Inferno - Dan Brown - Kapitel 71
ihr herunter, und das spöttische Lachen wich schmerzerfüllten Angstschreien. Der warme Schweiß, der über Siennas Rücken rann, verfärbte sich plötzlich rot.
Als Sienna sich umdrehte, sah sie die alte Frau, die mit der halbgeschälten Zwiebel in der einen und dem rostigen Messer in der anderen Hand über Siennas Angreifer stand. Der Mann blutete stark aus einer Wunde am Rücken.
Die alte Frau funkelte die anderen Männer drohend an und fuchtelte mit ihrem blutigen Messer herum, bis die drei schließlich verschwanden.
Wortlos half die alte Frau Sienna beim Aufsammeln ihrer Sachen und beim Anziehen.
»Salamat«, flüsterte Sienna mit tränenerstickter Stimme. »Danke.«
Die alte Frau tippte sich ans Ohr und gab ihr auf diese Weise zu verstehen, dass sie taub war.
Sienna faltete die Hände, schloss die Augen und senkte den Kopf zum Zeichen des Respekts. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Frau verschwunden.
Sienna verließ die Philippinen sofort, ohne sich von den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe zu verabschieden. Sie erzählte nie jemandem, was ihr widerfahren war. Anfangs glaubte sie noch, die Erinnerung an das Erlebte würde irgendwann verblassen, wenn sie sie immer wieder verdrängte. Doch das schien alles nur noch schlimmer zu machen. Noch Monate später wurde sie von Alpträumen geplagt. Sie fühlte sich nirgends mehr sicher. Sienna betrieb Kampfsport und erlernte schnell die tödliche Kunst des Dim Mak; trotzdem blieb das quälende Gefühl allgegenwärtiger Gefahr.
Ihre Depressionen waren inzwischen schlimmer denn je, und bald fand sie überhaupt keinen Schlaf mehr. Jedes Mal, wenn sie sich die Haare kämmte, fielen große Büschel aus. Zu ihrem Entsetzen war sie binnen weniger Wochen halb kahl. Sie zeigte Symptome, die sie selbst als psychisch bedingten Haarausfall diagnostizierte. Stress war die Ursache dafür, und die einzige Heilung bestand in der Vermeidung von Stress. Doch jedes Mal, wenn Sienna in den Spiegel blickte, sah sie ihren kahlen Kopf, und ihr Herz raste.
Ich sehe aus wie eine alte Frau!
Schließlich blieb ihr keine andere Wahl, als sich den Kopf kahl zu rasieren. Jetzt sah sie zumindest nicht mehr alt aus, sondern nur noch krank. Doch sie wollte nicht wie eine Krebspatientin aussehen; also kaufte sie sich eine Perücke, band sich das blonde Kunsthaar zu einem Pferdeschwanz und sah wenigstens wieder halbwegs so aus wie früher.
Doch im Inneren hatte Sienna Brooks sich verändert.
Ich bin beschädigte Ware.
In dem verzweifelten Bemühen, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, reiste sie nach Amerika und studierte Medizin. Sie hatte schon immer ein Interesse für Medizin gehabt. Vielleicht würde sie sich endlich wieder nützlich fühlen, wenn sie erst einmal Ärztin war. Sie wollte einfach nur irgendetwas tun, um den Schmerz dieser leidenden Welt zu lindern.
Trotz des umfangreichen Lernstoffs fiel ihr das Studium leicht, und während ihre Kommilitonen auch noch abends lernten, nahm Sienna einen Nebenjob als Schauspielerin an, um sich etwas hinzuzuverdienen. Es war zwar kein Shakespeare, doch dank ihrer Begabung kam ihr die Schauspielerei nicht wie Arbeit vor. Das Theater war im Gegenteil eine Zuflucht für Sienna. Dort konnte sie vergessen, wer sie war und jemand anderes sein.
Egal wer.
Seit sie sprechen konnte, war Sienna auf der Flucht vor sich selbst gewesen. Schon als Kind hatte sie ihren eigentlichen Vornamen abgelegt, Felicity, und sich stattdessen für ihren zweiten Namen entschieden, Sienna. Felicity hieß übersetzt ›die Glückliche‹, und glücklich war sie ganz und gar nicht.
Konzentrier dich nicht so sehr auf deine eigenen Probleme, ermahnte sie sich. Konzentrier dich stattdessen auf die Probleme der Welt.
Seit ihrer Panikattacke in den überfüllten Straßen Manilas bereitete ihr die Bevölkerungsexplosion auf der Welt Sorge. In diesem Zusammenhang stieß sie auf die Schriften von Bertrand Zobrist, einem Gentechniker, der eine Reihe äußerst kontroverser Thesen zur Überbevölkerung veröffentlicht hatte.
Er ist ein Genie, erkannte Sienna, als sie seine Arbeiten las. Nie zuvor hatte sie so von einem anderen Menschen gedacht. Je mehr sie von Zobrist las, desto stärker wurde das Gefühl, es mit einem Seelenverwandten zu tun zu haben. Sein Artikel »Du kannst die Welt nicht retten« erinnerte Sienna daran, was man ihr als Kind stets gesagt hatte … und doch glaubte Zobrist genau das Gegenteil.
Du KANNST die Welt retten, schrieb Zobrist. Wenn nicht du, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann sonst?
Sienna studierte Zobrists Gleichungen und las seine Vorhersagen einer malthusianischen Katastrophe und des unmittelbar bevorstehenden Endes der menschlichen Spezies. Sie liebte seine hochwissenschaftlichen Spekulationen, merkte aber auch, dass ihr Stresslevel stieg, wenn sie in die Zukunft sah … die mathematisch garantierte Zukunft … so offensichtlich … unvermeidlich …
Warum sieht das keiner kommen?
Obwohl ihr Zobrists Ideen Angst machten, war Sienna von ihm geradezu besessen. Sie sah sich Videos seiner Vorlesungen an und las alles, was er je geschrieben hatte. Als Sienna hörte, dass er einen Vortrag in den Vereinigten Staaten halten würde, wusste sie, dass sie dorthin fahren musste. Wie sich herausstellte, war dies der Abend, an dem sich ihre Welt veränderte.
Ein Lächeln erstrahlte auf ihrem Gesicht, ein seltener Augenblick des Glücks, als sie an diesen magischen Abend zurückdachte. Erst vor wenigen Stunden – im Zug mit Langdon und Ferris – hatte sie sich schon einmal an diesen Abend erinnert.
Chicago. Der Blizzard.
Januar vor sechs Jahren … aber es fühlt sich wie gestern an. Ich stapfe durch die Schneewehen der windgepeitschten Magnificent Mile. Ich habe den Kragen hochgeklappt. Aber auch die Kälte wird mich nicht von meinem Ziel fernhalten. Heute habe ich die Chance, den großen Bertrand Zobrist zu hören … persönlich.
Der Saal ist fast leer, als Zobrist die Bühne betritt. Er ist groß … so groß. Und hat leuchtend grüne Augen, in denen alle Mysterien der Welt versunken scheinen.
»Zur Hölle mit dem leeren Auditorium«, sagt er. »Gehen wir in die Bar.«
Und dann sind wir da, eine Handvoll von uns, in einer ruhigen Nische, und er spricht von Genetik, Bevölkerungspolitik und seiner neuesten Leidenschaft: dem Transhumanismus.
Alkohol fließt, und ich habe das Gefühl, eine Privataudienz bei einem Rockstar zu haben. Jedes Mal, wenn Zobrist zu mir herübersieht, lösen seine grünen Augen ein unerwartetes Gefühl in mir aus: sexuelle Anziehung.
Das ist völlig neu für mich.
Und dann sind wir allein.
»Danke für diesen Abend«, sage ich zu ihm. Ich bin ein wenig beschwipst. »Sie sind ein fantastischer Lehrer.«
»Schmeichelei?« Zobrist lächelt, beugt sich näher zu mir, und unsere Beine berühren sich. »Mit Schmeichelei erreichen Sie alles.«
Dieser Flirt ist unangemessen, aber es ist eine verschneite Nacht in einem einsamen Hotel in Chicago, und es fühlt sich an, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen.
»Und? Was denken Sie?«, fragt Zobrist. »Nehmen wir noch einen Schlummertrunk auf meinem Zimmer?«
Ich bin wie erstarrt, und ich weiß, dass ich aussehe wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
Ich weiß nicht, wie das geht!
Zobrist zwinkert freundlich. »Lassen Sie mich raten«, flüstert er. »Sie waren noch nie mit einem berühmten Mann zusammen.«
Ich spüre, wie ich erröte, und ich kämpfe gegen eine Woge von Gefühlen an: Verlegenheit, Aufregung, Angst. »Um ehrlich zu sein«, sage ich zu ihm, »war ich noch nie mit einem Mann zusammen.«
Zobrist lächelt und rückt näher. »Ich bin zwar nicht sicher, worauf Sie … worauf du gewartet hast, aber bitte, lass mich der Erste sein.«
In diesem Augenblick verschwinden all die sexuellen Ängste und Frustrationen meiner Jugend … sie lösen sich auf in der verschneiten Nacht.
Dann liege ich nackt in seinen Armen.
»Entspann dich, Sienna«, flüstert er. Seine erfahrenen Hände rufen Gefühle in mir hervor, die völlig neu sind für meinen unerfahrenen Körper.
In Zobrists schützenden Armen habe ich endlich das Gefühl, dass alles in Ordnung ist, und ich weiß, dass mein Leben von nun an einen Sinn hat.
Ich habe die Liebe gefunden.
Und ich werde ihr überallhin folgen.
KAPITEL 80
Auf dem Oberdeck der Mendacium krallte Langdon sich an die Reling aus poliertem Teakholz, während er mit seinen weichen Knien kämpfte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Die Seeluft war abgekühlt, und das Dröhnen der tieffliegenden Passagiermaschinen verriet ihm, dass sie sich dem Flughafen von Venedig näherten.
Es gibt ein paar Dinge, die ich Ihnen über Miss Brooks erzählen muss.
Der Provost und Dr. Sinskey standen neben Langdon an der Reling und schwiegen. Sie behielten ihn aufmerksam im Auge und gaben ihm Zeit, sich zu sammeln. Was sie ihm eben eröffnet hatten, war nicht leicht zu verdauen. Es hatte ihn so aufgeregt, dass Sinskey ihn an die frische Luft gebracht hatte.
Die Meeresbrise war zwar belebend, doch sie half Langdon nicht sonderlich dabei, einen klaren Gedanken zu fassen. Leeren Blickes stierte er auf das Kielwasser des Schiffes und suchte nach einem Fetzen Logik in dem, was er soeben gehört hatte.
Nach den Worten des Provosts waren Sienna Brooks und Bertrand Zobrist schon seit Langem ein Liebespaar. Gemeinsam waren sie in einer Art transhumanistischen Untergrundzelle aktiv. Siennas voller Name lautete Felicity Sienna Brooks, doch sie war auch unter dem Namen FS-2080 bekannt … ein Code, der etwas mit ihren Initialen und dem Jahr zu tun hatte, in dem sie hundert werden würde.
Das alles ergibt einfach keinen Sinn!
»Ich habe Sienna Brooks unter ganz anderen Umständen kennengelernt«, hatte der Provost Langdon erzählt. »Ich habe ihr vertraut. Als sie letztes Jahr zu mir kam und mich bat, mich mit einem potenziellen, wohlhabenden Klienten zu treffen, habe ich zugestimmt. Dieser Klient war Bertrand Zobrist. Er beauftragte das Konsortium, ihn abzuschirmen, damit er unbemerkt an seinem ›Meisterwerk‹ arbeiten konnte. Ich nahm an, er forschte an einer neuen Technologie und hatte Angst vor Produktpiraterie … oder vielleicht führte er Genexperimente durch, die nicht im Einklang mit den Regularien der WHO standen. Ich stellte keine Fragen, aber glauben Sie mir: Ich habe nie auch nur den Hauch eines Verdachts gehegt, er könnte an einem Pathogen forschen.«
Langdon hatte nur verwirrt genickt.
»Zobrist war ein Dante-Fanatiker«, fuhr der Provost fort. »Deshalb hat er sich auch Florenz als Versteck