Inferno - Dan Brown - Kapitel 60
rechtzeitig wieder nach vorn, um den Zusammenstoß mit einem anderen Boot zu vermeiden.
Sienna musterte Langdon. »Worauf wollen Sie hinaus? Der verräterische Doge, der die Knochen der Blinden raubte?«
Langdon schürzte die Lippen. »Ich bin mir nicht sicher.«
Rasch erzählte er Sienna und Ferris die Geschichte von den Reliquien der heiligen Lucia. Die Legende um ihre Knochen gehörte zu den seltsamsten in der ganzen Hagiografie. Angeblich hatte sich Folgendes zugtragen: Als die heilige Lucia sich den Annäherungsversuchen eines einflussreichen Verehrers widersetzte, denunzierte der Mann sie und brachte sie auf den Scheiterhaufen. Doch der Legende zufolge weigerte sich ihr Körper, Feuer zu fangen. Und da ihr Fleisch dem Feuer widerstanden hatte, schrieb man ihren Reliquien besondere Kräfte zu. Es hieß, wer auch immer sie besitze, könne sich eines ungewöhnlich langen Lebens erfreuen.
»Magische Knochen?«, wunderte sich Sienna.
»Zumindest glauben das viele. Deshalb sind ihre Knochen auch in der ganzen Welt verteilt. Über zwei Jahrtausende haben die Mächtigen versucht, die Knochen der heiligen Lucia in ihren Besitz zu bringen, um Alter und Tod ein Schnippchen zu schlagen. Ihr Skelett ist im Laufe der Zeit öfter gestohlen, umgebettet und aufgeteilt worden als das jedes anderen Heiligen. Ihre Knochen befanden sich im Besitz von mindestens einem Dutzend der mächtigsten Männer, die je gelebt haben.«
»Einschließlich«, hakte Sienna nach, »eines verräterischen Dogen?«
Suchet den verräterischen Dogen von Venedig, der Rössern den Kopf abschlug und die Knochen der Blinden raubte.
»Durchaus möglich«, antwortete Langdon. Er erinnerte sich, dass die heilige Lucia auch in Dantes Inferno an prominenter Stelle erwähnt wurde. Sie war eine der drei gesegneten Frauen – le tre donne benedette –, die dabei halfen, Vergil heraufzubeschwören, der Dante aus der Unterwelt führen sollte. Da es sich bei den anderen beiden Frauen um niemand Geringeren als die Jungfrau Maria und Dantes innig geliebte Beatrice handelte, war offenkundig, wie sehr Dante Lucia schätzte.
»Wenn Sie damit Recht haben«, sagte Sienna aufgeregt, »hat der verräterische Doge, der Rössern die Köpfe abgeschlagen hat …«
»… auch die Knochen der heiligen Lucia gestohlen«, beendete Langdon den Satz.
Sienna nickte. »Und damit dürfte unsere Liste schon deutlich kleiner sein.« Sie sah zu Ferris. »Funktioniert Ihr Handy ganz sicher nicht? Wir könnten vielleicht im Netz nach …«
»Vollkommen tot«, antwortete Ferris. »Ich habe es gerade selbst versucht. Tut mir leid.«
»Wir sind ja bald da«, sagte Langdon. »Ich bin sicher, dass wir im Markusdom einige Antworten finden werden.«
Der Markusdom war der einzige Teil des Rätsels, der Langdon vollkommen klar war. Das Mouseion der Heiligen Weisheit. Der Professor zählte darauf, dass sich im Dom die Identität des verräterischen Dogen klären würde. Danach würden sie mit ein wenig Glück auch den Palast finden, den Zobrist ausgesucht hatte, um sein Pathogen auf die Menschheit loszulassen. Tief im Versunk’nen Palast … lauert das chthonische Monster.
Langdon versuchte, alle Bilder der Pest aus seinen Gedanken zu verdrängen, doch ohne Erfolg. Er hatte sich schon oft gefragt, wie Venedig, diese unglaubliche Stadt, wohl zu ihrer Blütezeit ausgesehen haben mochte … bevor die Pest sie so sehr geschwächt hatte, dass sie im Anschluss immer mehr von ihrer Macht und ihren Territorien verlor. Damals war Venedig das wirtschaftliche Herz Europas gewesen. Allen Berichten zufolge gab es keine schönere Stadt auf der Welt, und Reichtum und Kultur ihrer Einwohner hatten ihresgleichen gesucht.
Ironischerweise hatte ausgerechnet die Vorliebe der Einwohner für fremdländische Luxusgüter ihren Untergang besiegelt: Ratten in den Laderäumen der Handelsschiffe hatten die Pest von China bis nach Venedig gebracht. Die Pest, die schon unglaubliche zwei Drittel der chinesischen Bevölkerung dahingerafft hatte, erreichte Europa und tötete auch hier rasch jeden dritten, egal ob Jung oder Alt, Reich oder Arm.
Langdon kannte Berichte darüber, wie das Leben zur Zeit der Pest in Venedig gewesen war. Da es in der Stadt so gut wie keine Möglichkeit gab, die Toten in festem Erdreich zu bestatten, trieben die aufgequollenen Leichen in den Kanälen, und in einigen Gebieten waren die Kanäle so von Toten verstopft, dass die Bestatter sie wie Flöße aufs Meer hinausbringen mussten. Kein Gebet schien die Pest in ihrer Wut aufhalten zu können. Als den Mächtigen der Stadt schließlich klar wurde, dass Ratten die Krankheit verbreiteten, war es zu spät. Trotzdem erließ Venedig ein Dekret, demzufolge alle einlaufenden Schiffe vierzig Tage lang weit vor der Stadt ankern mussten, bevor sie ihre Ladung löschen durften. Bis zum heutigen Tag erinnert die Zahl Vierzig – quaranta auf Italienisch – an diese düstere Zeit, denn auf sie geht der Begriff Quarantäne zurück.
Maurizios Boot raste um die nächste Kurve im Kanal. Ein rotes Sonnensegel flatterte im Wind und lenkte Langdon von den finsteren Gedanken an den Tod ab. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das elegante dreiteilige Gebäude zu seiner Linken.
CASINÒ DI VENEZIA: AN INFINITE EMOTION.
Langdon hatte den Sinn der Worte auf dem Banner des Casinos zwar nie so recht verstanden, doch der spektakuläre Renaissancepalast gehörte seit dem sechzehnten Jahrhundert zum Stadtbild von Venedig. Einst ein Privathaus, war er nun eine elegante Spielhalle, die berühmt wurde, als Richard Wagner hier 1883 kurz nach der Uraufführung des Parsifal seinen tödlichen Herzschlag erlitten hatte.
Hinter dem Casino, rechts, hing ein noch größeres Banner an einer reich verzierten Barockfassade und verkündete: CA’ PESARO: GALLERIA INTERNAZIONALE D’ARTE MODERNA. Vor einigen Jahren war Langdon einmal in diesem Museum gewesen und hatte sich Gustav Klimts Meisterwerk Der Kuss angesehen, zu dieser Zeit eine Leihgabe aus Wien. Klimts schwindelerregende Blattgolddarstellung zweier ineinander verschlungener Liebender hatte in Langdon eine große Leidenschaft für das Gesamtwerk des Künstlers geweckt. Bis heute führte er seine Liebe zur modernen Kunst auf jenen Besuch im Ca’ Pesaro von Venedig zurück.
Der Kanal wurde breiter, und Maurizio gab Gas.
Vor ihnen ragte die weltberühmte Rialto-Brücke auf – die Hälfte des Wegs zum Markusplatz hatten sie nun hinter sich. Kurz bevor sie unter der Brücke durchfuhren, hob Langdon den Blick. Eine einsame Gestalt stand regungslos an der Brüstung. Sie starrte ernst zu ihnen herab.
Sie wirkte vertraut … und furchterregend zugleich. Langdon duckte sich instinktiv.
Das Gesicht war gräulich, lang und schmal, mit kalten, toten Augen und einer langen Hakennase.
Als das Boot unter der unheimlichen Gestalt hindurchfuhr, begriff Langdon, dass es nur ein Tourist war, der einen Neuerwerb zur Schau trug: eine der vielen Masken, die jeden Tag auf dem Markt von Rialto verkauft wurden.
Heute jedoch wirkte das Kostüm auf ihn alles andere als charmant.
KAPITEL 69
Der Markusplatz liegt an der Südspitze des Canal Grande, wo die geschlossene Wasserstraße sich mit dem offenen Meer vereint. Unmittelbar an dieser gefährlichen Schnittstelle erhebt sich die strenge, dreieckige Festung Dogana di Mare, das alte Zollamt, dessen Wachturm Venedig einst vor feindlichen Eindringlingen beschützte. Heutzutage steht an der Stelle des einstigen Turms ein massiver goldener Globus und darauf eine Wetterfahne in Gestalt der Göttin Fortuna, deren ständiges Drehen die Seeleute an die Unberechenbarkeit des Schicksals erinnert.
Als Maurizios Boot den Kanal verließ, breitete sich das böige Meer bedrohlich vor ihnen aus. Robert Langdon war diese Strecke schon viele Male gefahren, aber immer in einem größeren Vaporetto. Er wurde ein wenig nervös, als ihr deutlich schmaleres Boot über die stetig größer werdenden Wellen hüpfte.
Um die Anlegestelle am Markusplatz zu erreichen, musste das Boot ein Stück über die offene Lagune, wo sich Hunderte andere Schiffe drängten, von der Luxusyacht bis hin zu Tankern, kleinen Segelbooten und riesigen Kreuzfahrtschiffen. Langdon hatte das Gefühl, als würden sie von einer Landstraße auf eine achtspurige Autobahn einbiegen.
Sienna schien ebenfalls unwohl zumute zu sein. Nervös beäugte sie ein zehnstöckiges Kreuzfahrtschiff, das knapp dreihundert Meter entfernt vor ihnen kreuzte. Auf den Decks wimmelte es von Passagieren, und alle drängten sie sich an die Reling und machten Fotos vom Markusplatz. Im Kielwasser des Schiffes folgten drei weitere und warteten auf ihre Chance, ebenfalls an Venedigs berühmtester Sehenswürdigkeit vorbeizufahren. Langdon hatte gehört, dass die Zahl der Kreuzfahrtschiffe in den letzten Jahren so sehr zugenommen hatte, dass sie inzwischen ständig hier vorbeifuhren, Tag und Nacht.
Maurizio betrachtete die einlaufenden Kreuzfahrtschiffe und blickte dann nach links zu einem nicht weit entfernten überdachten Steg. »Ich kann anlegen an Harry’s Bar.« Er deutete auf das Restaurant, das für die Erfindung des Bellini berühmt war. »Die Piazza San Marco ist nur kurze Fußmarsch weit.«
»Nein, bringen Sie uns bis dorthin«, wies Ferris ihn an und deutete zu den Anlegestellen am Markusplatz.
Maurizio zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Wie Sie wolle. Halten fest!«
Der Motor brüllte auf, und das Boot brach durch die Dünung und fuhr in einen mit Bojen markierten Verkehrsweg. Die vorbeifahrenden Kreuzfahrtschiffe sahen wie schwimmende Apartmentgebäude aus, und kleinere Boote hüpften in ihrem Kielwasser wie Korken.
Zu Langdons Überraschung kreuzten auch Dutzende von Gondeln den Weg der riesigen Schiffe. Ihre schmalen Rümpfe – zwölf Meter lang und gut eine halbe Tonne schwer – lagen erstaunlich stabil in dem rauen Gewässer. Jede Gondel wurde von einem Gondoliere gelenkt, der in seinem traditionellen schwarz-weiß gestreiften Hemd unerschütterlich auf der linken Seite des Hecks stand und ruderte. Selbst in der rauen See war deutlich zu erkennen, dass die Gondeln sich auf mysteriöse Weise nach links neigten, ein Umstand, so hatte Langdon gelernt, der in der asymmetrischen Konstruktion der Boote begründet lag. Der Rumpf jeder Gondel war leicht nach rechts gebogen, weg vom Gondoliere; das sollte verhindern, dass das Boot, das nur rechts gerudert wurde, ständig nach links abtrieb.
Stolz deutete Maurizio auf eine der Gondeln, als sie daran vorbeirasten. »Sehen Sie metallene Ding da?«, rief er über die Schulter hinweg und deutete auf den Kopf am Bug einer Gondel. »Das ist einzige Stück Metall an jede Gondel«, erzählte er. »Wir nennen es ferro di prua, Bugeisen. Ist eine Bild von Venezia.«
Maurizio erklärte weiter, dass der sensenförmige Bugbeschlag in Venedig eine symbolische Bedeutung besaß. Die geschwungene Form des Ferro