Inferno - Dan Brown - Kapitel 87
mich mit einem ganzen Zirkel Gleichgesinnter zusammen – Persönlichkeiten mit atemberaubendem Intellekt und fantastischen Talenten … Persönlichkeiten, die wirklich imstande waren, die Zukunft zu ändern. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht mehr allein, Robert.«
Langdon spürte den Schmerz in ihren Worten und lächelte sanft.
»Ich habe in meinem Leben ein paar furchtbare Dinge erlebt«, fuhr Sienna mit zunehmend unsicherer Stimme fort. »Dinge, die ich nur schwer verarbeiten konnte …« Sie senkte den Blick und strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel, bevor sie sich wieder fasste und ihn ansah. »Vielleicht ist mein fester Glaube das Einzige, was mich weitermachen lässt. Mein fester Glaube daran, dass wir imstande sind, besser zu werden, als wir es heute sind. Dass wir einen katastrophalen Zusammenbruch vermeiden können.«
»Und Zobrist war ebenfalls davon überzeugt?«, fragte Langdon.
»Absolut. Bertrand hat die Menschheit mit grenzenlosem Optimismus betrachtet. Er war Transhumanist und überzeugt, dass wir an der Schwelle zu einer glänzenden ›posthumanen‹ Zukunft leben, einer Epoche wahrhafter Transformation. Er hatte einen visionären Verstand und blickte auf eine Weise in die Zukunft, wie es sich nur wenige vorstellen können. Er hat die wunderbare Macht der Technologie begriffen und war überzeugt, dass sich unsere Spezies im Verlauf weniger Generationen vollkommen verändern würde – dass sie genetisch verbessert, gesünder, klüger, stärker, sogar mitfühlender werden würde.« Sie hielt inne. »Es gab nur ein Problem. Bertrand bezweifelte, dass unsere Spezies lange genug überleben würde, um all das Wirklichkeit werden zu lassen.«
»Wegen der Überbevölkerung …«, sagte Langdon.
Sie nickte. »Ganz richtig. Die Malthusianische Katastrophe. Bertrand sagte immer wieder zu mir, dass er sich vorkomme wie der Heilige Georg bei dem Versuch, das chthonische Monster zu erschlagen.«
Langdon konnte ihr nicht folgen. »Die Medusa?«
»Metaphorisch gesprochen, ja. Die Medusa und all die anderen chthonischen Gottheiten leben unterirdisch, weil sie direkt mit Mutter Erde assoziiert sind. Sie stellen Sinnbilder dar für …«
»Fruchtbarkeit«, vollendete Langdon den Satz, verblüfft darüber, dass ihm die Parallele nicht früher aufgefallen war. Fruchtbarkeit. Population.
»Genau, Fruchtbarkeit«, sagte Sienna. »Bertrand hat den Ausdruck ›chthonisches Monster‹ als Sinnbild für die unheimliche Gefahr benutzt, die uns aus unserer eigenen Fruchtbarkeit erwächst. Er beschrieb unsere Überproduktion an Nachkommen als ein Monster, das am Horizont lauert … ein Monster, dass wir unverzüglich bekämpfen müssen, bevor es uns alle verschlingen kann.«
Unsere eigene Zeugungskraft verfolgt uns, erkannte Langdon. Das chthonische Monster. »Und Bertrand hat gegen dieses Monster gekämpft? Wie?« Langdon blickte Sienna in die Augen.
»Sie müssen verstehen, das sind keine leicht lösbaren Probleme«, sagte sie defensiv. »Es ist nie schön, eine schwere Entscheidung treffen zu müssen. Ein Mann, der einem dreijährigen Kind das Bein abschneidet, ist ein brutaler Krimineller … es sei denn, es handelt sich bei diesem Mann um einen Chirurgen, der das Kind vor Wundbrand rettet. Manchmal ist die einzige Wahl, die einem bleibt, die zwischen einem größeren und einem kleineren Übel.« Ihre Augen wurden wieder feucht. »Ich glaube, Bertrand hatte ein nobles Ziel … aber seine Methoden …« Sie wandte den Blick ab, während sie um ihre Fassung rang.
»Sienna«, flüsterte Langdon. »Ich muss alles wissen. Sie müssen mir erklären, was Bertrand getan hat. Was hat er genau auf die Welt losgelassen?«
Sie sah ihn wieder an, und in ihren sanften braunen Augen stand unverhohlene Angst. »Er hat ein Virus erschaffen«, flüsterte sie. »Ein sehr spezielles Virus.«
Langdon hielt den Atem an. »Sprechen Sie weiter.«
»Bertrand erschuf etwas, das man ›viralen Vektor‹ nennt. Das ist ein Virus, das dazu gedacht ist, eine genetische Information in die Zelle einzuschleusen, an die es sich anheftet.« Sie wartete, bis Langdon ihr mit einem Kopfnicken signalisierte, dass er ihr folgen konnte. »Ein viraler Vektor tötet seine Wirtszelle nicht … er fügt lediglich eine bestimmte Sequenz in die DNS der Zelle ein und modifiziert auf diese Weise ihr Genom.«
Dieses Virus verändert unser Erbgut?, dachte Langdon.
»Das Heimtückische an Bertrands Schöpfung besteht darin, dass wir nicht wissen, ob wir infiziert wurden. Niemand wird krank. Es gibt keine erkennbaren Symptome, die verraten, dass wir genetisch verändert wurden.«
Für einen Moment hörte Langdon das Blut in seinen Adern rauschen. »Und welche Veränderungen bewirkt es?«
Sienna schloss die Augen. »Robert, als dieses Virus in der Zisterne freigesetzt wurde, nahm eine Kettenreaktion ihren Lauf. Jede Person, die in der Zisterne war und die Luft eingeatmet hat, wurde infiziert. Sie alle wurden zu viralen Wirten … ahnungslosen Komplizen, die das Virus auf andere übertragen und eine exponentielle Vermehrung in Gang gesetzt haben, die wie ein Steppenbrand über den Planeten hinweggerast ist. Inzwischen hat das Virus die gesamte Menschheit befallen, Sie, mich, einfach jeden.«
Langdon sprang von der Bank auf und marschierte aufgeregt hin und her. »Und was macht es mit uns?«
Sienna schwieg für einen langen Moment. »Das Virus … es macht die Menschen unfruchtbar«, sagte sie schließlich. »Bertrand hat eine Pandemie erschaffen, die uns alle unfruchtbar macht.«
Ihre Worte gingen Langdon durch Mark und Bein. Eine Pandemie, die uns unfruchtbar macht? Er wusste, dass es Viren gab, die Unfruchtbarkeit verursachten, doch ein hoch ansteckendes, durch die Luft übertragbares Pathogen, das die gesamte Menschheit unfruchtbar machte? Das klang wie aus einer anderen Welt … einer Art Orwell’scher Dystopie vielleicht.
»Bertrand hat oft von einem derartigen Virus gesprochen«, fuhr Sienna leise fort. »Ich hätte nie geglaubt, dass er versuchen könnte, es zu erschaffen … geschweige denn, dass er mit seinen Bemühungen Erfolg haben würde. Als ich seinen Brief erhielt und erfuhr, was er getan hatte, war ich zutiefst schockiert. Ich suchte verzweifelt nach ihm. Ich wollte ihn anflehen, seine Schöpfung zu vernichten. Es war zu spät.«
»Moment …«, unterbrach Langdon sie. »Wenn das Virus jeden auf der Welt unfruchtbar macht, gibt es keine neuen Generationen mehr … und die menschliche Spezies stirbt aus, ab sofort.«
»Das ist richtig«, antwortete sie kleinlaut. »Doch Aussterben war nicht Bertrands Ziel. Ganz im Gegenteil. Deswegen erschuf er ein sich willkürlich aktivierendes Virus. Obwohl ›Inferno‹ von nun an in der gesamten menschlichen DNS endemisch ist und von dieser Generation an auf alle folgenden vererbt wird, aktiviert es sich nur in einem gewissen Prozentsatz der Bevölkerung. Mit anderen Worten, jeder auf der Erde trägt es in sich, und doch ist nur eine willkürliche Teilmenge der Bevölkerung tatsächlich unfruchtbar.«
Wieder hatte Langdon das Gefühl, in einem Alptraum festzustecken. »Und … wie viele Menschen sind das?«
»Wie Sie wissen, war Bertrand besessen vom Schwarzen Tod … der Seuche, die unterschiedslos ein Drittel der europäischen Bevölkerung hingerafft hat. Er glaubte, dass die Natur am besten weiß, wie sie die Auslese zu betreiben hat. Als Bertrand seine Berechnungen zur Unfruchtbarkeit durchführte, stellte er fest, dass die Todesrate der Pest, einer von dreien, genau das richtige Verhältnis zu sein scheint, um die menschliche Rasse so weit auszudünnen, dass die Überbevölkerung zurückgeht.«
Das ist ungeheuerlich, dachte Langdon.
»Die Pest dünnte die Massen aus und pflasterte den Weg für die Renaissance«, fuhr Sienna fort. »Bertrand erschuf Inferno als eine Art modernen Katalysator für die globale Erneuerung – eine transhumanistische Pest, mit einem entscheidenden Unterschied: Die Menschen, bei denen die moderne Version ausbricht, sterben nicht, sondern werden lediglich unfruchtbar. Wenn das Virus sich tatsächlich global festgesetzt hat, ist von heute an ein Drittel der Weltbevölkerung steril. Genauer gesagt: Für alle Zeiten wird ein Drittel der Menschheit steril sein. Es ist der gleiche Effekt wie bei einem rezessiven Gen … es wird an sämtliche Nachkommen weitergegeben und kommt doch nur bei einem kleinen Prozentsatz zur Wirkung.«
Siennas Hände zitterten, als sie fortfuhr. »In seinem Brief an mich war Bertrand so stolz auf sein Werk. Er hielt Inferno für eine äußerst elegante und humane Lösung des Problems.« Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Sie wischte sie fort. »Verglichen mit der Pest ist in seinem Ansatz tatsächlich so etwas wie Mitgefühl erkennbar. Keine vor Sterbenden oder Toten überquellenden Krankenhäuser, keine auf den Straßen liegenden und verrottenden Leichen, keine untröstlichen Überlebenden, die den Tod ihrer Angehörigen verarbeiten müssen. Die Menschheit bekommt einfach nicht mehr so viele Babys. Die Geburtenrate geht beständig zurück, bis sich die Bevölkerungskurve umkehrt und die Zahl der Menschen auf der Welt sinkt.« Sienna verstummte. »Der Eingriff ist weitaus radikaler als die Pest, die unsere Zahl nur für eine kurze Zeit gesenkt hat. Mit Inferno hat Bertrand eine permanente Lösung erschaffen … eine transhumanistische Lösung. Bertrand war Keimbahn-Genetiker. Er war es gewohnt, Probleme an der Wurzel zu lösen.«
»Das … das ist genetischer Terrorismus«, flüsterte Langdon. »Es ändert, was wir sind, was wir immer waren, auf der denkbar fundamentalsten Ebene.«
»Bertrand sah das anders. Er träumte davon, den fatalen Fehler in der menschlichen Evolution zu korrigieren … die Tatsache, dass unsere Spezies einfach zu fruchtbar ist. Wir sind ein Organismus, der seine Vermehrungsrate nicht kontrollieren kann – trotz allen Intellekts. Nichts funktioniert: keine kostenlose Empfängnisverhütung, keine Aufklärung, keine noch so verlockenden staatlichen Anreize. Wir bekommen Babys … ob wir wollen oder nicht. Wussten Sie, dass nach einem kürzlich veröffentlichten Bericht des CDC die Hälfte aller Schwangerschaften in den Vereinigten Staaten ungeplant ist? Und dass diese Zahl in den Entwicklungsländern sogar siebzig Prozent übersteigt?«
Langdon kannte die Statistiken, und doch begriff er erst jetzt ansatzweise die Schlussfolgerungen. Die menschliche Spezies war mit den Kaninchen vergleichbar, die Seefahrer auf verschiedenen Pazifikinseln ausgesetzt hatten – sie vermehrten sich unkontrolliert bis zu dem Punkt, an dem ihr Ökosystem zusammenbrach und die gesamte Population ausstarb.
Bertrand Zobrist hat unsere Spezies verändert … Er hat uns weniger fruchtbar gemacht … um uns zu retten.
Langdon atmete tief durch und sah hinaus auf den Bosporus. Er fühlte sich genauso ungeerdet wie die Schiffe weit draußen. Die Sirenen wurden nach wie vor lauter. Sie kamen aus Richtung der Docks.
Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, dachte Langdon.
»Das Erschreckendste von allem ist nicht, dass