Illuminati - Dan Brown - Kapitel 70
das Schlimmste annahm und endlich aktiv wurde. Evakuieren Sie den Vatikan! Es wurden genug Spielchen gespielt! Wir haben verloren!
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass all die Katalysatoren, die ihn bisher vorangetrieben hatten – bei der Rettung der Vatikanstadt zu helfen, die vier Kardinäle zu retten, der Geheimbruderschaft gegenüberzutreten, die er so viele Jahre studiert hatte –, dass all dies sich in Luft aufgelöst hatte. Der Krieg war verloren. Ein neuer Funke entfachte seine Leidenschaft. Ein archaisches und ursprüngliches Gefühl.
Vittoria finden.
Er spürte eine unerwartete innere Leere. Langdon hatte oft gehört, dass aufregende Situationen zwei Menschen einander auf eine Weise näher bringen konnten, wie es Jahrzehnte nicht vermochten. Einsamkeit. Der Schmerz verlieh ihm neue Kraft.
Er verdrängte jeden anderen Gedanken und konzentrierte sich. Er betete, dass der Assassine sich vor dem Vergnügen seiner Aufgabe widmen würde. Falls nicht, war Langdon bereits zu spät dran. Nein, sagte er sich. Du hast Zeit. Vittorias Entführer hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Er würde ein letztes Mal aus der Versenkung auftauchen, bevor seine Spur sich für immer verlor.
Der letzte Altar der Wissenschaft, dachte Langdon. Der Killer hatte einen letzten Auftrag. Erde. Luft. Feuer. Wasser.
Er schaute auf die Uhr. Noch dreißig Minuten. Langdon trat am Einsatzleiter der römischen Feuerwehr vorbei zu Berninis Verzückung der Heiligen Teresa. Als Langdon diesmal den Wegweiser anschaute, wusste er ganz genau, wonach er zu suchen hatte.
Lass dich von Engeln führ’n auf deiner Quest’ …
Direkt über der verzückten Heiligen, vor dem Hintergrund vergoldeter Flammen, schwebte Berninis Engel. Seine Hand umklammerte einen Feuerspeer. Langdons Blick folgte der Richtung, in die der Schaft zeigte, zur rechten Seite der Kirche, durch die Wand hindurch. Langdon suchte die Umgebung der Stelle ab, auf die die Spitze deutete. Nichts Außergewöhnliches zu sehen. Doch Langdon wusste, dass der Speer auf einen Ort jenseits der Mauern deutete, in die Nacht, irgendwo in Rom.
»Welche Richtung ist das?«, fragte Langdon, indem er sich mit neu gefundener Entschlossenheit zum Einsatzleiter der pompieri umwandte.
»Richtung?« Der Einsatzleiter sah zu der Stelle, auf die Langdon zeigte. »Ich weiß nicht. Westen, glaube ich …« Er klang verwirrt.
»Welche Kirchen liegen in dieser Richtung?«
Die Verwirrung des Einsatzleiters schien noch zuzunehmen. »Dutzende. Warum?«
Langdon runzelte die Stirn. Natürlich waren es Dutzende. »Ich brauche einen Stadtplan. Schnell!«
Der Einsatzleiter schickte einen Mann nach draußen zum Löschzug. Langdon wandte sich zu der Skulptur um. Erde … Luft … Feuer … Wasser … vittoria.
Der letzte Wegweiser ist Wasser, sagte er sich. Berninis Wasser. Es war irgendwo dort draußen in einer Kirche. Eine Nadel in einem Heuhaufen. Er rief sich sämtliche Werke Berninis ins Gedächtnis. Ich brauche einen Tribut an Wasser!
Die Statue des Triton fiel ihm ein, eines griechischen Meeresgottes; dann aber erinnerte er sich, dass der Tritonsbrunnen hier in diesem Viertel stand, in unmittelbarer Nähe der Kirche; obendrein in der falschen Richtung. Denk nach, Langdon! Denk nach! Was hätte Bernini als Tribut an das Wasser erschaffen? Neptun und Apollo? Unglücklicherweise stand dieses Werk in London, im Victoria & Albert Museum.
»Signore?« Der Feuerwehrmann mit dem Stadtplan kam zurückgerannt.
Langdon bedankte sich bei ihm und breitete die Karte auf dem Altar aus. Sofort wurde ihm bewusst, dass er die richtigen Leute um Hilfe gebeten hatte – der Stadtplan der römischen Feuerwehr war detaillierter als jede andere Karte, die er bisher von Rom gesehen hatte. »Wo befinden wir uns jetzt?«
Der Mann deutete auf die Stelle. »Hier, bei der Piazza Barberini.«
Langdon warf einen weiteren Blick auf den Feuerspeer des Engels, um sich zu orientieren. Der Einsatzleiter hatte richtig geschätzt. Der Karte zufolge zeigte der Speer nach Westen. Langdon fuhr mit der Hand von seiner gegenwärtigen Position nach Westen über die Karte. Seine Hoffnung sank fast augenblicklich. Es schien, als passierte er auf jedem Zentimeter ein weiteres Gebäude mit einem schwarzen Kreuz. Kirchen. Die Stadt war übersät mit Kirchen. Erst in den römischen Vorstädten wurden es endlich weniger. Langdon atmete aus und trat von der Karte weg. Verdammt!
Er betrachtete die ganze Karte und die drei Stellen, an denen die ersten Kardinäle ermordet worden waren. Die Chigi-Kapelle, der Petersplatz, hier …
Als er alle Punkte vor sich ausgebreitet sah, fiel ihm eine Eigentümlichkeit auf. Irgendwie hatte er geglaubt, die Kirchen wären willkürlich über ganz Rom verteilt. Doch das waren sie eindeutig nicht. So unglaublich es war, sie schienen in gleichmäßigem Abstand voneinander zu stehen und ein riesiges Dreieck zu bilden. Langdon schaute noch einmal hin. Es war keine Einbildung. »Penna!«, sagte er unvermittelt und ohne aufzublicken.
Irgendjemand reichte ihm einen Kugelschreiber.
Langdon markierte die drei Kirchen. Sein Puls ging schneller. Er überprüfte seine Markierungen ein drittes Mal. Ein symmetrisches Dreieck!
Langdons erster Gedanke war die Analogie zum Großen Siegel auf der Ein-Dollar-Banknote – doch das ergab keinen Sinn. Er hatte erst drei Punkte gefunden, und es waren insgesamt vier.
Und wo ist das verdammte Wasser? Der vierte Punkt würde das Dreieck zerstören – es sei denn, er befand sich innerhalb des Dreiecks, im Zentrum. Langdon betrachtete die Stelle auf der Karte. Nichts. Der Gedanke ging ihm trotzdem nicht aus dem Kopf. Die vier Elemente der Wissenschaft hatten als gleichwertig gegolten. Wasser war nichts Besonderes gewesen – ganz sicher hatte es nicht im Zentrum der übrigen drei Elemente gestanden.
Trotzdem, so sagte ihm sein Instinkt, konnte die symmetrische Anordnung unmöglich Zufall sein. Ich sehe einfach noch nicht das ganze Bild. Es gab nur eine andere Alternative – die vier Punkte ergaben kein Dreieck, sondern eine andere geometrische Form.
Langdon starrte angestrengt auf die Karte. Vielleicht ein Viereck? Auch wenn ein Viereck keinen symbolologischen Sinn ergab, war es zumindest eine geometrische Form. Langdon legte den Finger auf die Stelle der Karte, die zu einem symmetrischen Viereck führte. Ein perfektes Rechteck oder Quadrat war unmöglich, das sah er sofort. Die Winkel des Dreiecks waren spitz, also war ein Parallelogramm noch am wahrscheinlichsten.
Während er die beiden anderen möglichen Ergänzungen des Dreiecks betrachtete, geschah etwas Unvorhergesehenes. Er bemerkte, dass die Linie, die er vorher gezeichnet hatte, um die Richtung des Engelsspeers zu kennzeichnen, genau durch einen der möglichen Punkte verlief. Verblüfft markierte Langdon die Stelle. Er blickte nun auf vier Markierungen auf der Karte, die einen schiefen Diamanten bildeten, wie ein Papierdrache.
Langdon runzelte die Stirn. Diamanten waren kein Illuminati-Symbol. Er zögerte. Andererseits …
Andererseits gab es den berühmten Illuminati-Diamanten. Doch der Gedanke war lächerlich. Langdon verwarf ihn wieder. Der Diamant auf der Karte war länglich, wie ein Papierdrache eben – kaum ein Beispiel für die makellose Symmetrie, die der Illuminati-Diamant angeblich besaß.
Als er sich über die Karte beugte, um die Stelle zu untersuchen, wo er die letzte Markierung eingetragen hatte, stellte er überrascht fest, dass sie genau in der Mitte der berühmten Piazza Navona lag. Langdon wusste, dass auf der Piazza eine größere Kirche stand, doch soweit ihm bekannt war, gab es in dieser Kirche keine Skulptur von Bernini. Die Kirche hieß Sant’ Agnese in Agone, benannt nach der heiligen Agnes, einer hinreißenden Schönheit und Jungfrau, die zu einem Leben in sexueller Sklaverei verurteilt worden war, weil sie sich geweigert hatte, ihren Glauben zu verraten.
Irgendetwas muss es in dieser Kirche geben! Langdon zermarterte sich das Gehirn in dem Versuch, sich den Innenraum der Kirche vorzustellen, doch er erinnerte sich beim besten Willen nicht an ein Werk Berninis, geschweige denn an eines, das mit Wasser zu tun hätte. Die Anordnung auf der Karte störte ihn ebenfalls. Ein Diamant. Sie war viel zu regelmäßig, um Zufall zu sein, und doch ergab sie keinen Sinn. Ein Drachen? Langdon fragte sich, ob er vielleicht den falschen Punkt ausgewählt hatte. Irgendetwas übersehe ich, aber was?
Es dauerte weitere dreißig Sekunden, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel, und schlagartig verspürte er ein Hochgefühl wie noch nie zuvor während seiner akademischen Laufbahn.
Der Genius der Illuminati, schien es, hatte keine Grenzen.
Der Umriss, auf den Langdon blickte, stellte keinen Diamanten dar.
Die vier Punkte bildeten lediglich deshalb einen Diamanten, weil Langdon benachbarte Punkte miteinander verbunden hatte. Die Illuminati hielten es mit den Gegensätzen! Mit bebenden Fingern verband er die gegenüberliegenden Punkte auf der Karte. Die resultierenden Linien bildeten ein gigantisches Kreuz! Ein Kreuz! Die vier Elemente der Wissenschaft entfalteten sich vor seinen Augen … in einem gewaltigen, stadtgroßen Kreuz über Rom.
Als er voller Staunen auf die Karte starrte, fiel ihm eine Zeile aus Miltons Gedicht ein … und plötzlich sah er sie in einem ganz anderen Licht.
’Cross Rome the mystic elements unfold …
Cross bedeutete Kreuz! Kreuz und quer.
Der Nebel begann sich zu lichten. Langdon sah, dass die Antwort ihm die ganze Zeit über ins Gesicht gelacht hatte. Das Illuminati-Poem hatte ihm von Anfang an gesagt, wie die Altäre ausgelegt waren. In einem Kreuz!
’Cross Rome the mystic elements unfold.
Es war ein wagemutiges Wortspiel. Langdon hatte das Wort »cross« die ganze Zeit über als Abkürzung für »across« interpretiert, für »quer«, und angenommen, dass es ein dichterisches Zugeständnis war, um den Reim zu erhalten. Doch wie viel mehr verbarg sich dahinter! Ein weiterer versteckter Hinweis.
Das Kreuz auf der Karte stellte die ultimative Dualität dar, erkannte Langdon. Ein religiöses Symbol, gebildet von den Elementen der Wissenschaft. Galileos Weg der Erleuchtung war ein Tribut an die Wissenschaften und an Gott zugleich!
Das Puzzle fügte sich zusammen.
Piazza Navona.
Mitten auf der Piazza, direkt vor der Kirche Santa Agnes in Agone, hatte Bernini eines seiner berühmtesten Werke errichtet. Ein Muss für jeden Rom-Besucher.
Die Fontana dei Fiumi – der Vier-Ströme-Brunnen!
Ein lupenreiner Tribut an das Wasser. Berninis Vier-Ströme-Brunnen galt den vier größten Flüssen der damals bekannten Welt – dem Nil, dem Ganges, der Donau und dem Rio de la Plata.
Wasser, dachte Langdon. Der letzte Wegweiser. Alles passte perfekt.
Und mehr noch, quasi das Sahnehäubchen auf dem Kuchen, war die Pyramide hoch