Inferno - Dan Brown - Kapitel 67
Ettore nicht auf Anhieb gewusst hatte, wo sich Dandolos Grab befand, legte nahe, dass es woanders sein musste, auf jeden Fall nicht in der Nähe.
Aber wo?
Langdon blickte zu Sienna, die soeben eine Kirchenbank unter den Schacht schob und dann hinaufstieg. Sie öffnete das Fenster und hielt Ferris’ Handy in den Schacht.
Von oben drangen die Geräusche des Markusplatzes herein, und Langdon fragte sich plötzlich, ob es vielleicht doch einen Weg hier hinaus gab. Hinter den Kirchenbänken standen ein paar Klappstühle. Langdon nahm kurz Augenmaß. Der Schacht hinter dem Fenster sah breit genug aus für einen dieser Stühle. Und mithilfe eines Stuhles könnten sie das Gitter am oberen Ende erreichen. Vielleicht lässt es sich ja von innen öffnen …
Langdon ging durch das schummrige Licht auf Sienna zu. Er war erst ein paar Schritte weit gekommen, als ihn ein mächtiger Schlag gegen die Stirn zurückwarf. Der Professor sank auf die Knie. Im ersten Moment glaubte er, angegriffen worden zu sein. Dem war jedoch nicht so, wie er rasch begriff. Er verfluchte sich selbst, weil er nicht mehr daran gedacht hatte, dass die Krypta vor tausend Jahren nicht für Menschen seiner Größe gebaut worden war.
Als er dort kniete und darauf wartete, dass die Sterne vor seinen Augen verschwanden, entdeckte er eine Inschrift auf dem Boden.
Sanctus Marcus.
Er starrte sie für einen langen Augenblick an. Das Besondere an dieser Inschrift war nicht Markus’ Name, sondern die Sprache, in der sie verfasst war.
Latein.
Nachdem Langdon seit seinem Erwachen im Krankenhaus nur modernes Italienisch gehört hatte, verwirrte es ihn ein wenig, den Namen des Heiligen auf Latein geschrieben zu sehen. Doch dann fiel ihm ein, dass die Sprache zum Todeszeitpunkt des Evangelisten die Lingua franca im Römischen Reich gewesen war.
Und noch ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.
Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, also in der Zeit von Enrico Dandolo und dem vierten Kreuzzug, war Latein noch immer die Sprache der Mächtigen gewesen. Ein venezianischer Doge, der dem Römischen Reich durch die Rückeroberung Konstantinopels große Ehre gemacht hatte, wäre nie unter dem Namen Enrico Dandolo beigesetzt worden.
Henricus Dandolo.
Bei diesem Namen kehrte ein weiteres, lange vergessenes Bild zurück und traf Langdon wie ein Schlag. Und obwohl ihm diese Erleuchtung kam, während er in einer Kapelle kniete, wusste er, dass sie nicht göttlichen Ursprungs war. Die Inschrift hatte vermutlich einen schwachen visuellen Reiz ausgelöst, der seinem Verstand half, die Verknüpfung zu einer Erinnerung herzustellen. Das Bild, das so tief in Langdons Gedächtnis vergraben gewesen war, zeigte Dandolos lateinischen Namen … eingraviert in eine alte Marmorplatte, die wiederum in einen reich geschmückten Fliesenboden eingelassen war.
Henricus Dandolo.
Langdon stockte der Atem, als er den schlichten Grabstein des Dogen vor seinem geistigen Auge sah. Ich war schon mal da. Genau wie das Gedicht verhieß, war Enrico Dandolo tatsächlich in einem goldenen Museum begraben – einem Mouseion der Heiligen Weisheit –, doch damit war nicht der Markusdom gemeint.
Als er die Wahrheit erkannte, rappelte Langdon sich langsam auf.
»Ich bekomme noch immer kein Netz«, sagte Sienna. Sie kletterte aus dem Lichtschacht und trat zu Langdon.
»Sie brauchen auch keins«, brachte Langdon mühsam hervor. »Das vergoldete Mouseion der Heiligen Weisheit …« Er atmete tief durch. »Ich … ich habe einen Fehler gemacht.«
Sienna wurde kreidebleich. »Sagen Sie mir jetzt nicht, dass wir im falschen Museum sind.«
»Sienna«, flüsterte Langdon. Ihm war schlecht. »Wir sind nicht nur im falschen Museum. Wir sind im falschen LAND!«
KAPITEL 76
Draußen auf dem Markusplatz legte die Zigeunerin, die die venezianischen Masken verkaufte, gerade eine Pause ein und lehnte sich an die Außenwand des Doms. Wie immer hatte sie sich dafür ihren Lieblingsplatz ausgesucht, eine kleine Nische zwischen zwei Metallgittern im Boden, der perfekte Ort, um schwere Waren abzustellen und den Sonnenuntergang zu genießen.
Die Zigeunerin hatte im Laufe der Jahre schon viele Dinge auf dem Markusplatz erlebt, doch das bizarre Geschehen, das nun ihre Aufmerksamkeit erregte, fand nicht auf dem Platz statt, sondern darunter. Ein lautes Quietschen wie von rostigen Scharnieren ließ die Frau zusammenfahren. Sie blickte durch ein Gitter in den schmalen Schacht darunter, der vielleicht zweieinhalb Meter tief war. Am unteren Ende hatte jemand ein Fenster geöffnet, und ein zusammengeklappter Stuhl wurde in den Schacht geschoben.
Zur Überraschung der Zigeunerin folgte dem Stuhl eine hübsche blonde Frau mit Pferdeschwanz. Sie richtete sich auf und sah nach oben und erschrak, als sie die Zigeunerin über sich erblickte. Die Blondine lächelte nervös und legte den Finger auf die Lippen. Dann klappte sie den Stuhl auf, stieg hinauf und streckte die Hand nach dem Gitter aus.
Dafür bist du viel zu klein, dachte die Zigeunerin. Was machst du da eigentlich?
Die Frau stieg vom Stuhl und sprach mit jemandem im Gebäude. Obwohl sie in dem engen Schacht kaum genug Platz neben dem Stuhl fand, drückte sie sich nun an die Wand, um eine zweite Person hereinzulassen, einen großen, dunkelhaarigen Mann in elegantem Anzug.
Auch er blickte durch das Gitter zu der Zigeunerin hinauf. Dann tauschte er umständlich mit der blonden Frau den Platz und stieg auf den wackeligen Stuhl. Er war größer als seine Begleiterin. Als er sich reckte, gelang es ihm, den Riegel des Gitters zu öffnen. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und stemmte das schwere Gitter hoch. Allerdings hob es sich nur einen Zentimeter, dann verließen den Mann die Kräfte, und das Gitter krachte zurück.
»Può darci una mano?«, rief die blonde Frau zu der Zigeunerin hinauf.
Ich soll euch helfen? Die Zigeunerin hegte nicht die geringste Absicht, sich einzumischen. Was soll das überhaupt werden?
Die blonde Frau zückte eine Geldbörse, nahm einen Hunderteuroschein heraus und wedelte damit herum. Das war mehr Geld, als die Zigeunerin mit ihren Masken in drei Tagen verdiente, doch da Feilschen nichts Unbekanntes für sie war, schüttelte sie rigoros den Kopf und hielt zwei Finger in die Höhe. Die blonde Frau nahm einen zweiten Schein aus der Börse.
Die Zigeunerin konnte ihr Glück kaum fassen. Sie setzte eine gleichgültige Miene auf, zuckte die Achseln zum Zeichen, dass sie das Angebot annahm, und ging in die Hocke. Sie legte die Hände um die Gitterstäbe, dann sah sie dem Mann auffordernd in die Augen.
Als er das schwere Gitter erneut hochstemmte, mobilisierte die Zigeunerin all ihre Kraft. Ihre Arme waren gestärkt vom jahrelangen Schleppen der Waren, und so gelang es ihr, das Gitter anzuheben. Als sie schon glaubte, sie hätte es geschafft, war ein lautes Krachen unter ihr zu hören, und der Mann verschwand. Der Stuhl war unter ihm zusammengebrochen.
Das Eisengitter wurde plötzlich so schwer, dass die Zigeunerin es kaum noch zu halten vermochte, doch die Aussicht auf zweihundert Euro verlieh ihr zusätzliche Kraft. Irgendwie gelang es ihr, das Gitter ganz aufzuklappen.
Außer Atem sah sie hinab zu den beiden gestürzten Gestalten und dem zerbrochenen Stuhl. Als der Mann sich aufrappelte und den Staub vom Anzug klopfte, forderte die Zigeunerin mit ausgestreckter Hand ihren Lohn ein.
Die Frau mit dem Pferdeschwanz nickte, erhob sich ebenfalls und hielt die beiden Scheine hoch. Die Zigeunerin versuchte, das Geld zu greifen … doch die Distanz war zu groß.
Gib dem Mann das Geld, Mädchen.
Plötzlich hallten wütende Stimmen durch das Fenster unten im Schacht. Erschrocken fuhren die beiden herum und drückten sich an die Wand.
Dann brach Chaos aus.
Der dunkelhaarige Mann ergriff die Initiative. Er ging in die Hocke, verschränkte die Hände und bedeutete der Frau, sie als Räuberleiter zu benutzen. Sie tat wie geheißen. Die Geldscheine zwischen die Zähne geklemmt, streckte sie die Arme aus, und der Mann wuchtete sie hoch. Er drückte sie höher und höher, bis ihre Finger schließlich den Rand zu packen bekamen.
Mühsam zog sie sich auf den Platz wie jemand, der aus einem Swimmingpool steigt. Sie drückte der Zigeunerin das Geld in die Hand und wandte sich sofort wieder um. Am Rand des Schachts ging sie in die Hocke und streckte die Hände nach ihrem Begleiter aus.
Es war zu spät.
Mächtige Arme griffen in den Schacht wie die Tentakel eines hungrigen Monsters. Sie packten den Mann bei den Beinen und zerrten ihn nach innen.
»Laufen Sie, Sienna!«, rief der Mann. »Laufen Sie!«
Die Zigeunerin sah, wie sich die schmerzerfüllten Blicke der beiden trafen … dann war es vorbei.
Der Mann wurde grob in den Dom zurückgerissen.
Die blonde Frau starrte entsetzt nach unten, und Tränen traten ihr in die Augen. »Es tut mir ja so leid, Robert«, flüsterte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Alles tut mir leid.«
Einen Augenblick später rannte sie in die Menge. Ihr Pferdeschwanz peitschte hin und her, als sie eine schmale Gasse hinablief … Dann war sie im Herzen Venedigs verschwunden.
KAPITEL 77
Das sanfte Plätschern der Wellen weckte Langdon. Es roch nach Desinfektionsmittel und Meer, und Langdon hatte das Gefühl, als schwankte die Welt unter ihm.
Wo bin ich?
Noch vor wenigen Augenblicken, so schien es, hatte er in Todesangst gegen die starken Hände angekämpft, die ihn aus dem Lichtschacht in die Krypta gezogen hatten. Doch jetzt spürte er seltsamerweise nicht mehr den kalten Boden des Markusdoms unter sich … sondern eine weiche Matratze.
Langdon öffnete die Augen und sah sich um. Er befand sich in einem kleinen, steril wirkenden Raum mit einem einzelnen runden Fenster. Und noch immer schaukelte alles.
Ich bin auf einem Schiff?
Das Letzte, woran Langdon sich erinnerte, war ein athletisch gebauter Soldat in schwarzer Uniform, der ihn zu Boden gedrückt und wütend angezischt hatte: »Jetzt halten Sie endlich still!« Ein zweiter Soldat war hinzugeeilt. Als die beiden Langdon zum Schweigen bringen wollten, schrie er verzweifelt um Hilfe.
»Wir müssen ihn hier rausschaffen«, sagte der muskulöse Kerl.
Sein Partner nickte widerwillig. »Tun Sie’s.«
Dann spürte Langdon, wie eine Hand nach seiner Halsschlagader tastete und fest zudrückte. Kurz darauf verschwamm Langdons Blick, und er merkte, wie er allmählich das