Inferno - Dan Brown - Kapitel 86
ist das Datum, das Zobrist genannt hat, und wenn Sie nicht ins Wasser gerannt wären …«
»Robert, ich habe das Virus nicht freigesetzt!«, unterbrach ihn Sienna. »Als ich ins Wasser gestiegen bin, habe ich danach gesucht, aber es war zu spät. Es war nichts mehr da.« Sie brüllte fast.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Langdon.
»Ich weiß. Ich kann es Ihnen nicht mal verdenken.« Sie steckte die Hand in die Jackentasche und zog ein durchweichtes Faltblatt hervor. »Vielleicht hilft das.« Sie warf es Langdon zu. »Ich habe es gefunden, kurz bevor ich in die Lagune gestiegen bin.«
Langdon schlug das Faltblatt auf. Es war ein Konzertprogramm – die sieben Aufführungen der Dante-Symphonie.
»Und?«, fragte er.
»Sehen Sie auf die Datumsangaben.«
Langdon tat wie geheißen … dann las er die Zeilen verblüfft ein zweites Mal.
Aus irgendeinem Grund hatte er die ganze Zeit geglaubt, das Konzert an diesem Abend wäre die Eröffnungsaufführung gewesen – die erste von insgesamt sieben Aufführungen im Verlauf der Woche, jede einzelne dazu gedacht, Menschen in die virenverseuchte Kaverne zu locken. Das Faltblatt belehrte ihn eines Besseren.
»Das war die Abschlussveranstaltung heute Abend?«, fragte er und blickte auf. »Das Orchester hat schon die ganze Woche gespielt?«
Sienna nickte. »Ich war genauso überrascht wie Sie, Robert.« Sie stockte. »Das Pathogen ist längst freigesetzt«, sagte sie ernst. »Es ist seit einer Woche draußen.«
»Das kann nicht sein!«, beharrte Langdon. »Das Datum ist erst morgen! Zobrist hat das Datum sogar auf einer Tafel festgehalten!«
»Ja. Ich habe die Tafel im Wasser gesehen.«
»Sie verweist doch eindeutig auf das morgige Datum.«
Sienna seufzte. »Robert, ich kannte Bertrand gut. Viel besser, als ich Ihnen gegenüber zugegeben habe. Er war Wissenschaftler, ein ergebnisorientierter Mensch. Und ich sehe jetzt, dass er mit dem Datum auf der Tafel nicht das Datum der Freisetzung gemeint hat, sondern ein anderes, in seinen Augen viel wichtigeres.«
»Und das wäre …?«
Siennas Blick war feierlich ernst, als sie Langdon vom Boot aus ansah. »Es ist das Datum der globalen Sättigung, Robert. Die mathematische Projektion, wann das Virus sich über die gesamte Welt verbreitet hat. Der Tag, an dem jedes Individuum infiziert wurde.«
Ihre Antwort jagte Langdon einen eisigen Schauer über den Rücken – und trotzdem hoffte er inbrünstig, dass sie log. Ihre Geschichte enthielt einen fatalen Fehler, und Sienna Brooks hatte bewiesen, dass mehr oder weniger alles gelogen war, was sie bisher gesagt hatte.
»Es gibt ein Problem dabei, Sienna«, sagte Langdon und starrte eisig auf sie hinab. »Wenn dieses Virus sich bereits über die ganze Welt verbreitet hat, warum werden die Menschen nicht krank?«
Sienna konnte ihm plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. Sie senkte den Kopf.
»Wenn dieses Virus seit einer Woche frei ist«, wiederholte Langdon seine Frage, »warum sterben die Menschen dann nicht daran?«
Langsam hob sie den Blick und sah ihn wieder an. »Weil …«, begann sie und stockte erneut. »Weil Bertrand keine Krankheit erschaffen hat, Robert.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Was er erschaffen hat, ist noch viel tragischer.«
KAPITEL 98
Trotz des Sauerstoffs der Atemmaske fühlte Elizabeth Sinskey sich schwindlig. Fünf Minuten waren vergangen, seit Brüders Apparate die schreckliche Wahrheit offenbart hatten.
Es gibt kein Zeitfenster mehr – die Eindämmung ist längst unmöglich.
Der Solublon-Beutel hatte sich offenbar bereits im Verlauf der vergangenen Woche aufgelöst, höchstwahrscheinlich am Eröffnungsabend der Konzerte, die, wie Sinskey inzwischen wusste, an aufeinanderfolgenden Abenden stattgefunden hatten. Die wenigen verbliebenen Fetzen Solublon an der Schnur hatten sich nur deswegen nicht aufgelöst, weil sie mit Klebeband daran befestigt gewesen waren.
Das Virus ist seit einer Woche frei.
Weil es offensichtlich zu spät war, um die weitere Ausbreitung des Pathogens zu verhindern, hockten Sinskeys Leute im improvisierten Labor in der Zisterne über den Proben und begaben sich auf die übliche Rückzugsposition – Analyse, Klassifizierung und Bedrohungseinschätzung. Bisher hatten die PCR-Units nur eine verlässliche Information enthüllt, und das Ergebnis überraschte niemanden mehr.
Das Virus ist in der Luft.
Der Inhalt des Solublon-Beutels war allem Anschein nach an die Wasseroberfläche geschwebt und hatte virale Partikel aerosolisiert. Es waren nicht viele nötig, wie Sinskey wusste. Insbesondere nicht in einem geschlossenen Raum wie der Zisterne.
Ein Virus kann sich – im Gegensatz zu einem Bakterium oder einem chemischen Pathogen – mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit in einer Population ausbreiten. Ähnlich wie Parasiten dringen Viren in einen Organismus ein und heften sich an eine Wirtszelle, in einem Prozess, der als ›Adsorption‹ bezeichnet wird. Dann injizieren sie ihre eigene DNS oder RNS, rekrutieren die Zelle auf diese Weise und zwingen sie zur Synthese multipler Kopien ihrer selbst, bis die befallene Zelle abstirbt. Die neuen Viren durchbrechen die Zellwände und suchen ihrerseits nach Zellen, die sie angreifen können. Alles beginnt von vorn.
Ein infiziertes Individuum verbreitet Viren beim Ausatmen, beim Niesen oder Husten in winzigen Tröpfchen durch die Luft. Die Tröpfchen bleiben in der Schwebe, bis sie von einem anderen Wirt inhaliert werden, in dem dann der gleiche Vorgang einsetzt.
Exponentielles Wachstum, dachte Sinskey und rief sich Zobrists Grafik über die Bevölkerungsexplosion ins Gedächtnis. Zobrist macht sich das exponentielle Wachstum von Viren zunutze, um die exponentielle Vermehrung der Menschheit zu bekämpfen.
Die Frage lautete: Wie würde sich dieses Virus verhalten?
Oder schonungsloser gefragt: Wie würde es seinen Wirt angreifen?
Viren können heimtückisch sein. Das Ebola-Virus beispielsweise verhindert die Blutgerinnung des Opfers, was in unstillbaren Blutungen resultiert. Das Hanta-Virus führt zum Versagen der Lungen. Eine ganze Familie von Viren, Onkoviren genannt, verursacht Krebs. Und das HIV-Virus attackiert das Immunsystem und ruft die AIDS genannte Krankheit hervor. Es ist kein Geheimnis in der medizinischen Community, dass das HIV-Virus, wäre es durch die Luft verbreitet worden, den Untergang der menschlichen Spezies nach sich gezogen hätte.
Was um alles in der Welt bewirkt Zobrists Virus?
WAS auch immer es war, offensichtlich dauerte es eine ganze Weile, bis sich die ersten Symptome zeigten … die Krankenhäuser im näheren Umkreis hatten jedenfalls noch keine Meldungen über Patienten mit ungewöhnlichen Krankheitsbildern abgesetzt.
Sinskey brannte auf Antworten. Sie sah Brüder beim Treppenaufgang stehen, wo sein Handy ein schwaches Signal hatte. Er redete leise mit einem Gesprächspartner.
Sie eilte zu ihm und traf ein, als er im Begriff stand, das Gespräch zu beenden. »Okay, verstanden«, sagte er mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Unglauben und nacktem Entsetzen angesiedelt war. »Noch einmal, ich kann nicht stark genug betonen, wie vertraulich diese Information ist. Niemand darf davon erfahren, absolut niemand. Rufen Sie mich an, sobald Sie mehr wissen. Danke.« Er legte auf.
»Wer war das?«, fragte Sinskey.
Brüder stieß langsam den Atem aus. »Ein alter Freund – ein Virologe beim CDC in Atlanta.«
»Sie haben ohne meine Genehmigung das CDC alarmiert?«, fragte Sinskey aufgebracht.
»Ich habe nach pflichtgemäßem Ermessen gehandelt«, antwortete Brüder. »Mein Kontakt ist diskret, und wir benötigen eine Menge mehr Daten als das, was uns dieses improvisierte Labor liefern kann.«
Sinskey blickte zu der Handvoll SRS-Agenten, die Wasserproben sammelten und über ihrer tragbaren Elektronik hockten. Er hat Recht.
»Mein Kontakt beim CDC verfügt über ein voll ausgerüstetes mikrobiologisches Labor. Er konnte bereits die Existenz eines extrem ansteckenden viralen Pathogens bestätigen, das bis heute völlig unbekannt war«, fuhr Brüder fort.
»Warten Sie!«, unterbrach ihn Sinskey. »Wie konnten Sie ihm so schnell eine Probe zukommen lassen?«
»Habe ich nicht«, antwortete Brüder. »Er hat sein eigenes Blut getestet.«
Es dauerte einen Moment, bis Sinskey die Bedeutung von Brüders Worten verarbeitet hatte.
Es ist global.
KAPITEL 99
Langdon bewegte sich langsam. Er fühlte sich eigenartig körperlos, wie in einem besonders lebendigen Alptraum. Was könnte tragischer sein als eine tödliche Seuche?
Sienna hatte geschwiegen, seit sie aus dem Motorboot gestiegen war und Langdon bedeutet hatte, ihr zu folgen … weg von den Docks und den Menschen, über einen einsamen Kiesweg, immer weiter weg vom Wasser.
Sie hatte aufgehört zu weinen, doch er spürte, dass sich ein Schwall von Emotionen in ihr staute. In der Ferne heulten Sirenen. Sienna schien es nicht zu bemerken. Sie starrte leeren Blickes zu Boden, wie hypnotisiert vom rhythmischen Knirschen des Kieses unter ihren Füßen.
Sie betraten einen kleinen Park, und Sienna führte Langdon zu einem Wäldchen, wo sie vor aller Welt verborgen waren. Sie setzten sich auf eine Bank mit Aussicht auf das Wasser. Am anderen Ufer, in Galata, erstrahlte der alte Christea Turris, der Christusturm, inmitten der stillen Wohnviertel an den Hängen. Von hier aus sah die Welt eigenartig friedlich aus – mehr oder weniger das Gegenteil von dem, was unten in der Zisterne seinen Anfang genommen hatte. Inzwischen hatten Sinskey und ihr Team vermutlich ebenfalls festgestellt, dass sie zu spät gekommen waren, um die Pandemie noch aufzuhalten.
Sienna starrte hinaus auf das Meer. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Robert«, sagte sie. »Die Behörden werden bald herausfinden, wohin ich gegangen bin. Aber vorher möchte ich, dass Sie die Wahrheit erfahren … die ganze Wahrheit.«
Langdon nickte schweigend.
Sienna wischte sich über die Augen und blickte ihn an. »Bertrand Zobrist …«, begann sie und stockte wieder. »Bertrand Zobrist war meine erste Liebe. Er wurde mein Mentor.«
»So viel weiß ich inzwischen«, sagte Langdon.
Sie sah ihn verblüfft an, doch dann redete sie weiter, als hätte sie Angst, den Mut zu verlieren. »Als ich ihn kennengelernt habe, war ich noch leichter zu beeindrucken als heute. Seine Vorstellungen und sein Intellekt verzauberten mich. Bertrand war überzeugt – genau wie ich –, dass unsere Spezies am Rand des Aussterbens steht. Dass uns ein furchtbares Ende droht, viel schneller, als sich irgendjemand eingestehen will.«
Langdon schwieg.
»Meine gesamte Kindheit hindurch wollte ich die Welt retten«, erzählte Sienna. »Und alles, was ich je zu hören bekam, waren Worte wie: ›Du kannst die Welt nicht retten – opfere nicht dein Glück, indem du es versuchst.‹« Sie stockte, den Tränen nah. »Dann lernte ich Bertrand kennen – einen wunderbaren, brillanten Mann, der mir sagte, dass es nicht nur möglich sei, die Welt zu retten, sondern sogar unsere moralische Pflicht. Er brachte