Inferno - Dan Brown - Kapitel 15
entsprechenden Informationen darauf. »Das wäre dann alles?« Er erhob sich in der Absicht, das Treffen zu beenden.
Sein Klient blieb sitzen. »Nein. Da wäre noch eine letzte Sache.«
Der Provost setzte sich wieder.
Die Augen des Klienten wirkten jetzt geradezu gehetzt. »Sobald Sie dieses Video abgeliefert haben, werde ich sehr berühmt sein.«
Du bist schon berühmt, dachte der Provost beim Gedanken an die beeindruckende Vita des Mannes.
»Ihnen kommt ein Teil des Verdienstes dafür zu«, fuhr der Klient fort. »Sie haben mir ermöglicht, mein Meisterwerk zu erschaffen … ein Opus, das die Welt verändern wird. Sie dürfen stolz sein auf Ihre Rolle.«
»Was auch immer das für ein Meisterwerk ist, Sir«, sagte der Provost mit wachsender Ungeduld. »Es freut mich, dass Sie die erforderliche Privatsphäre hatten, es zu erschaffen.«
»Zum Zeichen meines Danks habe ich Ihnen ein Abschiedsgeschenk mitgebracht. Ein Buch.« Wieder griff er in die Aktentasche.
Der Provost fragte sich, ob dieses Buch vielleicht das geheime Meisterwerk war, an dem der Klient die ganze Zeit gearbeitet hatte. »Und Sie haben dieses Buch geschrieben?«
»Himmel, nein.« Der Mann wuchtete einen massiven Wälzer auf den Tisch. »Ganz im Gegenteil … Dieses Buch wurde für mich geschrieben.«
Verblüfft betrachtete der Provost den Wälzer. Er glaubt, dieses Buch wurde für ihn geschrieben? Es war ein Klassiker der Literatur … aus dem vierzehnten Jahrhundert.
»Lesen Sie es«, sagte der Klient mit einem schaurigen Lächeln. »Es wird Ihnen helfen zu verstehen, was ich getan habe.«
Mit diesen Worten erhob sich der ungekämmte Besucher und verabschiedete sich. Der Provost sah ihm durch das Fenster seiner Bürosuite hinterher, bis der Helikopter des Mannes abgehoben hatte und auf die italienische Küste zuhielt.
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den antiken Wälzer vor sich auf dem Schreibtisch. Mit unsicherer Hand klappte er den ledernen Einband auf. Die eröffnende Strophe des Werkes war in großer kalligrafischer Schrift verfasst und nahm die gesamte erste Seite ein:
Inferno
Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom rechten Weg
Mich abgewandt.
Auf der gegenüberliegenden Seite hatte der Klient eine handschriftliche Nachricht hinterlassen:
Mein lieber Freund,
ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben, den Weg zu finden. Die Welt wird es Ihnen ebenfalls danken.
Der Provost hatte keine Ahnung, was die Worte bedeuteten, doch er hatte genug gelesen. Er klappte das Buch zu und stellte es ins Regal. Zum Glück wäre die geschäftliche Beziehung zu diesem eigenartigen Individuum bald beendet. Nur noch vierzehn Tage …, dachte der Provost und richtete den Blick auf den dahingekritzelten roten Kreis in seinem Kalender.
In den folgenden Tagen war der Provost ungewöhnlich nervös wegen dieses Klienten gewesen. Der Mann war offensichtlich völlig instabil geworden. Doch trotz der Vorahnungen des Provosts war die Zeit ohne Zwischenfall vergangen.
Bis unmittelbar vor dem entscheidenden Datum, als es in Florenz gleich zu mehreren Pannen in Folge gekommen war. Der Provost hatte vergebens versucht, die Krise in den Griff zu bekommen. Der Höhepunkt war schließlich der Tag gewesen, als sein Klient den Badia-Turm hinaufgeflohen war.
Er ist einfach gesprungen … in den Tod.
Trotz seines Entsetzens darüber, einen Klienten verloren zu haben – insbesondere auf solche Art und Weise –, hielt der Provost sein Wort. Er begann mit den Vorbereitungen, um sein letztes Versprechen gegenüber dem Verstorbenen einzuhalten. Er würde den Inhalt des Schließfachs der silberhaarigen Frau liefern, und zwar exakt zum vereinbarten Zeitpunkt.
Nicht vor dem eingekreisten Datum in meinem Kalender.
Der Provost hatte Vayentha den Umschlag mit dem Zugangscode für das Schließfach übergeben. Sie war nach Florenz gereist, um das Objekt zu holen – jenen »geistreichen Stachel« für die silberhaarige Frau. Dann hatte sie sich mit alarmierenden Neuigkeiten gemeldet. Jemand hatte das Fach bereits geleert, und Vayentha war nur knapp der Verhaftung entgangen. Irgendwie hatte die silberhaarige Frau von dem Schließfach erfahren und ihre Beziehungen genutzt. Sie hatte sich nicht nur Zugriff darauf verschafft, sondern auch einen Haftbefehl gegen jedermann erwirkt, der an das Schließfach wollte.
Das war vor drei Tagen gewesen.
Dem Klienten hatte vorgeschwebt, seine silberhaarige Feindin mit dem Inhalt des Schließfachs ein letztes Mal zu demütigen … mit einer Art höhnischem Gruß aus dem Grab.
Jetzt hat sie diesen Gruß zu früh erhalten.
Seit dieser Panne war im Konsortium verzweifelte Hektik ausgebrochen. Alle Ressourcen wurden ausgeschöpft, um den letzten Wunsch des Klienten zu erfüllen und die Organisation zu schützen. Dabei hatte das Konsortium eine Reihe von Grenzen überschritten … was stets Konsequenzen nach sich zog.
Der Provost starrte auf seinen Schreibtisch und fragte sich, was die Zukunft bringen mochte.
Auf seinem Kalender sah er das eingekreiste Datum.
Der besondere Tag.
Morgen.
Zögernd sah der Provost zu der Flasche auf seinem Tisch. Und dann – zum ersten Mal seit vierzehn Jahren – schenkte er sich ein Glas ein. Er leerte es in einem einzigen Zug.
Unter Deck zog der Koordinator Laurence Knowlton den kleinen roten Memorystick aus dem Port und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch. Das Video gehörte zu den merkwürdigsten Aufnahmen, die er je gesehen hatte.
Und es war exakt neun Minuten lang … auf die Sekunde.
Ungewohnt nervös erhob er sich und marschierte in seinem winzigen Abteil auf und ab. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er dem Provost diesen bizarren Film zeigen sollte.
Erledige deine Arbeit, sagte er sich. Stell keine Fragen. Richte nicht.
Er verdrängte jeden Gedanken an das Video und markierte die Aufgabe in seinem Planer als erledigt.
Am nächsten Morgen würde er die Datei, wie von dem Klienten gewünscht, an die Medien übermitteln.
KAPITEL 18
Die Viale Niccolò Machiavelli gilt als eine der schönsten Straßen von Florenz. Mit ihren weiten S-Kurven, die sich durch eine üppige Landschaft aus Hecken und Laubbäumen schlängeln, ist die Straße bei Ferraristi und Radfahrern gleichermaßen beliebt.
Geschickt steuerte Sienna das Trike durch die Kurven. Die heruntergekommene Wohngegend blieb immer weiter hinter ihnen zurück. Sie passierten eine Kapelle, deren Turmuhr in diesem Moment acht Uhr morgens läutete.
Langdon schossen unablässig verwirrende Bilder von Dantes Inferno durch den Kopf … außerdem dachte er an die geheimnisvolle silberhaarige Frau, die er wenige Minuten zuvor zwischen zwei Soldaten auf dem Rücksitz eines schwarzen Vans gesehen hatte.
Wer auch immer sie ist, dachte Langdon, sie haben sie in ihrer Gewalt.
»Die Frau in dem Van …«, rief Sienna über die Schulter, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Sind Sie sicher, dass es die gleiche Frau ist wie die in Ihren Visionen?«
»Absolut sicher.«
»Dann müssen Sie ihr irgendwann in den letzten zwei Tagen begegnet sein. Die Frage ist, warum Sie sie immer noch sehen … und warum sie Ihnen sagt, dass Sie suchen und finden sollen.«
Langdon pflichtete ihr bei. »Ich weiß nicht … ich kann mich nicht erinnern, ihr begegnet zu sein. Aber immer, wenn ich ihr Gesicht sehe, habe ich das überwältigende Gefühl, ihr helfen zu müssen.«
Very sorry. Very sorry.
Mit einem Mal fragte er sich, ob diese merkwürdige Entschuldigung vielleicht der Silberhaarigen gegolten hatte. Habe ich sie irgendwie im Stich gelassen? Der Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Es war eine grausame Erfahrung. Seit seiner Kindheit konnte er sich auf sein eidetisches Gedächtnis verlassen. Für jemanden, der es gewohnt war, sich immer und überall an jedes Detail seiner Umgebung zu erinnern, fühlte sich eine Erinnerungslücke an wie der Versuch, im Nebel und ohne Radar ein Flugzeug zu landen.
»Ich schätze, Sie finden Ihre Antworten nur, wenn Sie la Mappa entschlüsseln«, sagte Sienna. »Welches Geheimnis die Karte auch immer birgt … sie scheint der Grund dafür zu sein, dass man Sie jagt.«
Langdon nickte. Er dachte an das Wort Catrovacer vor dem Hintergrund sich windender Leiber in Dantes Inferno.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Ich bin in Florenz zu mir gekommen …
Keine andere Stadt der Welt war enger mit Dante Alighieri verbunden. Er war hier geboren, aufgewachsen, hatte sich hier in Beatrice von Florenz verliebt, wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, und war auf grausame Weise aus seiner Heimat exiliert worden, um viele Jahre lang voller Sehnsucht durch Italien zu wandern.
Du wirst dich allem, was du liebst, entwinden, und wirst, wenn dies dir bittern Schmerz erweckt, darin den ersten Pfeil des Banns empfinden, hatte er über seine Verbannung geschrieben.
Während Langdon sich diese ersten Worte des Siebzehnten Gesangs aus Paradiso ins Gedächtnis rief, blickte er über den Arno und auf die fernen Türme des alten Florenz.
Er stellte sich die Altstadt vor – unzählige Touristen, verstopfte Gassen und jede Menge Autos auf den Straßen rings um den berühmten Dom, die Museen und Kapellen, Kirchen und Einkaufspassagen. Wenn sie das Trike stehen ließen, könnten sie vermutlich im Gewirr der Menschen einfach verschwinden.
»Wir müssen in die Altstadt«, rief er Sienna zu. »Wenn es Antworten gibt, dann dort. Das alte Florenz war Dantes Welt.«
Sienna nickte zustimmend. »Außerdem sind wir da sicherer«, antwortete sie über die Schulter. »Jede Menge Versteckmöglichkeiten. Ich fahre in Richtung Porta Romana, und dann überqueren wir den Fluss.«
Der Fluss, dachte Langdon beklommen. Dantes berühmte Reise durch die Hölle hatte mit der Überquerung eines Flusses ihren Anfang genommen.
Sienna gab Gas, und während die Landschaft vorbeihuschte, ging Langdon in Gedanken die Bilder der manipulierten La Mappa dell’Inferno durch. Die Toten und die Lebenden; die zehn Gruben des Malebolge mit dem Pestdoktor und den Buchstaben, die das Wort Catrovacer bildeten; die Worte anstelle der Signatur: Die Wahrheit offenbart sich nur durch die Augen des Todes.
Ob sie ein Zitat aus Dantes Werk waren?
Ich kenne die Stelle nicht.
Langdon war sehr bewandert in Dantes Werk. Er galt als einer der angesehensten Kunsthistoriker mit Spezialisierung auf Ikonografie und Symbole, und so war es nicht verwunderlich, dass man ihn gelegentlich hinzurief, um die große Zahl von Symbolen in Dantes Werken zu interpretieren. Rein zufällig – oder vielleicht auch nicht – hatte er vor zwei Jahren einen Vortrag über Inferno gehalten:
»Göttlicher Dante – Symbole