Illuminati - Dan Brown - Kapitel 58
tatsächlich so weit? Stehe ich wirklich im Begriff, die erste Autopsie an einem Papst vorzunehmen?
Es war eine Ironie, dass sie sich in dieser unbeleuchteten Kirche unsicherer fühlte, als würde sie des Nachts mit einem Barrakuda schwimmen. Die Natur war schließlich Vittorias Zuhause. Die Natur jedoch verstand sie. Was aber die Menschen anging und das, was in ihnen vorging, so war sie ratlos. Die Presse, die sich draußen auf dem Petersplatz versammelte, erinnerte sie an Raubfische, die sich zur nächtlichen Jagd einfanden. Die Fernsehbilder von den gebrandmarkten Toten gemahnten sie an den Leichnam ihres Vaters … und das raue Lachen des Mörders. Er lauerte irgendwo dort draußen. Vittoria spürte, wie aufsteigender Hass ihre Angst erstickte.
Sie umrundeten einen gewaltigen Pfeiler, und dann bemerkte Vittoria ein orangefarbenes Leuchten weiter voraus. Das Licht schien aus dem Boden im Zentrum der Basilika zu kommen. Sie näherten sich der Stelle, und Vittoria erkannte, was sie dort sah. Es war das berühmte Heiligtum vor dem Hauptaltar des Petersdoms – die große, prachtvolle Vertiefung, in der die heiligste Reliquie des Vatikans aufbewahrt wurde. Sie kamen vor dem niedrigen Geländer an, das die Vertiefung umgab, und Vittoria sah hinunter auf die goldene Truhe, die von zahllosen flackernden Öllampen umgeben war.
»Das sind wohl die Gebeine des heiligen Petrus?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
Jeder, der den Petersdom besuchte, wusste, was in der goldenen Truhe ruhte.
»Offen gestanden – nein«, antwortete der Camerlengo. »Ein weit verbreiteter Irrtum. Das dort ist kein Reliquienschrein. Die Truhe enthält Pallien – das sind die gewebten Schärpen, die der Papst neu ernannten Kardinälen überreicht.«
»Aber ich dachte …«
»Genau wie jeder andere. Die Reiseführer schreiben, dies sei der Schrein des heiligen Petrus, aber sein wirkliches Grab befindet sich zwei Stockwerke tiefer in der Erde. Der Vatikan hat es in den Vierzigerjahren bei einer Grabung gefunden. Niemand darf dort hinunter.«
Vittoria war schockiert. Während sie sich von der erleuchteten Vertiefung entfernten und wieder von Dunkelheit umfangen wurden, dachte sie an die vielen Geschichten von Pilgern, die Tausende von Kilometern gereist waren, um einen Blick auf diese goldene Truhe zu werfen, in dem festen Glauben, die Gebeine und den Geist des heiligen Petrus vor sich zu haben. »Sollte der Vatikan die Menschen denn nicht aufklären?«
»Wir alle profitieren vom Kontakt mit dem Göttlichen … selbst wenn es nur eingebildet ist.«
Vittoria war Wissenschaftlerin und wusste, dass die Argumentation durchaus den Tatsachen entsprach. Sie hatte zahllose Studien über den Placebo-Effekt gelesen – gewöhnliches Aspirin hatte Krebsleiden geheilt, nur weil die damit behandelten Patienten glaubten, eine Wundermedizin zu nehmen. Aber was war Glaube letzten Endes sonst?
»Veränderung …«, sagte der Camerlengo, »… mit Veränderungen hat der Vatikan sich immer schon schwer getan, Signorina Vetra. Er scheut es traditionell, Fehler der Vergangenheit einzugestehen und die Strukturen der Kirche zu modernisieren. Seine Heiligkeit aber wollte das ändern …« Der Camerlengo stockte. »Er wollte die Kirche in die neue Zeit führen. Nach neuen Wegen zu Gott suchen.«
Vittoria nickte in der Dunkelheit. »Beispielsweise durch die Wissenschaft?«
»Offen gestanden, Wissenschaft erscheint vollkommen irrelevant.«
»Irrelevant?« Vittoria fielen eine Menge Begriffe ein, mit denen sich Wissenschaft beschreiben ließ, doch »irrelevant« gehörte nicht dazu.
»Wissenschaft kann heilen, und Wissenschaft kann töten. Es kommt auf die Seele des Menschen an, der sie benutzt. Und ich interessiere mich für die Seele.«
»Wann haben Sie Ihren Ruf gehört?«
»Noch bevor ich geboren wurde.«
Vittoria blickte ihn fragend an.
»Bitte verzeihen Sie, aber diese Frage erscheint mir stets ein wenig seltsam. Was ich damit sagen möchte: Ich habe immer gewusst, dass ich Gott dienen würde. Von dem Augenblick an, als ich mich zum ersten Mal meines Verstandes bediente. Allerdings war ich bereits ein junger Mann und beim Militär, als mir meine Bestimmung in vollem Umfang bewusst wurde.«
»Sie waren beim Militär?«, fragte Vittoria überrascht.
»Zwei Jahre. Ich weigerte mich, eine Waffe abzufeuern, also wurde ich zum Piloten ausgebildet. Ich flog Sanitätshubschrauber. Offen gestanden, ich fliege auch heute noch hin und wieder.«
»Haben Sie den Heiligen Vater geflogen?«
»Oh, nein! Diese kostbare Fracht haben wir den Profis überlassen. Doch seine Heiligkeit hat mich hin und wieder mit dem Helikopter nach Castel Gandolfo fliegen lassen.« Er zögerte und blickte Vittoria an. »Signorina Vetra, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für Ihre Hilfe an diesem schweren Tag. Und es tut mir sehr Leid wegen Ihres Vaters.«
»Danke sehr.«
»Ich habe meinen Vater nie gekannt. Er starb, bevor ich geboren wurde. Ich verlor meine Mutter, als ich zehn Jahre alt war.«
Vittoria sah überrascht auf. »Sie waren Waise?« Plötzlich spürte sie so etwas wie Seelenverwandtschaft.
»Ich überlebte ein Unglück. Ein Unglück, das mir meine Mutter nahm.«
»Wer hat sich um Sie gekümmert?«
»Gott«, antwortete der Camerlengo einfach. »Er hat mir buchstäblich einen neuen Vater gesandt. Ein Bischof aus Palermo besuchte mich im Krankenhaus und nahm mich bei sich auf. Damals war ich überhaupt nicht überrascht. Ich habe Gottes wachsame Hand schon als Junge über mir gespürt. Das Auftauchen des Bischofs war nur eine Bestätigung für das, was ich bereits vermutet hatte – dass Gott mich ausersehen hatte, ihm zu dienen.«
»Sie glaubten, Gott habe Sie auserwählt?«
»Ja, und ich glaube es immer noch.« Nicht die kleinste Spur von Zweifel schwang in der Stimme des Camerlengos mit, nur Dankbarkeit. »Ich war viele Jahre das Mündel des Bischofs. Eines Tages wurde er Kardinal. Trotzdem hat er mich niemals vergessen. Und er … er ist der Vater, an den ich mich erinnere.« Ein Taschenlampenstrahl verirrte sich in das Gesicht des Camerlengos, und Vittoria bemerkte die Einsamkeit in seinen Augen.
Die Gruppe erreichte einen weiteren der mächtigen Pfeiler, und die Scheinwerferkegel ihrer Lampen trafen sich über einer Öffnung im Boden. Vittoria schaute die Treppe hinunter, die im Dunkel verschwand, und wäre mit einem Mal am liebsten umgekehrt. Die Gardisten halfen dem Camerlengo bereits auf die Stufen. Vittoria war als Nächste an der Reihe.
»Was wurde aus ihm?«, fragte sie, während sie die Stufen hinunterstieg, bemüht, ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu verleihen. »Dem Kardinal, der Sie bei sich aufgenommen hatte?«
»Er hat das Kardinalskollegium verlassen, um eine andere Aufgabe zu erfüllen.«
Vittoria war überrascht.
»Und dann starb er, wie ich voller Trauer sagen muss.«
»Le mie condoglianze«, sagte Vittoria. »Das tut mir Leid. Es ist noch nicht lange her, oder?«
Der Camerlengo wandte sich um, und die tiefen Schatten machten den Schmerz auf seinem Gesicht noch deutlicher. »Genau fünfzehn Tage. Wir gehen jetzt zu ihm.«
84.
Die Lampen erhellten den Tresor nur schwach. Er war viel kleiner als der letzte, den Langdon im Vatikanischen Geheimarchiv betreten hatte. Weniger Luft. Weniger Zeit. Er wünschte, er hätte daran gedacht, Olivetti um das Einschalten der Luftzufuhr zu bitten.
Rasch suchte Langdon nach der Sektion, in der Belle Arti katalogisiert waren. Sie war nicht zu übersehen – fast acht Regale voll. Die Kirche besaß Millionen von Kunstwerken auf der ganzen Welt.
Er suchte in den Regalen nach Giovanni Lorenzo Bernini und kämpfte einen Augenblick lang gegen die aufsteigende Panik, das Buch könnte fehlen; dann stellte er zu seiner Bestürzung fest, dass die Bände nicht alphabetisch geordnet waren.
Erst als er an den Anfang der Regale zurückkehrte und eine Rollleiter hinaufstieg, um die oberen Reihen in Augenschein zu nehmen, begriff er die Organisation des Tresors. Schließlich fand er zuoberst die dicksten Bände von allen, in denen die Werke der Meister der Renaissance katalogisiert waren, Michelangelo, Raphael, da Vinci, Botticelli. Langdon erkannte, dass die Werke nach dem monetären Gegenwert der jeweiligen Kunstsammlungen sortiert waren. Zwischen Raphael und Michelangelo fand er den Band mit dem Titel Bernini. Er war fast zwanzig Zentimeter dick.
Mühsam balancierte Langdon den schweren Band, während er die Leiter hinunterstieg. Dann legte er sich wie ein Kind mit einem Comicbuch auf den Boden und schlug den Folianten auf.
Er war in Stoff gebunden und sehr robust. Die Seiten waren von Hand in italienischer Sprache beschrieben. Jede Seite katalogisierte ein einzelnes Werk, einschließlich einer kurzen Beschreibung, des Datums der Fertigstellung, des Aufstellungsorts, der Materialkosten und manchmal einer groben Skizze des Stücks. Langdon blätterte durch die Seiten … insgesamt mehr als achthundert. Bernini war ein fleißiger Mann gewesen.
Als junger Kunststudent hatte Langdon sich stets gefragt, wie ein einzelner Mann in seinem Leben so viele Werke schaffen konnte. Später hatte er erfahren – sehr zu seiner Enttäuschung –, dass berühmte Künstler tatsächlich nur sehr wenige Arbeiten selbst angefertigt hatten. Sie unterhielten Ateliers und Schulen, in denen Schüler die Arbeiten nach den Entwürfen der Meister ausgeführt hatten. Bildhauer wie Bernini hatten kleine Modelle aus Ton geformt und andere bezahlt, damit sie sie in Marmor vergrößerten. Hätte Bernini all seine Werke selbst schaffen müssen, wäre er wohl heute noch nicht damit fertig.
»Inhaltsverzeichnis!«, sagte Langdon laut zu sich selbst und zwang sich, methodisch vorzugehen. Er blätterte ans Ende des Folianten, um unter »F« wie fuoco zu suchen, doch die F’s standen noch nicht einmal zusammen. Langdon fluchte leise. Was haben diese Leute nur gegen alphabetische Ordnung?
Die Einträge waren offensichtlich chronologisch geordnet, nach dem Datum, so, wie Bernini mit seinen Arbeiten fertig geworden war. Der Index bedeutete also keine Hilfe.
Als Langdon auf die lange Liste starrte, kam ihm ein weiterer entmutigender Gedanke. Der Titel des Werkes, nach dem er suchte, enthielt vielleicht nicht einmal das Wort Feuer. Die vorhergehenden beiden Arbeiten – Habakuk und West Ponente – hatten schließlich auch keinen Hinweis auf Luft oder Erde enthalten.
Er verbrachte kostbare Minuten damit, willkürlich durch das Inhaltsverzeichnis und schließlich durch den Katalog selbst zu blättern in der Hoffnung, dass eine Illustration eine innere Glocke zum Klingen brachte. Nichts. Er sah Dutzende obskurer Arbeiten, von denen er noch nie gehört hatte, aber auch eine Reihe bekannter Arbeiten – Daniel und der Löwe, Apollo und Daphne sowie ein halbes Dutzend Brunnen, was ihn auf einen neuen Gedanken brachte: Wasser.