Jane Eyre - Kapitel 2
großer, gepolsterter, ebenfalls weißer Lehnstuhl hervor, der am Kopfende des Bettes stand und vor dem sich ein Fußschemel befand; damals erschien er mir wie ein geisterhafter Thron.
Das Zimmer war kalt, weil hier nur selten ein Feuer angezündet wurde; es war still, weil es weit vom Kinderzimmer und der Küche entfernt lag; und es war unheimlich, weil ich wusste, dass fast nie jemand das Zimmer betrat. Nur am Sonnabend kam das Hausmädchen hierher, um den stillen Staub einer Woche von den Möbeln und den Spiegeln zu wischen; und in großen Abständen kam auch Mrs. Reed, um den Inhalt einer gewissen Schublade zu kontrollieren, in welcher sich verschiedene Urkunden, ihre Juwelenschatulle und ein Miniaturbild ihres verstorbenen Gatten befanden. Und hierin bestand auch das Geheimnis des Roten Zimmers, der Zauberbann, weshalb es trotz seiner Pracht so einsam und verlassen war.
Mr. Reed war seit neun Jahren tot. In diesem Zimmer hatte er seinen letzten Atemzug getan, hier lag er aufgebahrt, von hier hatten die Leichenträger ihn hinausgetragen, und seit jenem Tag hatte ein weihevoll-düsteres Gefühl mögliche Besucher von der Schwelle des Raumes ferngehalten.
Der Sitz, auf welchen Bessie und die bitterböse Miss Abbot mich gebannt hatten, war eine niedrige Ottomane, welche nahe dem weißen Marmorkamin stand. Das Bett türmte sich vor mir auf; zu meiner Rechten befand sich ein hoher dunkler Garderobenschrank, auf dessen Täfelung sich matte, düstere Lichter brachen; zu meiner Linken waren die verhängten Fenster. Ein großer Spiegel zwischen ihnen wiederholte die leere Majestät von Bett und Zimmer. Ich war nicht mehr ganz sicher, ob sie die Tür zugeschlossen hatten, und als ich wieder Mut genug hatte, um mich zu bewegen, stand ich auf und sah nach. Aber ach, keine Kerkertür war jemals sicherer verschlossen! Als ich wieder zur Ottomane zurückging, musste ich an dem Spiegel vorüber, und mein gebannter Blick bohrte sich unwillkürlich in die Tiefe desselben ein. In ihm sah alles noch kühler, hohler und düsterer aus als in Wirklichkeit, und die seltsame, kleine Gestalt, die mir aus ihm entgegenblickte, mit weißem Gesicht und Armen, die grell aus der Dunkelheit hervorleuchteten, mit Augen, die vor Furcht hin- und herrollten, wo sonst alles bewegungslos war – diese kleine Gestalt sah aus wie ein wirkliches Gespenst. Ich dachte an eines jener zarten Phantome, halb Elfe, halb Kobold, wie sie in Bessies Dämmerstunden-Geschichten aus einsamen, wilden Schluchten und düsteren Mooren hervorkamen und sich dem Auge des nächtlichen Wanderers zeigten … Ich kehrte auf meinen Sitz zurück.
In diesem Augenblick bemächtigte der Aberglaube sich meiner, aber die Stunde seines vollständigen Sieges über mich war noch nicht gekommen: Mein Blut war noch warm, die Wut des empörten Sklaven erhitzte mich noch mit ihrer ganzen Bitterkeit. Ich hatte noch einen wilden Strom von Gedanken an die Vergangenheit zu bändigen, bevor ich mich ganz dem Jammer über die trostlose Gegenwart hingeben konnte.
Wie der schmutzige Bodensatz aus einem trüben Brunnen, so stieg aus meinem bewegten, aufgeregten Gemüt alles an die Oberfläche meines Empfindens: John Reeds wilde Tyrannei, die hochmütige Gleichgültigkeit seiner Schwestern, die Abneigung seiner Mutter, die Parteilichkeit der Dienstboten. Weshalb musste ich stets leiden, stets mit verächtlichen Blicken angesehen werden, immer beschuldigt, immer verurteilt werden? Weshalb konnte ich niemals etwas recht machen? Weshalb war es immer nutzlos, wenn ich versuchte, irgendeines Menschen Gunst zu erringen? Man hatte Achtung vor Eliza, die doch so eigensinnig und selbstsüchtig war. Jedermann hatte Nachsicht mit Georgiana, die stets übel gelaunt, trotzig und frech war. Ihre Schönheit, ihre rosigen Wangen und goldigen Locken schienen jeden zu entzücken, der sie anblickte, und ihr Vergebung für all ihre Mängel und Fehler zu erkaufen. John wurde niemals bestraft, niemand widersprach ihm jemals, obgleich er den Tauben die Hälse umdrehte, die jungen Hühner umbrachte, die Hunde auf die Schafe hetzte, den Weinstock im Treibhaus seiner Trauben beraubte und von den seltensten Pflanzen die Knospen abriss. Er nannte seine Mutter sogar »altes Mädchen«, nahm kaum Rücksicht auf ihre Wünsche, ja zerriss und beschmutzte nicht selten ihre seidenen Kleider – und doch war er »ihr einziger Liebling«. Ich wagte niemals, einen Fehler zu begehen; ich bemühte mich stets, meine Pflicht zu tun. Und mich nannte man unartig und unerträglich, mürrisch und hinterlistig, vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend.
Mein Kopf schmerzte noch und blutete von dem erhaltenen Schlag und dem Sturz. Niemand hatte John einen Verweis erteilt, dass er mich grundlos geschlagen hatte. Aber als ich mich gegen ihn aufgelehnt hatte, um seiner weiteren besinnungslosen Gewalt zu entgehen, hatten mich alle mit den lautesten Schmähungen überhäuft.
»Ungerecht! Ungerecht!«, sagte meine Vernunft, welche durch den Schmerz eine frühreife, wenn auch vorübergehende Kraft erlangt hatte; und die Entschlossenheit, welche ebenfalls geweckt war, ließ mich allerhand Mittel ersinnen, um eine Flucht aus dieser unerträglich gewordenen Unterdrückung zu bewerkstelligen. Ich dachte daran, einfach davonzulaufen, oder, wenn dies nicht möglich wäre, niemals wieder Speise und Trank zu mir zu nehmen und mich auf diese Weise zu Tode zu hungern.
Wie bestürzt war meine Seele an diesem traurigen Nachmittag, wie erregt war mein Gemüt, wie furchtbar empört mein Herz! Aber in welcher Finsternis, welcher Verblendung, welcher unglaublichen Unwissenheit wurde dieser Seelenkampf ausgekämpft! Ich hatte keine Antwort auf die sich mir unaufhörlich aufdrängende Frage, weshalb ich so viel leiden musste. Jetzt, aus dem Abstand von – nein, ich will nicht sagen, von wie vielen Jahren –, jetzt sehe ich alles klarer.
Ich war ein Misston in Gateshead Hall. Ich war ein Nichts an diesem Ort, ich hatte keine Gemeinschaft mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren bezahlten Vasallen. Sie liebten mich nicht, und in der Tat, ich liebte sie ebenso wenig. Es war auch nicht ihre Pflicht, mit Liebe auf ein Geschöpf zu blicken, welches mit keiner ihrer Seelen übereinstimmen konnte; ein andersartiges Geschöpf, welches ihr direktes Gegenteil in Temperament, in Fähigkeiten und Neigungen war; ein nutzloses Geschöpf, welches ihrem Interesse nicht dienen, zu ihrem Vergnügen nichts beitragen konnte; ein giftiges Geschöpf, welches die tiefste Verachtung für ihre Urteile und die Keime der Empörung über die ihm widerfahrende Behandlung in sich nährte. Ich weiß wohl, dass, wenn ich ein unbekümmertes, geistreiches, schönes und wildes Kind gewesen wäre, Mrs. Reed meine – wenn auch ebenso abhängige und freundlose – Gegenwart leichter ertragen haben würde. Ihre Kinder hätten für mich ein freundlicheres Gefühl der Gemeinsamkeit gehegt; die Dienstboten wären weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock des Kinderzimmers zu machen.
Das Tageslicht begann aus dem Roten Zimmer zu schwinden. Es war nach vier Uhr, und auf den bewölkten Nachmittag folgte eine trübe Dämmerung. Ich hörte, wie der Regen unaufhörlich gegen das Fenster der Treppe schlug, wie der Wind in den Laubgängen hinter dem Herrenhaus heulte; nach und nach wurde ich so kalt wie ein Stein, und mein Mut begann zu sinken. Die gewöhnliche Stimmung des Gedemütigtseins, Zweifel an mir selbst und eine hilflose Traurigkeit bemächtigten sich meiner und legten sich auf die Asche meiner erkaltenden Wut. Alle sagten, dass ich boshaft sei – vielleicht stimmte es ja? Hatte ich nicht soeben den Gedanken gehegt, mich zu Tode zu hungern? Das war doch gewiss eine Sünde, denn war ich auf den Tod vorbereitet? War das Gewölbe unter der Kanzel in der Kirche von Gateshead ein so einladendes Ziel? In diesem Gewölbe lag Mr. Reed begraben, wie man mir gesagt hatte. Durch diesen Gedanken an ihn erinnert, versuchte ich, ihn mir dort vorzustellen und verweilte mit wachsendem Grauen dabei. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern, aber ich wusste, dass er mein Onkel gewesen war, der einzige Bruder meiner Mutter, dass er mich in sein Haus aufgenommen hatte, als ich ein armes, elternloses Kind gewesen war, und dass er noch in seinen letzten Augenblicken Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie ihr eigenes Kind zu erziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war höchstwahrscheinlich der Überzeugung, dass sie dieses Versprechen gehalten habe, und soweit ihre Natur ihr dies erlaubte, hatte sie es wohl auch tatsächlich getan. Wie sollte sie denn auch für einen Eindringling Liebe hegen, der nicht zu ihrer Familie gehörte und nach dem Tode ihres Gatten durch keine Bande mehr an sie gekettet war? Es musste ihr natürlich ärgerlich sein, sich durch ein unter solchen Umständen gegebenes Versprechen genötigt zu sehen, einem fremden Kinde, das sie nicht lieben konnte, die Eltern zu ersetzen; es ertragen zu müssen, dass eine ganz andersartige Fremde sich unaufhörlich in ihren Familienkreis drängte.
Eine sonderbare Idee bemächtigte sich meiner: Ich zweifelte nicht, ja hatte es niemals bezweifelt, dass Mr. Reed, wenn er noch am Leben wäre, mich mit Güte behandelt haben würde. Und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf, da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen hatte. Wie sie jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen. Ich stellte mir vor, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder das Gewölbe der Kirche oder das unbekannte Land der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen würde. Ich trocknete meine Tränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, dass diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Trost erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könnten, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Diese vielleicht ganz trostreiche Vorstellung würde entsetzlich sein, wenn sie Wirklichkeit annehmen würde. Mit aller Gewalt versuchte ich, diese Gedanken zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig und gefasst zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, hob ich den Kopf und versuchte, in dem dunklen Zimmer umherzublicken. In diesem Augenblick sah ich plötzlich den Widerschein eines Lichtes an der Wand. War dies vielleicht der Mondschein, der durch eine Öffnung in dem Vorhang drang? Nein, die Mondesstrahlen waren ruhig, und dieses Licht bewegte sich; während ich noch hinblickte, glitt es zur Decke hinauf und erzitterte über meinem Kopf. Heute kann ich freilich erraten, dass dieser Lichtstreifen aller Wahrscheinlichkeit nach der Schimmer einer Laterne war, welche jemand über den freien Platz vor dem Haus trug, aber damals, mit dem auf Schrecken und Entsetzen vorbereiteten Gemüt, mit meinen vor Aufregung bebenden Nerven hielt ich den sich schnell bewegenden Strahl für den Herold einer Erscheinung, die aus einer anderen Welt zu mir kam. Mein Herz pochte laut, mein Kopf wurde heiß, und in meinen Ohren spürte ich ein Brausen, das ich für das Rauschen von Flügeln hielt. Etwas schien sich mir zu nähern, ich fühlte mich bedrückt, erstickt, mein Widerstandsvermögen gab nach, ich stürzte auf die Tür zu und rüttelte mit verzweifelter Anstrengung an der Klinke. Eilende Schritte kamen durch den Korridor heran; der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und Bessie und Miss Abbot traten ein.
»Miss Eyre, sind Sie krank?«, fragte Bessie.
»Welch ein fürchterlicher Lärm! Ich bin ganz außer mir!«, rief Abbot aus.
»Lasst mich raus! Lasst mich ins Kinderzimmer gehen!«, schrie ich.
»Weshalb denn? Ist Ihnen irgendetwas geschehen? Haben Sie etwas gesehen?«, fragte wiederum Bessie.
»Oh, ich sah ein Licht, und ich meinte, dass ein Geist kommen würde.« Ich hatte jetzt Bessies Hand ergriffen, und sie entzog sie mir nicht.
»Sie hat mit Absicht so geschrien«, erklärte Abbot mit einigem Abscheu. »Was für ein Geschrei! Wenn sie große Schmerzen gehabt hätte, so könnte man es noch entschuldigen, aber sie wollte weiter nichts, als uns alle herbeilocken. Ich kenne ihre bösen Streiche schon.«
»Was gibt es denn hier?«, fragte eine andere Stimme gebieterisch. Mrs. fegte mit flatternden Haubenbändern und wehendem Kleid den Korridor entlang. »Abbot und Bessie, ich glaube, dass ich Befehl gegeben habe, Jane Eyre in dem Roten Zimmer zu lassen, bis ich selbst sie holen würde.«
»Miss Jane schrie so laut, Madam«, wandte Bessie zögernd ein.
»Lasst sie los«, war Mrs. Reeds Antwort. »Lass Bessies Hand los, Kind! Verlass dich darauf, auf diese Weise wirst du nicht hinausgelangen. Ich verabscheue solche List, besonders bei Kindern; es ist meine Pflicht, dir zu beweisen, dass du mit derartigen Ränken und Schlichen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine ganze Stunde hierbleiben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Versprechen gibst, vollkommen ruhig und gehorsam zu sein.«
»Oh, Tante, habt Erbarmen! Vergebt mir doch! Ich kann, ich kann es nicht ertragen … Bestraft mich doch auf andere Weise! Ich komme um, wenn …«
»Sei still! Diese Heftigkeit ist ganz widerlich und empörend!«
Ohne Zweifel hegte sie Abscheu gegen mein Betragen. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin; sie sah in mir eine Verkörperung der heftigsten Leidenschaften, geprägt von einem niedrigen, gemeinen Geist und gefährlicher Falschheit.
Als Bessie und Abbot sich zurückgezogen hatten, warf Mrs. Reed, die meiner wilden Angst und meines lauten Schluchzens wohl müde geworden war, mich rasch in das Zimmer zurück und schloss mich ohne weitere Worte wieder ein. Ich hörte noch, wie sie davonrauschte, und bald nachdem sie gegangen war, muss ich in Krämpfe verfallen sein: Bewusstlosigkeit machte der Szene ein Ende.
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Drittes Kapitel
Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit dem Gefühl eines schrecklichen Albtraumes erwachte: Vor mir sah ich eine unheimliche rote Glut, von der sich dicke, schwarze Gitterstäbe abhoben. Ich hörte Stimmen, die so hohl an mein Ohr klangen, als würden sie durch Wasserrauschen oder das Toben des Windes übertönt. Aufregung, Ungewissheit und ein alles beherrschendes Gefühl des Entsetzens hielten meine Sinne gefangen. Es vergingen nur wenige Augenblicke und dann gewahrte ich, dass jemand mich berührte, mich aufhob und in eine sitzende Stellung brachte, und zwar viel zärtlicher und sorgsamer, als mich bis jetzt irgendjemand gestützt oder emporgehoben hatte. Ich lehnte meinen Kopf gegen einen Arm oder ein Polster und fühlte mich unendlich wohl.
Nach fünf Minuten lösten sich die letzten Wolken der Bewusstlosigkeit auf. Jetzt wusste ich sehr wohl, dass ich in meinem eigenen Bett lag, und dass die rote Glut nichts anderes war, als das Feuer im Kamin des Kinderzimmers. Es war Nacht, eine Kerze brannte auf dem Tisch; Bessie stand am Fußende meines Bettes und hielt eine Waschschüssel in der Hand. Ein Herr saß auf einem Lehnstuhl neben mir und beugte sich über mich.
Ich empfand eine unbeschreibliche Erleichterung, eine wohltuende Überzeugung der Sicherheit und der Geborgenheit, als ich sah, dass sich ein Fremder im Zimmer befand, ein Mensch, der nicht zum Haushalt von Gateshead, nicht zu den Verwandten von Mrs. Reed gehörte. Mich von Bessie abwendend – obgleich ihre Gegenwart mir weit weniger unangenehm war, als mir zum Beispiel Abbots Gesellschaft gewesen wäre –, prüfte ich die Gesichtszüge des Herrn. Ich erkannte ihn: Es war Mr. Lloyd, ein Apotheker, den Mrs. Reed zuweilen rufen ließ, wenn ihre Dienstboten krank waren. Für sich selbst und ihre Kinder nahm sie immer nur die Hilfe des Arztes in Anspruch.
»Nun, wer bin ich?«, fragte er.
Ich sprach seinen Namen aus und streckte ihm gleichzeitig meine Hand entgegen. Er nahm sie, lächelte und sagte: »Ah, wir werden uns jetzt langsam erholen.« Dann legte er mich nieder, wandte sich zu Bessie und empfahl ihr, sehr vorsichtig zu sein und mich während der Nacht nicht zu stören. Nachdem er noch weitere Weisungen erteilt und gesagt hatte, dass er am folgenden Tag wiederkommen würde, ging er zu meiner größten Betrübnis fort. Während er auf dem Stuhl neben meinem Kopfkissen saß, fühlte ich mich so beschützt, so sicher, und als sich die Tür hinter ihm schloss, wurde das ganze Zimmer dunkel und mein Herz verzagte von Neuem unter der Last einer unbeschreiblichen Traurigkeit.
»Glauben Sie, dass Sie schlafen können, Miss?«, fragte Bessie mich ungewöhnlich sanft.
Kaum wagte ich, ihr zu antworten, denn ich fürchtete, dass ihre nächsten Worte wieder grob klingen würden. »Ich will es versuchen«, sagte ich leise.
»Möchten Sie nicht irgendetwas essen oder trinken?«
»Nein danke, Bessie.«
»Nun, dann werde ich auch schlafen gehen, denn es ist schon nach Mitternacht. Aber Sie können mich rufen, wenn Sie während der Nacht irgendetwas brauchen.«
Welch seltene Höflichkeit! Das ermutigte mich, eine Frage zu stellen:
»Bessie, was ist denn mit mir geschehen? Bin ich sehr krank?«
»Ich vermute, dass Sie vom Schreien im Roten Zimmer krank geworden sind; aber Sie werden ohne Zweifel bald wieder ganz gesund sein.«
Bessie ging in das angrenzende Zimmer der Hausmädchen. Ich hörte, wie sie dort flüsterte:
»Sarah, komm und schlaf bei mir im Kinderzimmer. Um mein Leben könnte ich nicht diese Nacht mit dem armen Kind allein bleiben; es könnte sterben! Wie sonderbar, dass Miss Jane einen solchen Anfall haben musste! Ich möchte doch wissen, ob sie irgendetwas gesehen hat. Mrs. Reed war dieses Mal aber auch zu hart gegen sie.«
Sarah kam mit ihr zurück; beide gingen zu Bett und flüsterten mindestens noch eine halbe Stunde miteinander, bevor sie einschliefen. Ich hörte einige Bruchstücke ihrer Unterhaltung, aus denen ich auf den Gegenstand ihres Gespräches schloss:
»Etwas ist an ihr vorübergeschwebt, ganz in Weiß gekleidet, und dann ist es wieder verschwunden …« – »… ein großer, schwarzer Hund hinter ihm …« – »… dreimal hat es laut an der Zimmertür geklopft …« – »… ein Licht auf dem Friedhof gerade über seinem Grab …« – und so weiter, und so weiter.
Endlich schliefen beide ein. Feuer und Licht erloschen. In schaurigem Wachen ging die Nacht für mich langsam dahin; Entsetzen und Angst hielten Ohren, Augen und Sinne wach – Entsetzen und Angst, wie nur Kinder sie zu empfinden imstande sind.
Diesem Zwischenfall im Roten Zimmer folgte keine lange, ernste, körperliche Krankheit, nur eine heftige Erschütterung meiner Nerven, deren Widerhall ich noch bis auf den heutigen Tag empfinde. Ja, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich gar manchen qualvollen Schmerz der Seele. Aber ich sollte Ihnen verzeihen, denn Sie wussten nicht, was Sie taten. Während Sie jede Faser meines Herzens zerrissen, glaubten Sie, nur meine bösen Neigungen und Anlagen zu ersticken.
Am nächsten Tag gegen Mittag war ich bereits aufgestanden und angekleidet und saß, in einen warmen Schal gehüllt, vor dem Kaminfeuer. Ich fühlte mich körperlich schwach und gebrochen, aber mein schlimmstes Übel war ein unaussprechlicher Jammer der Seele, ein Jammer, der mir fortwährend stille Tränen entlockte. Kaum hatte ich einen salzigen Tropfen von meiner Wange getrocknet, als auch schon ein weiterer folgte. Und doch meinte ich, dass ich augenblicklich glücklich sein müsste, denn keiner von den Reeds war da, alle waren mit ihrer Mama im großen Wagen spazieren gefahren. Auch