin – seine große Liebe. Unentrinnbar gerät man in den Sog der Erinnerung dieses enzyklopädisch gebildeten, sehnsuchtsvoll liebenden Gelehrten, der immer mehr Dokumente, Romanzen, Fakten, Geschichten hervorzaubert, die von dem entscheidenden Beitrag des Orients zur westlichen Kultur und Identität zeugen.

Hanser E-Book

Mathias Enard

Kompass

Roman

Aus dem Französischen von

Holger Fock und Sabine Müller

Carl Hanser Verlag

Die Augen schließ’ ich wieder,

Noch schlägt das Herz so warm.

Wann grünt ihr Blätter am Fenster?

Wann halt’ ich mein Liebchen im Arm?

Wilhelm Müller & Franz Schubert,

Die Winterreise

Wir sind zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke, ohne etwas draußen zu sehen, allein, ohne uns je zu verstehen, wir rauchen, sterbende Gesichter in einem Spiegel, wir sind ein gefrorenes Bild, dem nur die Zeit den Anschein von Bewegung verleiht, ein Schneekristall, der auf ein Raureifknäuel gleitet, dessen komplexes Geflecht niemand wahrnimmt, ich bin dieser kondensierte Wassertropfen an der Fensterscheibe meines Wohnzimmers, eine flüssige Perle, die hinabrinnt und nichts vom Dampf weiß, aus dem sie hervorgeht, und nichts von den Atomen, aus denen sie noch besteht und die bald andere Moleküle bilden werden, andere Gebilde, die Wolken, die heute Abend tief über Wien stehen: Wer weiß, in welchen Nacken dieses Wasser rinnen wird, über welche Haut, auf welchen Gehsteig, zu welchem Fluss, und dieses verschwommene Gesicht auf dem Glas ist nur einen Augenblick lang meines, eine der Millionen Konfigurationen, die sich in der Einbildung formen können – sieh an, trotz des Sprühregens führt Herr Gruber seinen Hund spazieren, er trägt einen grünen Hut und seinen ewigen Regenmantel; mit kleinen, lächerlich wirkenden Sprüngen auf dem Gehsteig schützt er sich vor dem Spritzwasser der Autos: Der Köter glaubt, sein Herrchen wolle spielen, deshalb springt er an ihm hoch und fängt sich einen kräftigen Klaps ein, als er seine schmutzige Pfote an den Regenmantel von Herrn Gruber legt, der sich schließlich trotzdem der Fahrbahn nähert, um über die Straße zu gehen, wobei seine Silhouette von den Straßenlampen in die Länge gezogen wird, eine schwarze Pfütze in einem Meer von Schatten hoher Bäume, das von den Scheinwerfern in der Porzellangasse zerrissen wird, und Herr Gruber zögert offenbar, in die Dunkelheit am Alsergrund einzutauchen, wie ich zögere, abzulassen von meinen Betrachtungen über die Regentropfen, das Thermometer und den Rhythmus der Straßenbahnen, die zum Schottentor hinunterfahren.

Das Leben ist ein schmerzendes Spiegelbild, der Traum eines Opiumsüchtigen, ein Gedicht von Rumi, gesungen von Shahram Nazeri, das Ostinato des Zarb lässt die Fensterscheibe unter meinen Fingern leicht zittern wie die Haut der Trommel, statt zu schauen, wie Herr Gruber im Regen verschwindet, statt den sich in die Höhe schraubenden Melismen des iranischen Sängers zu lauschen, dessen Kraft und Timbre manch einem unserer Tenöre die Schamesröte ins Gesicht treiben könnten, sollte ich lieber mit meiner Lektüre fortfahren. Ich sollte die CD anhalten, mich dabei zu konzentrieren ist unmöglich; obwohl ich diesen Sonderdruck zum zehnten Mal lese, verstehe ich seinen rätselhaften Sinn nicht, zwanzig Seiten, zwanzig entsetzliche, lähmende Seiten, die ausgerechnet heute bei mir angekommen sind, heute, wo ein mitfühlender Arzt meiner Krankheit vielleicht einen Namen gegeben und meinen Körper offiziell für krank erklärt hat, nachdem er fast mit Erleichterung eine Diagnose meiner Symptome stellen konnte – den Todeskuss –, eine Diagnose, die noch bestätigt werden muss, während, wie er meinte, die Behandlung schon beginnen und der weitere Verlauf abgewartet werden sollte, den Verlauf, so weit sind wir also schon, den Verlauf eines Wassertropfens beobachten bis zu seinem Verschwinden, bevor er sich im Großen All neu bildet.

Es gibt keine Zufälle, alles hängt zusammen, würde Sarah sagen, warum bekomme ich ausgerechnet heute diesen Artikel mit der Post zugesandt, einen altbackenen Sonderdruck, mit Heftklammern gebunden, und nicht als PDF, versehen mit »den besten Empfehlungen«, einer Mail, in der sie mir ein paar Neuigkeiten hätte berichten und mir mitteilen können, wo sie sich gerade aufhält, was es mit diesem Sarawak auf sich hat, von wo sie schreibt und das meinem Atlas zufolge ein malaysischer Bundesstaat ist, der im Nordwesten der Insel Borneo liegt und an Brunai mit seinem reichen Sultan grenzt, in Nachbarschaft auch, wie mir scheint, zu Debussys und Brittens Gamelan-Ensembles – aber der Artikel handelt von etwas anderem, nicht von Musik, abgesehen vielleicht von einem langen Klagelied; zwanzig eng bedruckte Seiten aus der Septembernummer von Representations, der schön gemachten Zeitschrift der Universität von Kalifornien, in der sie schon häufig veröffentlicht hat. Der Artikel trägt eine kurze Widmung auf dem Vorsatzblatt, ohne weiteren Kommentar, Für Dich, lieber Franz, ich umarme Dich ganz fest, Deine Sarah, und ist am 17.November, das heißt vor zwei Wochen, aufgegeben worden – es dauert also noch zwei Wochen, bis ein Brief aus Malaysia in Österreich ankommt, vielleicht hat sie mit den Briefmarken geknausert, sie hätte auch eine Postkarte beilegen können, was bedeutet das jetzt, ich bin alles durchgegangen, was ich von ihr in meiner Wohnung habe, ihre Artikel, zwei Bücher, ein paar Fotos und sogar eine gedruckte und in rotes Kunstleder gebundene Ausgabe ihrer Dissertation, zwei dicke Bände, je drei Kilo schwer:

»Es gibt im Leben Wunden, die wie die Lepra, langsam, in der Einsamkeit an der Seele zehren«, schreibt der Iraner Sadeq Hedayat zu Beginn seines Romans Die blinde Eule: Das wusste der kleine Mann mit den runden Brillengläsern besser als jeder andere. Eine dieser Wunden hat ihn dazu gebracht, an einem Abend großer Einsamkeit in seiner Pariser Wohnung in der Rue Championnet den Gashahn weit aufzudrehen, an einem Abend im April, weit weg von Iran, sehr weit weg, mit nichts anderem zur Gesellschaft als ein paar Gedichten von Omar Khayyam und vielleicht einer dunkelbraunen Flasche Cognac oder einem kleinen Brocken Opium, oder vielleicht mit nichts, mit nichts außer den Texten, die er noch für sich behalten hatte und die er in die große Leere des Gases mitnahm.

Man weiß nicht, ob er einen Brief hinterlassen hat oder ein anderes Zeichen als seinen Roman Die blinde Eule, der seit langem vollendet war und der ihm zwei Jahre nach seinem Tod die Bewunderung französischer Intellektueller einbrachte, die nie etwas aus Iran gelesen hatten: Der Verleger José Corti veröffentlichte Die blinde Eule kurz nach Julien Gracqs Roman Das Ufer der Syrten. Gracq hatte mit diesem Roman großen Erfolg, im Jahr 1951, als das Gas in der Rue Championnet gerade seine Wirkung zu entfalten begann, und er sagte später, Das Ufer der Syrten sei der Roman »aller noblen Fäulnis«, gleich jener, die Hedayat damals im Äther des Weins und des Gases aufgefressen hatte. André Breton setzte sich dann für beide Männer und ihre Bücher ein, zu spät, um Hedayat von seinen Wunden zu heilen, hätte er denn je geheilt werden können, wäre denn sein Leiden nicht ganz sicher ein unheilbares gewesen.

Der kleine Mann mit den dicken, runden Brillengläsern lebte im Exil wie in Iran, ruhig und zurückgezogen, er sprach mit leiser Stimme. Seine Ironie und seine bissige Traurigkeit brachten ihm die Zensur seiner Texte ein, wenn es nicht seine Sympathie für die Irren und die Trinker war, vielleicht sogar seine Bewunderung für bestimmte Bücher und Dichter; vielleicht unterlag er auch der Zensur, weil er ein bisschen Opium und Kokain ausprobierte, wobei er sich zugleich über Drogensüchtige mokierte, weil er allein trank oder den Makel hatte, nichts mehr von Gott zu erwarten, nicht einmal an gewissen Abenden großer Einsamkeit, wenn das Gas rief; vielleicht auch, weil er im Elend versank oder weil er mit Augenmaß daran glaubte oder eben nicht daran glaubte, dass seine Schriften wichtig waren, alles Dinge, die störten.

Jedenfalls weist in der Rue Championnet kein Schild auf sein Leben oder seinen Tod hin, und trotz des Gewichts der Geschichte, aufgrund derer man nicht an ihm vorbeikommt, trotz des Gewichts seines Todes, der noch immer auf seinen Landsleuten lastet, erinnert auch in Iran kein Denkmal an ihn. In Teheran lebt sein Werk heute so, wie er starb, elendig und im Untergrund, auf den Auslagen der Flohmärkte oder in verstümmelten Neuausgaben, um jede Anspielung gekürzt, die den Leser in Drogen oder in den Selbstmord treiben könnte, um die iranische Jugend zu schützen, die von solchen Krankheiten wie Verzweiflung, Selbstmord und Drogen befallen ist und sich deshalb mit großem Genuss auf Hedayats Bücher stürzt, wenn sie welche findet, und auf diese Weise gefeiert und schlecht gelesen, gesellt er sich zu den großen Namen, die auf dem Friedhof Père-Lachaise um ihn versammelt sind, zwei Schritte entfernt von Proust, wo er in alle Ewigkeit so bescheiden, so diskret wie zu Lebzeiten, ohne auffällige Blumen und mit seltenem Besuch seit jenem Apriltag 1951 ruht, als er sich für das Gas und die Rue Championnet entschied, um mit allem Schluss zu machen, aufgezehrt von einer erstickenden und unheilbaren seelischen Lepra. »Niemand trifft die Entscheidung, sich umzubringen; der Selbstmord sitzt in manchen Menschen, gehört zu ihrem Naturell.« Diese Zeilen schreibt Hedayat Ende der zwanziger Jahre. Er schreibt sie, bevor er Kafka liest und übersetzt, bevor er Khayyam herausgibt. Sein Werk entfaltet sich durch das Ende. Die erste Sammlung Kurzgeschichten, die er veröffentlicht, beginnt mit Lebendig begraben, Zendé bé gour, dem Selbstmord und der Zerstörung, und beschreibt, wie wir meinen, ganz eindeutig die Gedanken, die ihm zwanzig Jahre später durch den Kopf gehen, als er sich dem Gas überlässt, sanft in den Dämmerschlaf fällt, nachdem er in der winzigen Küche, die vom unerträglichen Duft des nahenden Frühlings erfüllt ist, für die Zerstörung seiner Unterlagen und Notizen gesorgt hat. Vielleicht noch beherzter als Kafka hat er seine Manuskripte vernichtet, vielleicht, weil er keinen Max Brod zur Hand hat, vielleicht, weil er niemandem vertraut oder weil er überzeugt ist, dass es an der Zeit ist zu verschwinden. Und wenn Kafka sich hustend davonmachte, bis zur letzten Minute Texte korrigierend, die seinem Willen nach verbrannt werden sollten, fällt Hedayat in die langsame Agonie des Tiefschlafs, nachdem er über seinen Tod bereits zwanzig Jahre zuvor geschrieben hat und sein ganzes Leben von den Narben und Wunden jener Lepra gezeichnet blieb, die ihn in seiner Einsamkeit aufzehrte und von der man ahnt, dass sie mit Iran, dem Orient, Europa und dem Okzident zusammenhängt, so wie Kafka in Prag zugleich Deutscher, Jude und Tscheche war, ohne auch nur irgendetwas davon zu sein, verlorener als jeder andere und freier als alle. Hedayat litt an einer dieser Verwundungen an sich selbst, die einen durch die Welt schlingern lassen, es ist dieser feine Riss, der sich immer weiter auftut, bis er zur Kluft wird; und dem liegt wie beim Opium, beim Alkohol, bei allem, was einen aufreißt, keine Krankheit zugrunde, sondern eine Entscheidung, ein Wille, bis zum Ende Risse in seinem Sein zuzulassen.

Wenn wir diese Arbeit mit Hedayat und seiner Blinden Eule beginnen, dann um diesen Riss zu erforschen, weil wir seine Tiefen ausloten und uns in die Trunkenheit der Frauen und Männer versetzen wollen, die durch ihre Andersheit ins Taumeln gerieten; wir werden die Hand des kleinen Mannes ergreifen, um hinabzusteigen und die aufzehrenden Wunden zu beobachten, die Drogen, die Fremdheit und jenes Zwischenreich, jenen Barzach, die Welt zwischen den Welten, in die Künstler und Reisende fallen.

Dieser Prolog ist wirklich eine Überraschung, und die ersten Zeilen sind noch genauso verwirrend wie vor fünfzehn Jahren – es muss schon spät sein, trotz des Zarb und Nazeris Stimme fallen mir über dem alten Typoskript die Augen zu. Als man Sarah bei der Verteidigung ihrer Doktorarbeit den »romantischen« Ton der Einleitung und die »vollkommen abwegige« Parallele zu Gracq und Kafka vorwarf, war sie wütend geworden. Morgan, ihr Doktorvater, hatte immerhin versucht, sie in Schutz zu nehmen, auf ziemlich naive Weise allerdings, meinte er doch, es sei immer gut, »von Kafka zu sprechen«, was die Jury aus pikierten Orientalisten und schläfrigen Mandarinen aufseufzen ließ, die allenfalls durch den Hass, den sie einander entgegenbrachten, aus ihrem doktrinären Schlaf gerissen werden konnten. Sie vergaßen Sarahs befremdliche Einleitung übrigens ziemlich schnell, um sich über Fragen der Methodologie zu streiten, das heißt, sie sahen nicht, worin das wissenschaftliche Interesse an diesem Spaziergang (der alte Prof spuckte das Wort aus wie eine Beleidigung) liegen konnte, nicht einmal, wenn man sich dabei von Sadeq Hedayat an die Hand nehmen ließ. Ich war auf der Durchreise in Paris gewesen und freute mich, zum ersten Mal der Verteidigung einer Doktorarbeit »an der Sorbonne« beiwohnen zu dürfen, und dann auch noch bei ihrer Disputation, doch nachdem ich meine Überraschung und Belustigung über den baufälligen Zustand der Flure, des Hörsaals und der Jury hinter mir gelassen hatte, die ans hinterste Ende von Gott weiß welchem, im Labyrinth des Wissens verlorenen Fachbereich verbannt waren, wo fünf Geistesgrößen nacheinander ihr geringes Interesse an dem Text unter Beweis stellten, über den sie sprechen sollten, wobei sie – wie ich im Saal – übermenschliche Anstrengungen vollbrachten, um nicht einzuschlafen, erfüllte mich diese Übung mit Bitterkeit und Melancholie, und als wir den Ort verließen (einen schmucklosen Hörsaal mit zusammengeschobenen Pulten, die jede Menge Risse und Sprünge aufwiesen und kein Wissen, sondern unterhaltsame Graffiti und festklebende Kaugummis bargen), um diese Leute beratschlagen zu lassen, wäre ich am liebsten Hals über Kopf davongerannt, den Boulevard Saint-Michel hinunter ans Ufer der Seine, um Sarah nicht zu begegnen, damit sie nicht meine Eindrücke von dieser berühmt-berüchtigten Verteidigung erriet, die so wichtig für sie sein musste. Das Publikum zählte rund dreißig Personen, eine große Menge für den winzigen Flur, in den wir uns drängen mussten, Sarah war zusammen mit der Zuhörerschaft herausgekommen, sie sprach mit einer älteren und sehr eleganten Dame, ihrer Mutter, wie ich wusste, und mit einem jungen Mann, der ihr verblüffend ähnlich sah, ihrem Bruder. Es war unmöglich, zum Ausgang zu gelangen, ohne ihnen zu begegnen, also kehrte ich um und betrachtete die Porträts der Orientalisten, die den Flur schmückten, alte, vergilbte Stiche und Gedenktafeln aus einer glanzvollen Vergangenheit. Sarah schwatzte, sie sah erschöpft aus, aber nicht niedergeschlagen; vielleicht hatte sie im Eifer des wissenschaftlichen Gefechts, während sie sich Notizen machte, um ihre Antworten vorzubereiten, eine völlig andere Wahrnehmung gehabt als das Publikum. Sie hat mich bemerkt und mir zugewinkt. Ich war vor allem gekommen, um ihr beizustehen, aber auch, um mich, und sei es nur im Geiste, auf meine eigene Disputation vorzubereiten – und was ich nun erlebt hatte, war nicht dazu angetan, mich zu beruhigen. Ich täuschte mich: Nach einigen Minuten des Beratschlagens bat man uns erneut in den Saal, und sie erhielt die Bestnote; der berühmte Präsident, Gegner des »Spaziergangs«, beglückwünschte sie aufs Herzlichste zu ihrer Arbeit, und heute, da ich diesen Anfang wieder lese, muss ich durchaus einräumen, dass etwas Starkes und Innovatives in diesen vierhundert Seiten lag, die von den Bildern und Darstellungen des Orients handelten, den Nicht-Orten, Utopien und ideologischen Trugbildern, in denen sich viele, die sie durchstreifen wollten, verirrt hatten: Die Körper der Künstler, Dichter und Reisenden, die versucht haben, sie zu erforschen, sind nach und nach in die Selbstzerstörung getrieben worden; die Illusion zehrt, wie Hedayat sagte, in der Einsamkeit an der Seele – was man lange Zeit Wahn, Melancholie, Depression genannt hatte, war oft das Ergebnis einer Reibung, eines Selbstverlusts in der Schöpfung, im Kontakt mit der Andersheit, und selbst wenn mir das heute ein wenig voreilig erscheint, romantisch, um es genau zu sagen, lag darin zweifellos schon eine echte Intuition, auf der sie ihre ganze spätere Arbeit aufbaute.

Nachdem die für sie sehr erfreuliche Entscheidung verkündet war, ging ich zu ihr, um sie zu beglückwünschen, sie umarmte mich herzlich und fragte, was machst du denn hier, und ich antwortete, dass mich ein glücklicher Zufall in diesem Moment nach Paris geführt habe, eine kleine Notlüge, und so nahm ich ihre Einladung gerne an, mich ihr und ihrer Gesellschaft auf das traditionelle Glas Champagner anzuschließen; wir kamen im ersten Stock eines Cafés im Universitätsviertel zusammen, wo solche Ereignisse häufig gefeiert werden. Sarah sah plötzlich vollkommen erledigt aus, ich bemerkte, dass sie in ihrem grauen Kostüm schwamm; ihre Formen waren von der Universität aufgesaugt worden, die Spuren der Anstrengungen, die sie im Laufe der vorangegangenen Wochen und Monate vollbracht hatte, waren körperlich bei ihr sichtbar: Die vorausgegangenen vier Jahre waren auf diesen Augenblick ausgerichtet gewesen, hatten keinen anderen Sinn gehabt, und jetzt, da der Champagner floss, zeigte sie das sanfte Lächeln einer Gebärenden – mit Ringen um die Augen, ich dachte mir, dass sie in der Nacht zuvor vermutlich ihr Exposé durchgegangen war und vor Aufregung nicht hatte schlafen können. Ihr Doktorvater, Gilbert de Morgan, war natürlich auch da; ich war ihm bereits in Damaskus begegnet. Er machte keinen Hehl aus seiner Zuneigung zu seinem Schützling, betrachtete sie zärtlich mit väterlichem Auge, das in der Champagnerlaune sachte nach dem Inzest schielte: Beim dritten Glas, als er allein, mit erregtem Blick und geröteten Wangen, auf seine Ellbogen gestützt an einem hohen Tisch stand, ertappte ich ihn, wie er an Sarah hinauf- und hinuntersah, von den Knöcheln bis zum

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