Inferno - Dan Brown - Kapitel 7
Der Schnappschuss zeigte Sienna Brooks und ihren bärtigen Arztkollegen, die nebeneinander im Flur eines Krankenhauses standen und lachten.
Dr. Marconi, dachte Langdon, gequält von Schuldgefühlen, als er das Foto aufnahm und betrachtete.
Als er es auf den Stapel Zeitschriften zurückstellen wollte, bemerkte er das vergilbte Faltblatt obenauf – ein abgegriffenes Theaterprogramm vom London Globe Theatre. Offensichtlich handelte es sich um eine Produktion von Shakespeares Mittsommernachtstraum … von vor fast fünfundzwanzig Jahren.
Auf dem Deckblatt stand mit Textmarker eine handschriftliche Nachricht. Schatz, vergiss nie, dass du ein Wunder bist.
Langdon nahm das Faltblatt zur Hand, und einige Zeitungsausschnitte fielen heraus und landeten auf dem Schreibtisch. Hastig schlug er das Faltblatt auf, um die Ausschnitte wieder hineinzulegen … und hielt überrascht inne.
Er starrte auf das Foto einer Kinderschauspielerin, die Shakespeares schelmischen Elfen Puck dargestellt hatte. Das Mädchen konnte nicht älter gewesen sein als fünf Jahre, und das blonde Haar war zu einem vertrauten Pferdeschwanz zurückgebunden.
Die Bildunterschrift lautete: Ein Star wird geboren.
Der dann folgende Text war die überschwängliche Biografie eines Wunderkinds – Sienna Brooks – mit einem IQ, der alle Maßstäbe sprengte. Sie hatte in einer einzigen Nacht den Text jeder einzelnen Rolle des Stückes auswendig gelernt und ihren Kollegen während der ersten Proben häufig souffliert. Unter den Hobbys der Fünfjährigen waren Violine, Schach, Biologie und Chemie. Das Kind eines wohlhabenden Ehepaars aus dem Londoner Vorort Blackheath war in wissenschaftlichen Kreisen bereits eine Berühmtheit. Mit vier Jahren hatte Sienna eine Schachpartie gegen einen Großmeister gewonnen, und sie las Bücher in drei Sprachen.
Mein Gott, dachte Langdon. Sienna. Das erklärt einiges.
Langdon erinnerte sich an einen der berühmtesten Absolventen von Harvard, ein Wunderkind namens Saul Kripke, das sich im Alter von sechs Jahren selbst Hebräisch beigebracht und mit zwölf sämtliche Werke von Descartes gelesen hatte. Erst vor Kurzem hatte Langdon von einem jungen Wunderknaben namens Moshe Kai Cavalin gelesen, der im Alter von elf Jahren den Collegeabschluss mit einem Einser-Durchschnitt geschafft, einen nationalen Titel in einer Kampfsportart gewonnen und mit vierzehn Jahren sein erstes Buch mit dem Titel We Can Do geschrieben hatte.
Langdon nahm einen anderen Zeitungsausschnitt zur Hand, der Sienna im Alter von sieben Jahren zeigte: KINDGENIE ERREICHT IQ VON 208.
Langdon hatte nicht gewusst, dass die Skala zur Messung der Intelligenz überhaupt so weit reichte. Dem Bericht zufolge war Sienna Brooks eine virtuose Violinistin, lernte eine neue Sprache innerhalb eines Monats fließend und studierte autodidaktisch Anatomie und Physiologie.
Er überflog einen weiteren Ausschnitt aus einem medizinischen Journal. DIE ZUKUNFT DES DENKENS – NICHT ALLE GEISTER SIND GLEICH.
Dieser Artikel zeigte ein Foto von Sienna, inzwischen vielleicht zehn Jahre alt und immer noch flachsblond, neben einem großen medizinischen Apparat. Der Artikel enthielt ein Interview mit einem Arzt, demzufolge PET-Scans von Siennas Großhirn ergeben hatten, dass es sich physisch von anderen Gehirnen unterschied. Siennas Gehirn war sowohl größer als auch effizienter und besaß die Fähigkeit, räumlich-visuelle Informationen auf eine Weise zu verarbeiten, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen konnten. Der Arzt schrieb Siennas physischen Vorteil einem ungewöhnlich schnellen Zellwachstum im Gehirn zu, ähnlich einer Krebsgeschwulst, nur dass in ihrem Fall das gutartige Gewebe wucherte statt der gefährlichen Krebszellen.
Langdon fand einen Ausschnitt aus einer Kleinstadtzeitung.
DER FLUCH DER BRILLANZ.
Diesmal war kein Foto dabei. Es war die Geschichte eines jungen Genies, Sienna Brooks, das auf normale Schulen zu gehen versucht hatte, jedoch wegen seiner Andersartigkeit von den übrigen Schülern schikaniert worden war. Der Artikel beschrieb die Einsamkeit, die derart begabte junge Menschen empfinden. Ihre sozialen Fähigkeiten können nicht annähernd mit den intellektuellen mithalten, was häufig dazu führt, dass sie von Gleichaltrigen ausgestoßen werden.
Dem Bericht zufolge war Sienna im Alter von acht Jahren von zu Hause weggelaufen und hatte das Kunststück vollbracht, zehn Tage lang unentdeckt zu bleiben. Man hatte sie in einem besseren Londoner Hotel gefunden, wo sie sich als Tochter eines Gasts ausgegeben, einen Schlüssel gestohlen und auf eine fremde Zimmernummer Essen bestellt hatte. Allem Anschein nach hatte sie die Woche damit verbracht, alle 1600 Seiten von Gray’s Anatomy zu lesen. Auf die Frage der Behörden, warum sie ärztliche Fachliteratur lese, hatte sie geantwortet, dass sie herausfinden wolle, was mit ihrem Gehirn nicht stimme.
Langdon fühlte mit dem kleinen Mädchen mit. Er konnte sich kaum vorstellen, wie einsam ein Kind sein musste, das so grundlegend anders war als andere Kinder. Er faltete die Ausschnitte wieder zusammen und hielt inne, um einen letzten Blick auf das Foto der fünfjährigen Sienna in der Rolle des Puck zu werfen. Wenn ich an die fast surreale erste Begegnung mit ihr heute Morgen denke, passt die Rolle des schelmischen Elfs irgendwie zu ihr. Langdon wünschte, er könnte wie die Darsteller im Stück einfach aufwachen und so tun, als wären seine jüngsten Erlebnisse nichts weiter als ein Traum.
Sorgfältig legte er alle Ausschnitte zurück in das Faltblatt und klappte es zu. Als er die Handschrift auf dem Deckblatt sah, überkam ihn eine unerwartete Melancholie. Schatz, vergiss nie, dass du ein Wunder bist.
Sein Blick wanderte nach unten zu dem vertrauten Symbol auf dem Deckblatt – dem gleichen frühgriechischen Piktogramm, das die meisten Theaterprogramme überall auf der Welt verzierte und zu einem Synonym für dramatisches Theater geworden war: Das Maskenpaar, le maschere.
Langdon betrachtete die ikonischen Gesichter von Komödie und Tragödie, die vom Papier zu ihm hochstarrten, und plötzlich hörte er ein merkwürdiges Summen – als würde langsam eine Saite in seinem Kopf straffgezogen. Ein schmerzender Stich durchfuhr seinen Schädel. Geisterhafte Bilder von einer Maske schwebten vor seinen Augen. Er ächzte, ließ sich in den Stuhl fallen, kniff die Augen fest zusammen hielt sich mit beiden Händen den Kopf.
In dieser Dunkelheit kehrten die bizarren Visionen machtvoll zurück … grell und lebendig.
Wieder sah er die silberhaarige Frau mit dem Amulett. Sie rief von der anderen Seite des blutroten Flusses nach ihm. Ihre verzweifelten Rufe waren in der stinkenden Luft klar und deutlich zu hören und übertönten die Schreie der Gefolterten und Sterbenden, die die Landschaft sich windend und zuckend übersäten, so weit das Auge reichte. Abermals sah Langdon das verzweifelt in der Luft zappelnde Beinpaar mit dem aufgemalten R, dessen zugehöriger Oberkörper im Erdreich steckte.
Suche und finde!, rief die Frau Langdon zu. Die Zeit drängt!
Wie zuvor spürte Langdon den überwältigenden Drang, ihr zu helfen … allen zu helfen. Wer bist du?, rief er über den schäumenden roten Fluss hinweg.
Wieder hob die Frau ihren Schleier, um dasselbe atemberaubend schöne Gesicht zu enthüllen, das Langdon schon kannte.
Ich bin das Leben, sagte sie.
Ohne Vorwarnung erschien im Himmel über ihr ein kolossales neues Bild – eine furchterregende Maske mit einer langen, schnabelartigen Nase und zwei glühenden grünen Augen, die Langdon ausdruckslos anstarrten.
Und ich … bin der Tod, dröhnte eine tiefe Stimme.
KAPITEL 8
Langdon riss die Augen auf und sog erschrocken den Atem ein. Er saß noch immer am Schreibtisch der jungen Ärztin, den Kopf in den Händen, mit wild pochendem Herzen.
Was zum Teufel passiert mit mir?
Er sah die silberhaarige Frau und die Schnabelmaske noch lebhaft vor sich. Ich bin das Leben. Ich bin der Tod. Er versuchte, die Vision abzuschütteln, doch sie fühlte sich an wie in sein Gehirn eingebrannt. Auf dem Schreibtisch vor ihm starrten ihn die beiden Theatermasken des Programmhefts an.
Ihre Erinnerungen sind durcheinander und wirr … Vergangenheit, Gegenwart und Imagination … alles zusammengemischt, hatte Sienna ihm erklärt.
Langdon war schwindlig.
In der Küche läutete ein Telefon. Es war ein durchdringender, altmodischer Klingelton.
»Sienna?«, rief Langdon und erhob sich.
Keine Antwort. Sie war noch nicht wieder zurück. Nach zwei weiteren Klingelzeichen schaltete sich ein Anrufbeantworter ein.
»Ciao, sono io«, meldete sich Siennas Stimme fröhlich in der Ansage. »Lasciatemi un messaggio e vi richiamerò.«
Ein Piepton erklang, und eine Frau mit schwerem osteuropäischem Akzent sprudelte voller Panik los. Ihre Stimme hallte durch die Diele. »Sienna, ist Danikova hier! Wo du bist? Hier alles furchtbar! Dein Freund, Dr. Marconi, sein tot! Ganze Hospital spielen verrückt! Polizei hergekommen. Leute sagen zu Polizei, du rennen weg, versuchen Patient zu retten? Warum? Du nicht kennen Patient! Jetzt Polizei suchen dich! Nehmen Akte mit. Ich weiß Informationen falsch – falsche Adresse, falsche Nummern, falsche Visum – so sie dich nicht finden heute, aber bald! Ich versuchen dich zu warnen. Mir tut leid, Sienna, so leid!«
Die Anruferin legte auf.
Langdon spürte wieder Gewissensbisse. Der Nachricht nach zu urteilen, hatte Dr. Marconi Sienna im Krankenhaus arbeiten lassen. Jetzt hatte Langdons Anwesenheit den Arzt das Leben gekostet, und Siennas instinktive Rettungsaktion würde schlimme Konsequenzen für sie haben.
In diesem Moment schloss sich laut eine Tür am anderen Ende der Wohnung.
Sie ist zurück.
Einen Augenblick später plärrte der Anrufbeantworter los. »Sienna, ist Danikova hier! Wo du sein …?«
Langdon verzog das Gesicht. Hastig legte er das Programmheft weg und räumte den Schreibtisch auf. Dann schlüpfte er durch die Diele ins Badezimmer. Er fühlte sich schuldig wegen seines heimlichen Blicks in Siennas Vergangenheit.
Zehn Sekunden später klopfte es leise an der Tür. »Ich hänge Ihnen die Sachen an den Knauf«, sagte Sienna. Ihre Stimme war rau vor Emotion.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Langdon.
»Wenn Sie fertig sind, kommen Sie bitte in die Küche«, fügte sie hinzu. »Ich muss Ihnen dringend etwas zeigen, bevor wir jemanden anrufen.«
Müde ging Sienna durch den kleinen Flur der Wohnung in ihr bescheidenes Schlafzimmer. Sie nahm eine Jeans und einen Pullover aus dem Schrank und betrat damit das Bad.
Vor dem Spiegel sah sie sich in die Augen, dann packte sie ihren dicken blonden Pferdeschwanz und zog fest daran. Die Perücke löste sich von ihrem kahlen Schädel.
Aus dem Spiegel starrte ihr eine haarlose zweiunddreißig Jahre alte Frau entgegen.
Sienna hatte keinen Mangel an Herausforderungen im Leben gehabt. Im Laufe der Zeit hatte sie sich angewöhnt, in der Not auf ihren Intellekt zu vertrauen. Ihre gegenwärtige Zwangslage