Inferno - Dan Brown - Kapitel 74
der Tat perfekt gewesen.
Sienna hat mich die ganze Zeit an der Nase herumgeführt, dachte Langdon. Er war eher traurig als wütend. Zwar kannte er sie erst kurze Zeit, trotzdem hatte er bereits eine gewisse Zuneigung für sie entwickelt. Eine Frage fand Langdon besonders beunruhigend: Wie konnte eine so warmherzige und kluge Seele wie Sienna sich mit ganzem Herzen Zobrists Idee verschreiben, das Problem der Überbevölkerung auf so radikale Weise zu lösen?
Das Ende der menschlichen Spezies, hatte sie Langdon gesagt, steht zweifellos unmittelbar bevor, falls es nicht vorher zu einer dramatischen Veränderung kommt … Die Mathematik ist über jeden Zweifel erhaben.
»Und die Artikel über Sienna?«, fragte Langdon und erinnerte sich an das Theaterprogrammheft und die Berichte über ihren atemberaubend hohen IQ.
»Die sind echt«, antwortete der Provost. »Eine Illusion ist dann am besten, wenn man sie so eng mit der Realität verknüpft wie möglich. Wir hatten nicht viel Zeit, alles vorzubereiten. Siennas Computer und ihre echten persönlichen Daten waren so ziemlich alles, womit wir arbeiten konnten. Allerdings sollten Sie die eigentlich nicht zu sehen bekommen. Sie waren für den Fall gedacht, dass Sie an Siennas Identität gezweifelt hätten.«
»Und ihren Computer hätte ich auch nicht benutzen sollen, korrekt?«, fragte Langdon.
»Ja. Das war letzten Endes der Punkt, an dem wir die Kontrolle verloren haben. Sienna hat nicht damit gerechnet, dass Sinskeys SRS-Team ihre Wohnung finden würde. Deshalb ist sie in Panik geraten, als die Soldaten kamen. Sie musste improvisieren. Um die Illusion aufrechtzuerhalten, ist sie mit Ihnen auf dem Trike geflohen. Als die ganze Mission aus dem Ruder zu laufen drohte, blieb mir nichts anderes übrig, als Vayentha fallenzulassen. Aber sie hat das Protokoll missachtet und Sie auf eigene Faust weiterverfolgt.«
»Sie hat mich beinahe umgebracht«, sagte Langdon und berichtete vom Showdown unter dem Dach des Palazzo Vecchio, als Vayentha ihre Waffe direkt auf seine Brust gerichtet hatte. Es tut nur für einen Moment weh … aber ich habe keine andere Wahl, hatte sie gesagt. Doch dann hatte Sienna Vayentha über die Brüstung in die Tiefe gestoßen.
Der Provost seufzte und dachte über Langdons Worte nach. »Ich bezweifele, dass Vayentha Sie wirklich töten wollte … Ihre Waffe war nur mit Platzpatronen geladen. Mit ›keine andere Wahl‹ hat sie wohl gemeint, dass sie Sie irgendwie wieder unter Kontrolle bringen musste. Stellen Sie sich vor, sie hätte mit einer Platzpatrone auf Sie geschossen. Hätten Sie sich dann nicht gewundert? Vermutlich wollte Vayentha Sie auf diese Weise davon überzeugen, dass sie keine Killerin ist und dass alles nur Illusion war.« Der Provost überlegte kurz und fuhr dann fort: »Was Sienna betrifft, bin ich mir nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob sie Vayentha wirklich töten oder nur am Schuss hindern wollte. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich Sienna Brooks nie wirklich gekannt habe.«
Ich auch nicht, dachte Langdon. Er erinnerte sich deutlich an Siennas bestürzte Miene, als sie in jenem Moment an der Brüstung gestanden hatte. Nach wie vor glaubte er, dass sie die Agentin mit der Stachelfrisur nicht hatte töten wollen.
Langdon wandte sich ab. Er fühlte sich vollkommen allein und sehnte sich danach, die Welt unter sich vorbeiziehen zu sehen; doch alles, was er sah, war das nackte Metall des Flugzeugrumpfes.
Ich muss hier raus.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte der Provost und sah Langdon besorgt an.
»Nein«, antwortete Langdon. »Alles andere als gut.«
Er wird es schon überleben, dachte der Provost. Er braucht nur Zeit, das alles zu verarbeiten.
Der amerikanische Professor sah aus, als wäre er gerade von einem Tornado erfasst, durch die Luft gewirbelt und in ein fremdes Land geworfen worden. Er wirkte vollkommen desorientiert.
Wenn das Konsortium Zielpersonen in die Irre führte, erkannten diese Menschen nur selten die Wahrheit hinter den inszenierten Ereignissen. Und wenn doch, dann war der Provost in der Regel zu weit entfernt, als dass er ihre Reaktion beobachten konnte. Langdons Verwirrung bereitete ihm Gewissensbisse. Außerdem fühlte er sich für die gegenwärtige Krise zumindest mitverantwortlich.
Ich habe den falschen Klienten angenommen: Bertrand Zobrist.
Und ich habe der falschen Person vertraut: Sienna Brooks.
Und jetzt flog der Provost mitten ins Auge des Sturms und begab sich auf die Jagd nach einem Pathogen, das möglicherweise die Welt aus den Angeln heben würde. Selbst wenn er diese Katastrophe überlebte: das Konsortium war in jedem Fall am Ende. Es würde endlose Untersuchungen und Anschuldigungen geben.
Niemand wird mir je wieder vertrauen.
KAPITEL 83
Ich brauche Luft, dachte Robert Langdon. Ich muss etwas sehen … irgendwas.
Er hatte das Gefühl, als würde sich der fensterlose Rumpf immer enger um ihn zusammenziehen. Und die seltsame Geschichte, die er soeben gehört hatte, war seiner geistigen Verfassung auch nicht zuträglich. Er hatte Kopfweh von den vielen offenen Fragen … die meisten davon kreisten um Sienna.
Seltsamerweise vermisste er sie.
Sie hat alles nur gespielt, ermahnte er sich. Mich benutzt.
Wortlos erhob sich Langdon und ging am Provost vorbei in den vorderen Teil des Flugzeugs. Durch die offene Cockpittür fiel Sonnenlicht in die Kabine und zog ihn magisch an. Unbemerkt von den Piloten stellte er sich in die Tür und ließ sein Gesicht von der Sonne wärmen. Der weite, offene Raum vor ihm war eine wahre Wohltat. Der klare blaue Himmel sah so friedlich aus … so ewig.
Nichts ist ewig. Langdon konnte noch immer nicht ganz fassen, dass sie vor einer potenziellen Katastrophe standen.
»Professor«, sagte eine leise Stimme hinter ihm.
Langdon wandte sich um … und wich erschrocken zurück. Vor ihm stand Dr. Ferris. Als Langdon den Mann zum letzten Mal gesehen hatte, hatte er sich auf dem Boden des Markusdoms gewunden und nach Luft geschnappt. Und jetzt lehnte er an einer Flugzeugluke, trug eine Baseballkappe, und sein rosafarbenes Gesicht war mit einer Zinksalbe eingerieben. Sein gesamter Rumpf war bandagiert, und er atmete flach. Falls Ferris mit dem Pathogen infiziert war, so schien sich zumindest hier an Bord niemand Gedanken über die damit verbundene Ansteckungsgefahr zu machen.
»Sie … leben?«, fragte Langdon und starrte ihn an.
Ferris nickte müde. »Mehr oder weniger.« Das Verhalten des Mannes hatte sich dramatisch verändert. Er wirkte nun wesentlich entspannter.
»Aber ich dachte …« Langdon hielt inne. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«
Ferris lächelte mitfühlend. »Sie haben heute viele Lügen gehört. Da dachte ich mir, ich nehme mir wenigstens kurz die Zeit, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Wie Sie vielleicht schon vermutet haben, arbeite ich nicht für die WHO, und ich habe Sie auch nie in Cambridge besucht.«
Langdon nickte. Er war zu müde, als dass ihn jetzt noch etwas überraschen konnte. »Sie arbeiten für den Provost.«
»Ja. Er hat mich geschickt, um Sie und Sienna zu unterstützen und um Ihnen bei der Flucht vor dem SRS-Team zu helfen.«
»Dann haben Sie Ihren Job ja perfekt gemacht.« Langdon erinnerte sich daran, wie Ferris im Baptisterium aufgetaucht war und ihn davon überzeugt hatte, dass er für die WHO arbeitete. Und dann hatte er Siennas und seine Flucht aus Florenz organisiert. »Vermutlich sind Sie auch kein Arzt.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe diese Rolle nur gespielt. Ich sollte Sienna Brooks dabei helfen, die Illusion so lange aufrechtzuerhalten, bis Sie herausgefunden hätten, wohin die Suche führt. Der Provost wollte unbedingt als Erster vor Ort sein, um Zobrists Arbeit vor Sinskey zu schützen.«
»Und Sie hatten keine Ahnung, dass es sich dabei um ein Pathogen handelt?«, hakte Langdon nach. Er war noch immer skeptisch, was Ferris’ seltsamen Ausschlag und die inneren Blutungen betraf.
»Natürlich nicht! Als Sie das Pathogen zum ersten Mal erwähnten, nahm ich an, Sienna hätte Ihnen die Geschichte nur erzählt, um Sie zu motivieren. Also habe ich einfach mitgespielt. Ich habe uns in den Zug nach Venedig gebracht … und dann hat sich unsere Mission geändert.«
»Wie das?«
»Der Provost hat Zobrists bizarres Video gesehen.«
Ja, das kann einen ganz schön aus dem Konzept bringen. »Er hat erkannt, dass er es bei Zobrist mit einem Wahnsinnigen zu tun hat?«
»Genau. Der Provost erkannte mit einem Mal, auf was das Konsortium sich eingelassen hatte. Er war entsetzt. Er wollte unverzüglich mit der Person sprechen, die Zobrist am besten kannte: FS-2080. Er wollte wissen, ob sie über Zobrists Plan informiert war.«
»FS-2080 … Sie meinen …«
»Entschuldigung, ich meine Sienna Brooks. FS-2080 war der Codename, den sie sich für diese Operation ausgesucht hat, offenbar irgend so ein Transhumanistending. Der Provost hatte keine Möglichkeit, Sienna zu erreichen, außer durch mich.«
»Der Anruf im Zug«, sagte Langdon. »Ihre ›kranke Mutter‹.«
»Ich konnte den Anruf des Provosts ja wohl kaum in Ihrer Gegenwart annehmen. Er hat mir von dem Video erzählt, und ich war genauso schockiert wie er. Er hoffte, dass Sienna Brooks ebenfalls getäuscht worden war. Doch als ich ihm sagte, dass Sie und Sienna über eine Seuche geredet hätten und die Suche um jeden Preis fortsetzen wollten, wusste er, dass Sienna und Zobrist unter einer Decke steckten. Von dem Augenblick an war Sienna Brooks der Feind. Ich erhielt den Befehl, ständig über unsere Position in Venedig zu berichten. Er wollte ein Team schicken, um Brooks aus dem Spiel zu nehmen. Agent Brüders Team hätte sie im Dom fast geschnappt, doch sie konnte im letzten Moment fliehen.«
Langdon starrte zu Boden. Vor seinem geistigen Auge sah er Siennas braune Augen, die ihn kurz vor seiner Gefangennahme traurig angesehen hatten.
Es tut mir ja so leid, Robert. Alles tut mir leid.
»Sie ist knallhart«, bemerkte Ferris. »Sie haben vermutlich nicht mitbekommen, wie Sie mich im Dom außer Gefecht gesetzt hat, oder?«
»Außer Gefecht gesetzt?«
»Ja, als die Soldaten gekommen sind, wollte ich nach Ihnen rufen und Sienna verraten. Aber sie hat das wohl geahnt und mir den Handballen gegen die Brust gerammt.«
»Was?«
»Ich habe nicht gewusst, wie mir geschah. Das war irgendein Kampfsporttrick, nehme ich an. Weil ich