Inferno - Dan Brown - Kapitel 59
keine Menschenseele wissen lassen, dass auch Sie hier in Italien danach Ausschau halten.«
Langdon erzählte ihr von seinem Freund Ignazio Busoni, einem Dante-Spezialisten. Busoni könnte ihn auch außerhalb der Öffnungszeiten für Touristen in den Palazzo Vecchio bringen. Dann könnte er sich in aller Ruhe das Gemälde ansehen, auf dem die Worte cerca trova standen, jene Worte, die Zobrist in seinem Bildrätsel versteckt hatte. Vielleicht würde Busoni Langdon sogar dabei helfen, den seltsamen Satz über ›die Augen des Todes‹ zu entschlüsseln.
Sinskey band sich das lange silberne Haar zurück und sah Langdon an. »Suchen und finden Sie, Professor. Uns läuft die Zeit davon.«
Sinskey ging in einen Lagerraum an Bord und holte einen der sichersten Zylinder der WHO zum Transport gefährlicher Materialien: ein Modell mit biometrischem Siegel. Dann nahm sie das knöcherne Rollsiegel und verstaute es darin. »Ich brauche mal Ihren Daumen«, forderte sie Langdon auf und legte den Behälter auf den kleinen Tisch vor ihm.
Langdon sah sie verwirrt an, streckte ihr aber die Hand entgegen.
Sinskey programmierte den Behälter auf Langdons Daumenabdruck. Ab jetzt konnte nur er allein ihn öffnen.
»Betrachten Sie das als tragbaren Safe«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Mit einem Biohazardsymbol?« Langdon wirkte nervös.
»Das ist alles, was wir haben. Aber sehen Sie’s positiv: Das bricht bestimmt niemand freiwillig auf.«
Langdon entschuldigte sich, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und auf die Toilette zu gehen. Während er fort war, versuchte Sinskey, ihm den versiegelten Zylinder in die Jackentasche zu stecken. Unglücklicherweise passte er nicht.
Er kann den Projektor nicht einfach offen mit sich herumtragen. Sinskey dachte kurz nach und ging dann wieder in den Lagerraum, um ein Skalpell und ein Nähset zu holen. Geschickt trennte sie die Naht von Langdons Jacke auf und wandte all ihre Kunst auf, um eine versteckte Tasche in das Innenfutter einzunähen. Sie war genauso groß wie der Zylinder.
Als Langdon wieder zurückkam, brachte sie soeben die letzten Stiche an.
Der Professor blieb stehen und starrte sie an, als hätte sie die Mona Lisa entweiht. »Sie haben die Naht meines Harris Tweeds aufgetrennt?«
»Entspannen Sie sich, Professor«, sagte sie. »Ich bin ausgebildete Chirurgin. Die Stiche sind absolut professionell.«
KAPITEL 68
Der Bahnhof Santa Lucia von Venedig ist ein elegantes, niedriges Gebäude aus grauem Stein und Beton. Er ist in einem modernen, minimalistischen Stil gehalten, mit einer Fassade, die dankenswerterweise keine Symbole aufweist, nur zwei verschnörkelte Buchstaben: FS, die Abkürzung für die staatliche Eisenbahn, die Ferrovie dello Stato.
Weil der Bahnhof am westlichen Ende des Canal Grande liegt, müssen die Passagiere nach ihrer Ankunft in Venedig nur aus der Ausgangstür treten, und sie stehen inmitten all der weltbekannten Sehenswürdigkeiten und riechen und hören die Stadt.
Langdon fiel stets als Erstes die salzhaltige Luft auf, eine frische Meeresbrise vermengt mit dem Aroma der Pizzen, die einige Straßenhändler vor dem Bahnhof verkauften. Heute kam der Wind von Osten und trug auch noch den beißenden Dieselgeruch der Wassertaxis herbei, die im trüben Wasser des Canal Grande auf Fahrgäste warteten. Dutzende von Bootsführern winkten mit den Armen und schrien den Touristen zu, in der Hoffnung, jemanden in ihre Taxis, Gondeln, Vaporetti und privaten Speedboote zu locken.
Chaos auf dem Wasser, sinnierte Langdon und betrachtete den schwimmenden Verkehrsstau. Irgendwie hatte ein Stau, der in Boston so manchen in den Wahnsinn treiben konnte, in Venedig etwas Amüsantes.
Einen Steinwurf entfernt, jenseits des Kanals, ragte die graugrüne Kuppel von San Simeone Piccolo in den Nachmittagshimmel. Die Kirche war ein Sammelsurium diverser architektonischer Stilrichtungen. Ihre ungewöhnlich steile Kuppel und der kreisrunde Chor waren in byzantinischem Stil gehalten, während die von Säulen gesäumte, marmorne Vorhalle offensichtlich dem klassisch-griechischen Eingangsbereich des römischen Pantheons nachempfunden war. Und der Haupteingang wurde von einem spektakulären Giebel gekrönt, den ein Marmorrelief mit einer Heerschar Märtyrer zierte.
Venedig ist das reinste Freilichtmuseum, dachte Langdon. Sein Blick wanderte zum Kanal, wo kleine Wellen an den Fuß der Kirchentreppe schwappten. Ein langsam versinkendes Freilichtmuseum. Im Vergleich zu der Bedrohung, die womöglich unter der Stadt lauerte, schien die Gefahr der Überflutung geradezu unbedeutend.
Und niemand ahnt etwas …
Das Gedicht auf der Rückseite von Dantes Totenmaske ging Langdon nicht aus dem Kopf. Er fragte sich, wo die Verse ihn wohl hinführen würden. Er hatte die Abschrift des Gedichtes in der Tasche. Die Gipsmaske selbst hatte er – auf Siennas Vorschlag hin – in Zeitungspapier eingewickelt und diskret in einem Bahnhofsschließfach verstaut: ein unangemessener Aufbewahrungsort für ein solch wertvolles Artefakt, doch war es dort in jedem Fall sicherer als in einer Stadt voller Wasser.
»Robert?« Sienna war mit Ferris vorausgegangen und winkte einem der Wassertaxis. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Langdon lief zu ihnen. Für jemanden, der sich so für Architektur begeisterte wie er, war es geradezu unvorstellbar, durch den Canal Grande zu rasen. Nur wenige Erfahrungen in Venedig waren schöner, als in einen Vaporetto zu steigen, einen der offenen Wasserbusse der Stadt, und das vorzugsweise nachts. Man konnte sich vorne in den Bug setzen und den Anblick der angestrahlten Kathedralen und Palazzi genießen, während das Boot langsam vorüberglitt.
Heute wird das wohl nichts, dachte Langdon. Die Vaporetti waren berüchtigt für ihre Langsamkeit – jedes Wassertaxi fuhr weit schneller. Unglücklicherweise schien die Schlange der Wartenden am Taxistand vor dem Bahnhof endlos zu sein.
Ferris, offenbar nicht in der Stimmung zu warten, nahm die Sache in die Hand. Mit einem großzügigen Stapel Banknoten winkte er ein Cabriolet herbei, ein blankpoliertes, venezianisches Gefährt aus sogenanntem Afrikanischem Mahagoni. Ein derart elegantes Fahrzeug zu nutzen war zwar übertrieben, doch würde die Fahrt zumindest schnell und privat sein. Bis zum Markusplatz waren es nur fünfzehn Minuten.
Der Fahrer war ein gutaussehender Mann in einem maßgeschneiderten Armani-Anzug. Ein Bootsführer, der eher wie ein Filmstar aussah, doch das hier war immerhin auch Venedig, der Inbegriff italienischer Eleganz.
»Maurizio Pimponi«, stellte sich der Mann vor und zwinkerte Sienna zu, als er sie an Bord willkommen hieß. »Prosecco? Limoncello? Asti?«
»No, grazie«, antwortete Sienna knapp und bat ihn stattdessen, sie so schnell wie möglich zum Markusplatz zu bringen.
»Ma certo!« Maurizio zwinkerte erneut. »Meine Boot ist schnellste in ganz Venedig …«
Während Langdon und die anderen es sich auf den weichen Sitzen im offenen Heck bequem machten, legte Maurizio den Rückwärtsgang ein und lenkte das große Boot geschickt vom Ufer weg. Dann drehte er das Steuerrad nach rechts, gab Gas und manövrierte das Gefährt zwischen den dichtgedrängten Gondeln hindurch. Ein paar Gondolieri in ihren Streifenhemden schüttelten wütend die Faust, als ihre Boote in Maurizios Kielwasser auf und ab hüpften.
»Scusate!«, rief Maurizio entschuldigend. »VIPs!«
Binnen weniger Sekunden hatte er das Gedränge am Bahnhof Santa Lucia hinter sich gelassen, und sie rasten nach Osten über den Canal Grande. Als sie unter dem elegant geschwungenen Ponte degli Scalzi hindurch beschleunigten, roch Langdon den typisch aromatischen Duft einer venezianischen Delikatesse – Seppie al nero, Tintenfisch in eigener Tinte –, der von den Terrassen der Restaurants am Ufer zu ihnen hinüberwehte. Dann fuhren sie um eine Biegung, und die massive Kuppelkirche von San Geremia kam in Sicht.
Langdon entdeckte eine Inschrift auf der Kirchenwand. Es war der Name einer Heiligen. »Santa Lucia«, flüsterte er.
»Wie bitte?« Sienna sah ihn hoffnungsvoll an. Hatte er wieder etwas über das mysteriöse Gedicht herausgefunden?
»Nichts, nichts«, antwortete Langdon. »Nur so ein Gedanke.« Er deutete zu der Kirche. »Siehst du die Inschrift? Dort liegt die heilige Lucia begraben. Dann und wann halte ich Vorlesungen über hagiografische Kunst, christliche Heiligendarstellungen. Mir ist gerade eingefallen, dass die heilige Lucia die Schutzheilige der Blinden ist.«
»Si, Santa Lucia!«, stimmte Maurizio eifrig zu. »Sie ist Heilige der Blinden! Kennen Sie Geschichte, oder?« Ihr Fahrer drehte sich zu ihnen um und schrie über den Motorlärm hinweg. »Lucia war so schöne Frau, dass alle Männer hatten Lust auf sie. Also stach Lucia sich selbst Augen aus, um zu bleiben Jungfrau und rein vor unsere Gott im Himmel.«
Sienna stöhnte. »Das nenne ich mal engagiert.«
»Und als Belohnung für Opfer«, fuhr Maurizio fort, »Gott geben Lucia sogar noch schönere Augen!«
Sienna drehte sich zu Langdon um. »Er weiß schon, dass das keinen Sinn ergibt, oder?«
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, bemerkte Langdon und rief sich die gut zwanzig berühmten Gemälde der Alten Meister in Erinnerung: allesamt Darstellungen der heiligen Lucia, die ihre Augen auf einem Tablett trug.
Zwar gab es zahlreiche unterschiedliche Versionen von der Legende der heiligen Lucia, doch beschrieben alle, wie sie sich eigenhändig die Augen ausstach, die solche Begierde bei den Männern weckten. Sämtliche Legenden schilderten auch, dass sie die Augen ihrem glühendsten Verehrer auf einem Tablett mit den Worten präsentierte: »Hier hast du, was du so sehr begehrst. Und was den Rest betrifft, so flehe ich dich an, lass mich in Frieden!« In gewisser Weise war es unheimlich, dass ausgerechnet die Bibel Lucia zu dieser Selbstverstümmelung inspiriert hatte, oder genauer Jesu berühmte Mahnung: »Und wenn dein Auge dir Anlass zur Sünde gibt, so reiß es aus und wirf es von dir.«
So wurde sie zur Heiligen der Blinden, dachte Langdon und erkannte, dass das gleiche Wort auch in dem Gedicht vorkam. Suchet den verräterischen Dogen von Venedig, der … die Knochen der Blinden raubte.
Verblüfft fragte er sich, ob mit der blinden Person in dem kryptischen Gedicht vielleicht Lucia gemeint war.
»Maurizio!«, rief Langdon und deutete zur Kirche von San Geremia. »Die Knochen der heiligen Lucia sind in dieser Kirche, nicht wahr?«
»Ein paar, ja«, antwortete Maurizio. Er steuerte das Boot geschickt mit einer Hand, blickte zu seinen Passagieren zurück und ignorierte den Verkehr vor sich. »Nicht alle. Santa Lucia sehr beliebt, und ihre Körper ist in Kirchen von ganze Welt. Wir aus Venezia lieben unsere Santa Lucia am meisten, deshalb wir feiern auch …«
»Maurizio!«, rief Ferris. »Die heilige Lucia ist blind, nicht Sie. Augen nach vorne!«
Maurizio lachte gut gelaunt und sah gerade