Jane Eyre - Kapitel 3
Abbot nähte in einem anderen Zimmer, und während Bessie hin und her ging, Spielsachen forträumte und Schubladen ordnete, richtete sie dann und wann ein ungewöhnlich freundliches Wort an mich. Diese Lage der Dinge wäre für mich ein Paradies des Friedens gewesen, für mich, die ich nur an ein Dasein voll von nie endendem Tadel und ungedankter Plackerei gewöhnt war – aber meine Nerven waren jetzt in einem solchen Zustand, dass keine Ruhe sie mehr besänftigen, kein Vergnügen sie mehr freudig stimmen konnte.
Bessie war unten in der Küche gewesen und brachte mir einen Kuchen herauf, der auf einem bunt bemalten Porzellanteller lag. Er zeigte einen Paradiesvogel, welcher auf einem Kranz von Maiglöckchen und Rosenknospen schaukelte und bisher immer meine begeisterte Bewunderung hervorgerufen hatte. Gar oft hatte ich innig gebeten, diesen Teller in die Hand nehmen zu dürfen, um ihn genauer betrachten zu können, bis jetzt hatte man mich aber stets einer solchen Gunst für unwürdig gehalten. Jetzt stellte man mir nun diesen kostbaren Teller auf den Schoß und bat mich freundlich, das Stückchen auserlesenen Gebäcks, welches auf demselben lag, zu essen. O eitle Gunst! Sie kam zu spät – wie so manch andere, die innig erwünscht und lange versagt wird. Ich konnte den Kuchen nicht essen, und selbst das Gefieder des Vogels und die Farben der Blumen schienen mir seltsam verblasst. Ich schob Teller und Gebäck von mir. Bessie fragte mich, ob ich ein Buch haben wolle. Das Wort Buch übte seinen Reiz auf mich aus, und ich bat sie, mir »Gullivers Reisen« aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich schon unzählige Male mit Entzücken gelesen; ich hielt es für eine Erzählung von Tatsachen und nahm daher ein weit tieferes Interesse an ihm, als ich es für Märchen hatte. Denn nachdem ich die Elfen vergebens unter den Blättern des Fingerhuts und der Glockenblume, unter Pilzen und altem, von Efeu umranktem Gemäuer gesucht hatte, hatte ich mich mit der traurigen Wahrheit ausgesöhnt, dass sie England wohl verlassen hätten, um in ein unbekanntes Land zu gehen, wo die Wälder noch stiller, wilder und dichter, die Menschen noch spärlicher gesät sind. Liliput hingegen und Brobdingnag waren nach meiner Überzeugung solide Bestandteile der Erdoberfläche; ich zweifelte nicht, dass, wenn ich eines Tages eine weite Reise machen könnte, ich mit meinen eigenen Augen die kleinen Felder und Häuser, die winzigen Menschen, die zierlichen Kühe, Schafe und Vögel des einen Königreichs sehen würde, und ebenso die baumhohen Kornfelder, die mächtigen Bullenbeißer, die Katzen-Ungeheuer und die turmhohen Männer und Frauen des anderen. Und doch, als ich den geliebten Band jetzt in den Händen hielt, als ich die Seiten umblätterte und in den wundersamen Bildern den Reiz suchte, welchen sie mir bis jetzt stets gewährt hatten – da war alles düster und unheimlich; die Riesen waren hagere Kobolde, die Pygmäen boshafte und scheußliche Gnomen, Gulliver ein trübseliger Wanderer in grauenhaften und gefährlichen Regionen. Ich schloss das Buch, in dem ich nicht länger zu lesen wagte, und legte es auf den Tisch neben das unberührte Stück Kuchen.
Bessie war jetzt mit dem Abstauben und Aufräumen des Zimmers fertig. Nachdem sie ihre Hände gewaschen hatte, öffnete sie eine kleine Schublade, welche mit den schönsten, prächtigsten Stoffresten von Seide und Atlas angefüllt war, und fing an, einen Hut für Georgianas neue Puppe zu machen. Dann begann sie zu singen:
»Als wir streiften durch Wald und Flur,
Vor langer, langer Zeit …«
Wie oft hatte ich dieses Lied schon gehört, und immer mit dem größten Entzücken, denn Bessie hatte eine schöne Stimme – wenigstens nach meinem Geschmack. Aber jetzt, obgleich ihre Stimme noch immer lieblich klang, lag für mich eine unbeschreibliche Traurigkeit in dieser Melodie. Zuweilen, wenn ihre Arbeit sie ganz in Anspruch nahm, sang sie den Refrain sehr leise, sehr langsam: »Vor langer, langer Zeit.« Dann klang es wie die traurigste Kadenz eines Grabliedes. Endlich begann sie eine andere Ballade zu singen, diesmal eine wirklich traurige:
»Mein Körper ist müd und wund ist mein Fuß,
Weit ist der Weg, den ich wandern muss,
Bald wird es Nacht und den Weg ich nicht find,
Den ich wandern muss, armes Waisenkind!
Weshalb sandten sie mich so weit, so weit,
Durch Feld und Wald, auf die Berg’, wo es schneit?
Die Menschen sind hart! Doch Engel so lind,
Bewachen mich armes Waisenkind.
Die Sterne, sie scheinen herab so klar,
Die Luft ist mild! Es ist doch wahr:
Gott ist barmherzig, er steuert dem Wind,
Dass er nicht erfasse das Waisenkind.
Und wenn ich nun strauchle am Waldesrand
Oder ins Meer versink, wo mich führt keine Hand,
So weiß ich doch, dass den Vater ich find,
Er nimmt an sein Herz das Waisenkind!
Das ist meine Hoffnung, die Kraft mir gibt,
Dass Gott da droben sein Kind doch liebt.
Bei ihm dort oben die Heimat ich find,
Er liebt auch das arme Waisenkind!«
»Kommen Sie, Miss Jane, weinen Sie nicht«, sagte Bessie, als sie zu Ende war. Ebenso gut hätte sie dem Feuer sagen können »Brenne nicht!«, aber wie hätte sie denn auch eine Ahnung von dem herzzerreißenden Schmerz haben können, der mich quälte? Im Laufe des Vormittags kam Mr. Lloyd wieder.
»Wie? Schon aufgestanden?«, rief er, als er ins Kinderzimmer trat. »Nun, Bessie, wie geht es ihr denn?«
Bessie entgegnete, dass es mir außerordentlich gut gehe.
»Dann sollte sie aber fröhlicher aussehen. Kommen Sie her, Miss Jane. Sie heißen Jane, nicht wahr?«
»Ja, Sir. Jane Eyre.«
»Nun, Sie haben geweint, Miss Jane Eyre, wollen Sie mir nicht sagen, weshalb? Haben Sie Schmerzen?«
»Nein, Sir.«
»Ach, ich vermute, dass sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spazieren fahren durfte«, warf Bessie ein.
»O nein, gewiss nicht, für solche Albernheiten ist sie doch schon zu groß.«
Das dachte ich auch, und da meine Selbstachtung durch die falsche Beschuldigung verletzt war, antwortete ich schnell: »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Tränen um solche Dinge vergossen. Ich hasse die Spazierfahrten. Ich weine, weil ich so unglücklich bin.«
»Schämen Sie sich, Miss!«, rief Bessie.
Der gute Apotheker schien ein wenig verwirrt. Ich stand vor ihm, und er sah mich eindringlich an. Seine Augen waren klein und grau, nicht sehr leuchtend, aber ich glaube, dass ich sie heute sehr klug finden würde. Trotz der harten Züge hatte er ein gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange mit Muße betrachtet hatte, sagte er:
»Was hat Sie gestern krank gemacht?«
»Sie ist gefallen«, warf Bessie ein.
»Gefallen! Nun, das ist gerade wieder wie ein Kind! Kann sie bei ihrem Alter denn noch nicht allein gehen? Sie muss doch acht oder neun Jahre alt sein!«
»Jemand hat mich zu Boden geschlagen«, lautete meine derbe Erklärung, welche der Schmerz des gekränkten Stolzes mir eingab, »aber das hat mich nicht krank gemacht.«
Mr. Lloyd nahm bedächtig eine Prise Tabak.
Als er die Tabaksdose wieder in seine Westentasche schob, rief der laute Klang einer Glocke die Dienstboten zum Mittagessen. Mr. Lloyd wusste, was das bedeutete: »Das gilt Ihnen, Bessie«, sagte er, »Sie können hinuntergehen. Ich werde Miss Jane einige Lehren geben, bis Sie zurückkehren.«
Bessie wäre lieber geblieben, aber sie war gezwungen zu gehen, weil man in Gateshead Hall streng auf die Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten achtete.
»Der Sturz hat Sie nicht krank gemacht? Nun, was war es dann?«, fragte Mr. Lloyd, nachdem Bessie gegangen war.
»Ich war in einem Zimmer eingesperrt, wo ein Geist umgeht – und es war schon lange dunkel.«
Ich sah, wie Mr. Lloyd lächelte und zugleich die Stirn runzelte. »Ein Geist! Was denn, sind Sie am Ende doch noch ein kleines Kind? Sie fürchten sich vor Geistern?«
»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürchte ich mich. Er starb in jenem Zimmer und lag dort aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst jemand geht am Abend da hinein, wenn es nicht dringend nötig ist. Und es war furchtbar grausam, mich dort allein und ohne Licht einzuschließen – so grausam, dass ich glaube, ich werde es niemals vergessen können.«
»So ein Unsinn! Das macht Sie so elend? Fürchten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«
»Nein. Aber es dauert nicht lange und dann wird es wieder Nacht. Und außerdem bin ich unglücklich, sehr unglücklich, um anderer Dinge willen.«
»Was für Dinge denn? Können Sie mir die nicht nennen?«
Sosehr ich wünschte, offen und ehrlich auf diese Frage antworten zu können, so schwer war es, die richtigen Worte für eine solche Antwort zu finden. Kinder können wohl empfinden, aber sie können ihre Empfindungen nicht zergliedern, und wenn ihnen die Zergliederung zum Teil auch in Gedanken gelingt, so wissen sie nicht, wie sie das Resultat dieses Vorganges in Worte kleiden sollen. Da ich aber fürchtete, dass diese erste und einzige Gelegenheit, meinen Kummer durch Mitteilung zu erleichtern, ungenützt vorübergehen würde, gelang es mir nach einer Weile schließlich doch noch, eine unzulängliche, aber wahre Antwort hervorzubringen.
»Erstens habe ich keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder und keine Schwester.«
»Aber Sie haben eine gütige Tante, liebe Cousinen und einen Vetter.«
Wiederum hielt ich inne, dann rief ich aus:
»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen, und meine Tante hat mich im Roten Zimmer eingesperrt!«
Zum zweiten Mal holte Mr. Lloyd seine Schnupftabaksdose hervor.
»Finden Sie denn nicht, dass Gateshead Hall ein wunderschönes Haus ist?«, fragte er. »Sind Sie nicht dankbar, an einem so schönen Ort leben zu können?«
»Es ist nicht mein eigenes Haus, Herr, und Abbot sagt, dass ich weniger Recht habe, hier zu sein, als ein Dienstbote.«
»Dummes Zeug! Sie können doch nicht so dumm sein, zu wünschen, dass Sie einen so herrlichen Ort wie diesen verlassen wollen?«
»Wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen sollte, ich wäre wahrhaftig froh zu gehen. Aber ich darf Gateshead erst verlassen, wenn ich erwachsen bin.«
»Vielleicht doch auch früher, wer weiß? Haben Sie außer Mrs. Reed denn keine Verwandten?«
»Ich glaube nicht, Sir.«
»Niemanden, der mit Ihrem Vater verwandt war?«
»Ich weiß es nicht. Einmal fragte ich Tante Reed, und da sagte sie, dass ich möglicherweise irgendwelche armen, heruntergekommenen Verwandten namens Eyre haben könnte, dass sie aber nichts über sie wisse.«
»Würden Sie denn zu denen gehen wollen, wenn es solche Leute gäbe?«
Ich besann mich. Armut – das klingt für erwachsene Menschen abschreckend, für Kinder aber noch mehr. Kinder haben keinen Sinn für fleißige, arbeitsame, ehrenhafte Armut, das Wort erweckt in ihnen nur Gedanken an zerlumpte Kleider, kärgliche Nahrung, einen kalten Ofen, rohe Manieren und entwürdigende Laster. Auch für mich war Armut gleichbedeutend mit Entehrung.
»Nein! Ich möchte nicht bei armen Leuten leben«, war daher meine Antwort.
»Auch nicht, wenn diese gütig gegen Sie wären?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht begreifen, wie arme Leute überhaupt die Mittel haben sollten, gütig zu sein. Und sollte ich etwa reden wie sie, ihre Manieren annehmen, schlecht erzogen werden, aufwachsen wie eines jener armen Weiber, die ich zuweilen vor den Hütten ihre Kinder warten und ihre Kleider waschen sah? Nein, ich war nicht heroisch genug, meine Freiheit um den Preis meiner Kaste zu erkaufen.
»Aber sind Ihre Verwandten denn wirklich so arm? Gehören sie zur arbeitenden Klasse?«
»Das weiß ich nicht. Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt Angehörige habe, so müssen sie Bettlergesindel sein. Nein, nein, ich möchte nicht betteln gehen.«
»Möchten Sie gerne in die Schule gehen?«
Wieder dachte ich nach; wusste ich doch kaum, was eine Schule eigentlich war. Bessie sprach zuweilen davon wie von einem Ort, an dem man von jungen Damen erwartete, dass sie außerordentlich manierlich und geziert sind. John Reed hasste seine Schule und schmähte seinen Lehrer, aber John Reeds Ansichten und Geschmack waren keine Maßstäbe für mich. Und wenn Bessies Berichte über die Schuldisziplin – diese stammten von den Töchtern einer Familie, in welcher sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead kam – auch etwas abschreckend klangen, so waren ihre Erzählungen von den verschiedenen Talenten und Kenntnissen, welche die besagten jungen Damen sich in der Schule angeeignet hatten, andererseits höchst verlockend. Bessie schwärmte von wunderschönen Gemälden mit Landschaften und Blumen, welche sie vollendet hatten, von Liedern, die sie singen und Klavierstücken, die sie spielen konnten, von Täschchen, die sie häkelten und von französischen Büchern, die sie übersetzten – so lange, bis mein Gemüt zur Nachahmung aufgestachelt wurde. Zudem bedeutete die Schule eine gründliche Veränderung: Es wäre eine lange Reise damit verknüpft, eine gänzliche Trennung von Gateshead und ein Eintritt in ein neues Leben.
»Ja, ich möchte in der Tat gerne zur Schule gehen«, war die hörbare Schlussfolgerung dieser meiner Gedanken.
»Nun ja, wer weiß schon, was nicht alles geschehen kann?«, sagte Mr. Lloyd, indem er sich erhob. »Das Kind braucht Luft- und Ortsveränderung«, fügte er für sich selbst hinzu, »die Nerven sind in einer bösen Verfassung.«
Jetzt kam Bessie zurück, und im selben Augenblick hörte man auch Mrs. Reeds Wagen über den Kies der Gartenwege rollen.
»Ist das Ihre Herrin, Bessie?«, fragte Mr. Lloyd. »Ich möchte noch mit ihr reden, bevor ich gehe.«
Bessie begleitete ihn ins Frühstückszimmer. Wie ich aus den nachfolgenden Begebenheiten schloss, wagte der Apotheker während seiner Unterredung mit Mrs. Reed die Empfehlung, mich doch in eine Schule zu schicken. Und ohne Zweifel wurde dieser Rat sehr bereitwillig angenommen, denn als ich an einem der folgenden Abende im Bett lag und Bessie und Abbot mich schlafend glaubten, sagte Letztere: »Ich glaube, die gnädige Frau ist nur zu froh, solch ein langweiliges, boshaftes Kind loszuwerden; sie sieht immer aus, als beobachte sie jeden Menschen und schmiede heimliche Pläne.« Ich glaube wahrhaftig, dass Abbot mich für einen verschlagenen Attentäter, eine Art kindlichen Guy Fawkes hielt.
Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch aus Miss Abbots Mitteilungen an Bessie, dass mein Vater ein armer Pastor gewesen war, den meine Mutter gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet hatte, welche diese Heirat für erniedrigend hielten. Mein Großvater Reed war so erzürnt über den Ungehorsam meiner Mutter, dass er sie gänzlich enterbte. Nachdem er kaum ein Jahr mit meiner Mutter verheiratet gewesen war, holte sich mein Vater den Typhus in den armen Vierteln der großen Fabrikstadt, in welcher seine Pfarre lag. Meine arme Mutter folgte dann ihrem Gatten kaum einen Monat später ins Grab.
Als Bessie diese Erzählung anhörte, seufzte sie und sagte: »Abbot, die arme Miss Jane ist wirklich zu bedauern.«
»Ja, ja«, entgegnete Abbot. »Wenn sie ein liebes, gutes, hübsches Kind wäre, so könnte man wohl Mitleid mit ihr haben, weil sie so gänzlich verlassen ist. Aber solch eine scheußliche kleine Kröte kann einem doch unmöglich Erbarmen einflößen.«
»Nein, nicht viel«, stimmte Bessie ihr bei, »auf jeden Fall würde eine so prächtige Schönheit wie Miss Georgiana in einer solchen Lage viel rührender wirken.«
»Ja, ich bete Miss Georgiana an!«, rief die begeisterte Abbot. »Der kleine süße Liebling! Mit ihren langen Locken, blauen Augen und der frischen Farbe, gerade wie gemalt! – Weißt du was, Bessie, ich bekomme wahrhaftig Appetit auf geröstetes Brot mit Käse zum Abend.«
»Ich auch, ich auch – mit geschmorten Zwiebeln. Kommen Sie, wir wollen hinuntergehen.«
Und sie gingen.
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Viertes Kapitel
Aus meiner Unterredung mit Mr. Lloyd und dem soeben geschilderten Gespräch zwischen Abbot und Bessie schöpfte ich Hoffnung genug, um den Wunsch nach Genesung zu hegen. Eine Veränderung schien bevorzustehen, und ich hoffte und wartete im Stillen. Die Sache verzögerte sich indessen. Die Tage und Wochen vergingen, mein Gesundheitszustand war wieder normal, aber ich vernahm keine Hinweise mehr auf den Gegenstand, über welchen ich grübelte. Oft betrachtete Mrs. Reed mich mit strengen, finsteren Blicken, aber nur selten sprach sie zu mir. Seit meiner Krankheit hatte sie eine schärfere Grenzlinie denn je zwischen mir und ihren eigenen Kindern gezogen; mir war eine kleine Kammer als Schlafgemach zugewiesen worden, man hatte mich verurteilt, meine Mahlzeiten allein einzunehmen, und ich musste allein im Kinderzimmer verweilen, während ihre Kinder sich stets im Wohnzimmer aufhielten. Indessen gab es noch immer keine Anzeichen von dem Plan, mich in eine Schule zu schicken. Und doch hegte ich die instinktive Gewissheit, dass sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dach dulden würde, denn mehr denn je las ich in Mrs. Reeds Blicken ihren unüberwindlichen und tief verwurzelten Abscheu.
Eliza und Georgiana handelten augenscheinlich nach Instruktionen, da sie so wenig wie möglich mit mir sprachen. John streckte die Zunge heraus, sobald er mich nur erblickte, und einmal versuchte er sogar, mich zu schlagen. Da ich mich aber augenblicklich gegen ihn wandte und er in meinen Blicken dieselbe Wut wahrnahm, mit welcher ich mich schon einmal gegen ihn aufgelehnt hatte, hielt er es für besser, abzulassen und unter lauten Verwünschungen davonzulaufen, während er schrie, ich hätte ihm das Nasenbein zertrümmert. Tatsächlich hatte ich nach diesem hervorspringenden Gesichtsteil einen Schlag geführt, so heftig, wie meine Knöchel ihn nur auszuteilen vermochten. Und als ich bemerkte, dass entweder dieser Schlag oder aber meine Blicke ihn wirklich eingeschüchtert hatten, verspürte ich die größte Neigung, meinen Vorteil noch weiter auszubeuten. Er war indessen schon zu seiner Mutter gelaufen. Ich hörte, wie er mit stammelnden Lauten eine Geschichte begann, wie »diese abscheuliche Jane Eyre«, einer wilden Katze gleich, auf ihn gesprungen sei. Mit strenger Stimme unterbrach ihn jedoch seine Mutter:
»Sprich mir nicht von ihr, John, ich habe dir gesagt, dass du ihr nicht zu nahe kommen sollst. Sie ist deiner Beachtung nicht wert, und ich will nicht, dass du dich mit ihr abgibst. Und für deine Schwestern gilt das Gleiche.«
In diesem Augenblick lehnte ich mich über das Treppengeländer und schrie plötzlich, ohne im Geringsten über meine Worte nachzudenken:
»Nein, sie sind es nicht wert, mit mir zu verkehren!«
Mrs. Reed war eine ziemlich starke Frau; als sie indessen diese seltsamen und dreisten Worte vernahm, kam sie ganz leichtfüßig die Treppe heraufgerannt und zerrte mich mit Windeseile ins Kinderzimmer, und indem sie mich an die Seite meines kleinen Bettes drückte, verbot sie mir mit pathetischer Stimme, mich von dieser Stelle fortzurühren oder während des ganzen Tages auch nur noch ein einziges Wort zu sprechen.
»Was würde Onkel Reed jetzt sagen, wenn er noch lebte?«, war meine fast willenlos gestellte Frage. Ich sage ›fast willenlos‹, denn es war, als spräche meine Zunge diese Worte aus, ohne dass mein Wille darum wusste – es sprach etwas aus mir, worüber ich keine Gewalt hatte.
»Was?«, zischte Mrs. Reed fast unhörbar, und in ihren sonst so kalten, ruhigen, grauen Augen blitzte etwas auf, das der Furcht glich. Sie ließ meinen Arm los und blickte mich an, als wisse sie nicht recht, ob ich ein Kind oder ein Teufel sei. Jetzt fasste ich Mut.
»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und sagen, und mein Vater und meine Mutter auch. Sie wissen, dass Sie mich den ganzen Tag einsperren und dass Sie nur wünschen, ich wäre tot.«
Mrs. Reed fasste sich schnell wieder; sie schüttelte mich heftig, ohrfeigte mich und verließ mich dann, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Bessie füllte diese Lücke aus, indem sie mir eine stundenlange Strafpredigt hielt, in