Inferno - Dan Brown - Kapitel 29
sie endlich vor einer massiven Holztür ankamen. Der Eingang zum alten Palast.
Die Tür war trotz ihres hochmodernen Verriegelungsmechanismus’ mit einer waagerechten Drückstange versehen. Auf diese Weise konnte vom Palast aus kein Unbefugter ohne Schlüsselkarte in den Korridor, wohingegen sich die Tür von innen im Notfall jederzeit öffnen ließ.
Langdon legte das Ohr an das Holz und lauschte. Auf der anderen Seite war nichts zu hören. Er drückte behutsam die Stange nach unten.
Das Schloss klickte.
Langdon schob die massive Holztür ein paar Zentimeter weit auf und spähte durch den Spalt. Ein kleiner Alkoven, leer. Still.
Mit einem erleichterten Seufzer trat er durch die Tür und bedeutete Sienna, ihm zu folgen.
Wir sind drin.
Sie standen in einem Alkoven irgendwo im Innern des Palazzo Vecchio. Langdon versuchte, sich zu orientieren. Vor ihnen verlief ein langer Gang quer zu dem Korridor, aus dem sie gekommen waren. Von links hallten vergnügte Stimmen zu ihnen. Der Palazzo Vecchio war, ähnlich dem United States Capitol Building, Touristenattraktion und Regierungsgebäude zugleich. Zu dieser frühen Stunde gehörten die Stimmen, die Langdon und Sienna vernahmen, aller Wahrscheinlichkeit nach Angestellten, die in ihre Büros kamen und sich auf den Arbeitstag vorbereiteten.
Langdon und Sienna spähten um die Ecke, und tatsächlich: Am Ende des Ganges lag ein Atrium, in dem ein gutes Dutzend Bediensteter herumstand. Die Beamten schlürften ihren morgendlichen Espresso und hielten ein kleines Schwätzchen.
»Das Vasari-Wandgemälde«, flüsterte Sienna Langdon zu. »Sie sagten, es wäre im Saal der Fünfhundert?«
Er nickte und deutete über das lebhafte Atrium hinweg auf einen Portikus, hinter dem ein großer Saal lag. »Unglücklicherweise müssen wir durch das Atrium«, sagte er.
»Sind Sie sicher?«
Langdon nickte. »Das schaffen wir nie, ohne entdeckt zu werden.«
»Das sind Beamte, Robert. Die interessieren sich überhaupt nicht für uns. Gehen Sie einfach an ihnen vorbei, als gehörten Sie hierher.«
Sienna hob die Hand, strich Langdons Brioni-Anzug glatt und richtete seinen Kragen. »Sie sehen sehr stattlich aus, Robert«, sagte sie und bedachte ihn mit einem zurückhaltenden Lächeln. Dann rückte sie ihren Pullover zurecht und setzte sich in Bewegung.
Langdon eilte ihr nach, und beide marschierten zielbewusst in Richtung Atrium. Als sie es betraten, begann Sienna in schnellem Italienisch auf ihn einzureden – irgendetwas von Agrarfördermitteln – und gestikulierte dabei leidenschaftlich mit den Händen. Sie hielten sich an der Außenwand, in vorsichtigem Abstand zu den anderen. Zu Langdons Erstaunen würdigte sie tatsächlich niemand eines zweiten Blickes.
Sie ließen das Atrium hinter sich und eilten weiter. Langdon musste an das Programmblatt des London Globe Theatre denken. Schelmischer Elf. »Sie sind eine talentierte Schauspielerin«, flüsterte er.
»Mir blieb nichts anderes übrig«, antwortete sie seltsam abwesend.
Langdon spürte nicht zum ersten Mal, dass diese Frau mehr Kummer erlebt hatte, als man auf den ersten Blick sah. Wieder regten sich seine Schuldgefühle, weil er sie in diese gefährliche Lage gebracht hatte. Doch daran war im Augenblick nichts zu ändern. Ihnen blieb keine andere Wahl, als die Sache durchzustehen.
Schwimm weiter durch den Tunnel … und bete, dass es einen Ausgang gibt.
Als sie sich dem Portikus näherten, stellte Langdon erleichtert fest, dass sein Gedächtnis ihn nicht im Stich gelassen hatte. Ein kleines Schild mit einem Pfeil zeigte auf den Saal; IL SALONE DEI CINQUECENTO stand darauf zu lesen. Der Saal der Fünfhundert, dachte Langdon und fragte sich, welche Antworten sie finden würden. Die Wahrheit offenbart sich nur durch die Augen des Todes. Was konnte das bedeuten?
»Möglicherweise ist der Eingang noch verschlossen«, sagte Langdon. Der Saal der Fünfhundert war zwar ein beliebtes Touristenziel, doch der Palazzo schien um diese frühe Zeit noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich zu sein.
Unvermittelt blieb Sienna stehen. »Hören Sie das auch?«
Langdon lauschte. Ein lautes Summen, dessen Ursprung unmittelbar hinter einer Ecke zu liegen schien. Bitte lass es keine Drohne sein, dachte Langdon. Vorsichtig spähte er um den Portikus. Dreißig Meter entfernt befand sich eine überraschend einfache Holztür – der Eingang zum Saal. Vor der Tür schob ein stämmiger Hausmeister eine elektrische Bohnermaschine hin und her.
Wächter des Tors.
Langdon richtete den Blick auf das Plastikschild mit den drei Piktogrammen, das neben dem Eingang an der Wand hing. Die Symbole waren selbst für einen Laien unmissverständlich: Eine durchgestrichene Videokamera, ein durchgestrichener Trinkbecher und zwei Strichmännchen, ein Mann und eine Frau.
Langdon atmete tief durch und näherte sich mit raschen Schritten dem Hausmeister. Die letzten Meter rannte er fast. Sienna eilte hinter ihm her.
Der Hausmeister sah überrascht auf. »Signori?«, fragte er und streckte die Arme aus, um die beiden aufzuhalten.
Langdon bedachte den Mann mit einem gequälten Lächeln – mehr eine Grimasse – und deutete entschuldigend auf die Symbole neben der Tür. »Toilette«, erklärte er mit gepresster Stimme. Es war keine Frage.
Der Hausmeister zögerte, und für einen kurzen Moment schien es, als wolle er ihnen die Bitte verwehren. Als er jedoch sah, wie Langdon vor ihm von einem Bein aufs andere trat, nickte er und winkte sie durch.
An der Tür zwinkerte Langdon Sienna zu. »Mitgefühl ist eine universale Sprache.«
KAPITEL 35
Einst war der Saal der Fünfhundert der größte umbaute Raum der Welt gewesen. Er wurde 1494 als Versammlungsort für den Consiglio Maggiore errichtet, den Großen Rat, der genau fünfhundert Mitglieder zählte, was dem Saal zu seinem Namen verhalf. Später war er auf Geheiß von Cosimo I. renoviert und beträchtlich erweitert worden. Cosimo, der damals mächtigste Mann ganz Italiens, hatte den großen Giorgio Vasari als Architekten und Aufseher über die Arbeiten bestellt.
In einer beachtlichen Ingenieursleistung hatte Vasari das Dach ein gutes Stück angehoben und Oberlichter installiert, sodass auf allen vier Seiten Tageslicht in den Saal fiel. Auf diese Weise war ein eleganter Ausstellungsraum für die schönsten Gemälde, Statuen und Büsten von Florenz entstanden.
Langdon widmete stets als Erstes seine Aufmerksamkeit dem Fußboden, der jedem Besucher unmissverständlich klar machte, dass dies kein gewöhnlicher Saal war. Ein großmaschiges quadratisches Gitter aus schwarzem Marmor unterteilte den ansonsten tiefroten Boden in gleich große Bereiche und verlieh der elfhundert Quadratmeter großen Halle eine Aura von Beständigkeit, Tiefe und Balance.
Langsam wanderte Langdons Blick zum anderen Ende des Saals, wo sechs dynamische Skulpturen, Le dodici fatiche di Eracle, die Zwölf Heldentaten des Herkules, die Wand säumten wie eine Phalanx aus Soldaten. Langdon ignorierte die oft verleumdete Figurengruppe von Eracle e Diomede, Herkules und Diomedes, deren nackte Leiber ineinander verschlungen waren; sie trugen einen missverständlich wirkenden Ringkampf aus, der den kreativen Penisgriff des Diomedes zeigte. Langdon verzog bei dem Anblick jedes Mal unwillkürlich das Gesicht.
Weit gefälliger war Michelangelos atemberaubende Skulptur Genio della Vittoria, die die zentrale Nische in der südlichen Wand dominierte. Die über drei Meter hohe Skulptur war ursprünglich für das Grab des erzkonservativen Papa Terribile, Papst Julius II., gedacht gewesen – eine Tatsache, die Langdon stets ironisch vorgekommen war eingedenk der Haltung des Vatikans zur Homosexualität. Die Statue zeigte Tommaso dei Cavalieri, den jungen Mann, mit dem Michelangelo viele Jahre seines Lebens verbracht und für den er mehr als dreihundert Sonette komponiert hatte.
»Ich kann nicht glauben, dass ich noch nie hier gewesen bin!«, flüsterte Sienna mit ehrfürchtiger Stimme. »Das ist … einfach wunderschön!«
Langdon nickte und erinnerte sich an seinen ersten Besuch des Palazzo Vecchio. Damals war er wegen des spektakulären Konzerts der weltbekannten Pianistin Mariele Keymel in Florenz gewesen.
Ursprünglich war der großartige Saal für nicht-öffentliche politische Treffen und Audienzen mit dem Erzherzog gedacht, doch nun diente er seit vielen Jahrzehnten als Veranstaltungsraum für Konzerte, Vorträge und Gala-Diners. Die Prominenz der Moderne ging hier ein und aus: angefangen bei Kunsthistorikern wie Maurizio Seracini bis hin zu der von vielen Stars besuchten Schwarz-Weiß-Gala des Gucci-Museums. Langdon fragte sich nicht zum ersten Mal, was Cosimo I. wohl dazu sagen würde, dass in seinem asketischen Saal von einst nun Partys von Bankern, Models und Schauspielern stattfanden.
Langdon hob den Blick zu den riesigen Fresken an den Wänden. Ihre bizarre Geschichte umfasste eine experimentelle, von Leonardo da Vinci entwickelte Maltechnik, mit der er ein »zerflossenes Meisterwerk« erschaffen hatte. Außerdem hatte es einen »künstlerischen Wettstreit« gegeben zwischen Piero Soderini und Niccolò Machiavelli: Die beiden hatten zwei wahre Titanen der Renaissance, Michelangelo und Leonardo da Vinci, damit beauftragt, einander gegenüberliegende Wände des gleichen Saals mit Fresken zu verzieren.
An diesem Tag jedoch interessierte sich Langdon mehr für eine der anderen historischen Seltsamkeiten des Saals.
Cerca trova.
»Welches Fresko ist von Vasari?«, fragte Sienna. Ihr Blick schweifte suchend über die Wände.
»Mehr oder weniger alle«, antwortete Langdon. Im Zuge der Renovierung des Saals hatten Vasari und seine Assistenten sämtliche Bilder erneuert, angefangen bei den ursprünglichen Fresken bis hin zu den dreiundneunzig Paneelen der berühmten hängenden Kassettendecke.
»Aber dieses Fresko da ist der Grund, weswegen wir hergekommen sind.« Langdon deutete auf das Gemälde an der rechten Wand. »Vasaris Battaglia di Marciano.«
Die Schlachtszene war in jeder Hinsicht gigantisch – dreizehn Meter breit und acht Meter hoch. Sie war ganz in Braun- und Grüntönen gehalten, ein Panorama der Gewalt, in dem Soldaten, Pferde, Speere und Banner in einer malerischen Landschaft aufeinander prallten.
»Vasari, Vasari«, flüsterte Sienna. »Und irgendwo in diesem Gemälde ist eine geheime Botschaft versteckt?«
Langdon nickte und sah mit zusammengekniffenen Augen hinauf zum oberen Drittel des riesigen Freskos. Er suchte die kleine grüne Kriegsflagge, auf der Vasari seine mysteriöse Botschaft hinterlassen hatte, CERCA TROVA. »Von hier unten ist es ohne Fernglas fast nicht zu sehen«, sagte Langdon und deutete auf die Stelle. »Sehen Sie die beiden Bauernhöfe auf dem Hügel? Gleich darunter ist eine winzige, dreieckige grüne Flagge, und …«
»Ich sehe sie!«, sagte Sienna aufgeregt eine Sekunde später.
Langdon wünschte sich die Sehkraft seiner Jugend zurück.
Die beiden traten näher an das Fresko, und Langdon betrachtete es ehrfürchtig. Endlich waren sie da. Das Problem bestand darin, dass er nicht wusste, warum sie hergekommen waren. Schweigend ließ er die Details von Vasaris Meisterwerk mehrere Minuten lang auf sich einwirken.
Wenn ich versage …