Illuminati - Dan Brown - Kapitel 56
dem Schirm ein weinendes Kind zu sehen. Die Kamera zoomte auf die Stelle, auf die das Kind zeigte – ein blutender Obdachloser. Unvermittelt trat Robert Langdon ins Bild und versuchte dem Mädchen zu helfen. Die Kamera blieb auf ihn gerichtet.
Jeder im Amtszimmer des Papstes starrte in entsetztem Schweigen auf das Drama, das sich vor ihren Augen auf dem Fernsehschirm abspielte. Der Kardinal fiel mit dem Gesicht voran die Treppe hinunter und auf das Pflaster. Vittoria tauchte auf und rief Befehle. Überall war Blut. Ein Brandmal. Ein schauerlicher, fehlschlagender Versuch einer Mund-zu-Mund-Beatmung.
»Diese erschreckenden Bilder wurden erst vor wenigen Minuten vor dem Vatikan aufgenommen, auf dem Petersplatz«, sagte die Sprecherin. »Unsere Informanten sagen, dass es sich bei dem Toten um Kardinal Lamassé aus Frankreich handelt. Wie er in diese Kleidung kam und warum er nicht im Konklave war, ist zu diesem Zeitpunkt ungeklärt. Bisher hat der Vatikan sich geweigert, Stellung zu nehmen.« Die Aufzeichnung wurde wiederholt.
»Geweigert, Stellung zu nehmen?«, fauchte Hauptmann Rocher. »Gebt uns doch wenigstens Gelegenheit dazu!«
Die Sprecherin fuhr mit erhobenen Augenbrauen fort: »Obwohl msnbc das Motiv für diesen Anschlag noch nicht bestätigen konnte, sagen unsere Informanten, dass eine Gruppe die Verantwortung für die Morde übernommen hat, die sich selbst die Illuminati nennt.«
»Was?«, explodierte Olivetti.
»… mehr über die Illuminati auf unserer Webseite unter …«
»Das ist vollkommen unmöglich!«, erklärte Olivetti und schaltete um.
Der nächste Sender hatte sein Programme ebenfalls unterbrochen. Ein spanisch aussehender Nachrichtensprecher berichtete: »… einen Satanskult, der sich Illuminati nennt. Einige Historiker sind der Ansicht, dass …«
Olivetti drückte wie besessen auf der Fernbedienung herum. Jeder Sender war inmitten einer Sondersendung.
»… Schweizergardisten haben früher am Abend einen Leichnam in der Kirche Santa Maria del Popolo geborgen. Wir nehmen an, dass es sich bei dem Toten um Kardinal Ebner aus Deutschland …«
»… Lichter im Petersdom und in den Vatikanischen Museen sind aus, und die Vermutungen gehen dahin …«
»… werden wir mit dem Konspirationstheoretiker Tyler Tingley über dieses schockierende Wiederauftauchen aus dem Dunkel der Geschichte …«
»… Gerüchte über zwei weitere angekündigte Morde im Verlauf des Abends …«
»… die Frage gestellt werden, ob der aussichtsreichste Kandidat für die päpstliche Nachfolge, Kardinal Baggia aus Italien, unter den Vermissten …«
Vittoria wandte sich ab. Alles ging viel zu schnell. Draußen vor dem Fenster, in der heraufziehenden Dämmerung, strömten die Menschen auf den Petersplatz, unwiderstehlich angezogen von der sich entwickelnden Tragödie. Die Menge wurde von Minute zu Minute dichter. Die Medienvertreter luden ihre Wagen aus und bauten Kameras und Scheinwerferbatterien auf.
Olivetti legte die Fernbedienung hin und wandte sich zu dem Camerlengo um. »Monsignore, ich kann mir nicht erklären, wie das geschehen konnte! Wir haben das Band aus der Kamera genommen!«
Der Camerlengo war zu betäubt, um zu antworten.
Niemand sagte ein Wort. Die Schweizergardisten rührten sich nicht.
»Wie es scheint«, sagte der Camerlengo schließlich mit einer Stimme, die zu niedergeschlagen klang, um ärgerlich zu sein, »haben wir diese Krise nicht so geheim gehalten, wie man mich glauben machen wollte.« Er blickte zum Fenster hinaus auf die wachsende Menschenmenge. »Ich muss zu ihnen sprechen.«
Olivetti schüttelte den Kopf. »Nein, Monsignore. Das ist genau das, was die Illuminati von Ihnen erwarten. Damit würden Sie diese Verbrecher bestätigen, ihnen noch mehr Macht in die Hände spielen. Wir müssen schweigen, Monsignore.«
»Und diese Menschen?« Der Camerlengo deutete zum Fenster hinaus. »Bald werden sich dort Zehntausende versammelt haben! Nicht mehr lange, und es sind Hunderttausende! Wir bringen sie in Gefahr, wenn wir diese Scharade nicht beenden! Ich muss sie warnen! Und anschließend müssen wir das Kardinalskollegium evakuieren.«
»Wir haben noch Zeit. Warten wir, bis Hauptmann Rocher den Behälter mit dieser Antimaterie gefunden hat.«
Der Camerlengo sah Olivetti durchdringend an. »Wollen Sie mir Befehle erteilen, Oberst?«
»Nein, ich gebe Ihnen nur einen Rat, Monsignore. Wenn Sie sich wegen der Menschen draußen sorgen … Wir können den Platz unter irgendeinem Vorwand evakuieren. Aber zuzugeben, dass wir erpresst werden, wäre höchst gefährlich.«
»Herr Oberst, hören Sie mir genau zu. Ich sage das nur einmal. Ich werde dieses Amt nicht dazu missbrauchen, die Welt zu belügen. Wenn ich vor die Menschen trete und zu ihnen spreche, werde ich die Wahrheit sagen!«
»Die Wahrheit? Dass satanische Terroristen drohen, die ganze Vatikanstadt zu zerstören? Das würde unsere Position unnötig schwächen!«
Der Camerlengo funkelte Oberst Olivetti an. »Wie viel schwächer könnte unsere Position denn noch werden?«
Rocher stieß einen Warnruf aus, packte die Fernbedienung und stellte die Lautstärke höher. Alles drehte sich um.
Die Frau auf dem Bildschirm sah nun sichtlich aufgeregt aus. Hinter ihr war ein Foto des verstorbenen Papstes zu sehen. »… sensationelle Informationen. Dies hier kam gerade von bbc herein …« Sie blickte zur Seite, als wollte sie sich bei ihrem Redakteur versichern, ob sie diese Nachricht wirklich verlesen sollte. Als diese Bestätigung offensichtlich kam, wandte sie sich wieder um und schaute in die Kamera. »Die Illuminati haben soeben die Verantwortung für …«, sie zögerte erneut. »Sie haben soeben die Verantwortung für den Tod des letzten Papstes vor zwei Wochen übernommen.«
Der Camerlengo starrte offenen Mundes auf den Bildschirm.
Rocher ließ die Fernbedienung fallen.
Vittoria traute ihren Ohren nicht.
»Nach Vatikanischem Gesetz«, fuhr die Nachrichtensprecherin fort, »ist es nicht gestattet, den verstorbenen Papst einer formellen Autopsie zu unterziehen. Daher kann die Behauptung der Illuminati nicht bestätigt werden. Nichtsdestotrotz behaupten sie, dass die Todesursache nicht Hirnschlag war, sondern Vergiftung.«
Im Amtszimmer des Papstes herrschte einmal mehr Totenstille.
»Das ist Wahnsinn!«, brach es aus Olivetti hervor. »Eine verdammte Lüge!«
Rocher zappte erneut durch die Kanäle. Die Meldung schien sich auszubreiten wie eine Seuche. Auf allen Sendern die gleiche Geschichte. Die Schlagzeilen überboten sich an Sensationsheischerei.
Mord im Vatikan
Papst vergiftet
Satan sucht Haus Gottes Heim
Der Camerlengo wandte den Blick ab. »Gott sei uns gnädig.«
Rocher schaltete weiter. bbc flackerte über den Schirm »… hat mir einen Tipp gegeben, dass in der Kirche Santa Maria del Popolo ein Mord verübt würde …«
»Warten Sie!«, rief der Camerlengo. »Lassen Sie das laufen!«
Rocher gehorchte. Auf dem Schirm war ein Nachrichtenmoderator an seinem Sprechertisch zu sehen. Über seiner Schulter die Fotografie eines eigenartig aussehenden Mannes mit einem roten Bart. Unter dem Foto stand: gunther glick live aus der vatikanstadt. Reporter Gunther Glick war offensichtlich per Telefon mit dem Nachrichtenstudio verbunden. Die Leitung knisterte und rauschte. »… meine Videografin hat die Aufnahmen von dem toten Kardinal gemacht, der von der Schweizergarde aus der Kirche Santa Maria del Popolo geborgen wurde.«
»Lassen Sie mich das für die Zuschauer wiederholen«, sagte der Nachrichtensprecher in London. »Unser Reporter Gunther Glick hat diese Geschichte als Erster gebracht. Er hatte inzwischen zweimal telefonischen Kontakt mit dem angeblichen Assassinen der Illuminati. Gunther, Sie sagen, dass der Assassine erst vor wenigen Augenblicken angerufen und Ihnen eine Botschaft der Illuminati überbracht hat?«
»Genau.«
»Und diese Botschaft besagt, dass die Illuminati verantwortlich sind für den Tod des Papstes?« Der Nachrichtensprecher klang ungläubig.
»Ganz recht. Der Anrufer teilte mir mit, dass der Papst nicht durch einen Schlaganfall starb, wie vom Vatikan angenommen, sondern dass er von den Illuminati vergiftet worden ist.«
Im Amtszimmer wagte niemand zu atmen.
»Vergiftet?«, fragte der Nachrichtensprecher. »Aber … aber wie?«
»Der Assassine hat keine Einzelheiten genannt«, antwortete Glick am Telefon. »Er hat lediglich behauptet, dass der Papst mit einem Medikament umgebracht wurde, das unter dem Namen …«, in der Leitung war das Rascheln von Papier zu hören, »… unter dem Namen Heparin bekannt ist.«
Der Camerlengo, Olivetti und Rocher wechselten verwirrte Blicke.
»Heparin?«, sagte Rocher sichtlich schockiert. »Aber … ist das nicht …?«
Der Camerlengo erbleichte. »Das Medikament, das der Papst jeden Tag nahm.«
»Der Papst nahm Heparin?«, fragte Vittoria ungläubig.
»Er hatte ein Venenleiden«, erklärte der Camerlengo. »Er bekam jeden Tag eine Injektion.«
»Aber Heparin ist kein Gift!«, sagte Rocher verblüfft. »Warum sollten die Illuminati behaupten …?«
»In der falschen Dosis schon«, widersprach Vittoria. »Heparin ist ein Antikoagulans. Eine Überdosis würde massive innere Blutungen und Hirnblutungen hervorrufen.«
Olivetti musterte sie misstrauisch. »Woher wissen Sie das?«
»Ich bin Meeresforscherin. Marinebiologen benutzen Heparin, um Thrombosen bei gefangenen Meeressäugern aufgrund von verminderter Bewegung zu verhindern. Es gab eine Reihe von Todesfällen bei Tieren aufgrund falscher Dosierung.« Sie zögerte. »Eine Überdosis Heparin würde bei einem Menschen zu Symptomen führen, die leicht mit einem Hirnschlag verwechselt werden können … insbesondere, wenn keine richtige Autopsie vorgenommen wird.«
Der Camerlengo schien zutiefst beunruhigt.
»Monsignore«, warf Oberst Olivetti ein, »offensichtlich handelt es sich um einen Trick der Illuminati, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen. Es ist völlig ausgeschlossen, dass jemand dem Papst eine Überdosis dieses Medikaments verabreicht hat. Niemand hatte Zutritt. Doch selbst wenn wir den Köder schlucken und auf diese Behauptung reagieren – was würde es nützen? Die Vatikanischen Gesetze verbieten eine Autopsie. Wir würden nichts herausfinden. Die Autopsie würde Spuren von Heparin zutage fördern, von den täglichen Injektionen, weiter nichts.«
»Zugegeben.« Die Stimme des Camerlengo nahm an Schärfe zu. »Aber das ist es nicht, was mir die größten Sorgen bereitet. Niemand außerhalb des Vatikans wusste, dass der Papst mit Heparin behandelt wurde.«
Schweigen.
»Falls er eine Überdosis erhielt«, sagte Vittoria in die Stille, »würde sein Leichnam Spuren davon aufweisen.«
Olivetti wirbelte zu ihr herum. »Miss Vetra, für den Fall, dass Sie mich nicht verstanden haben – das Vatikanische Gesetz verbietet eine Autopsie des Papstes. Wir werden den Leichnam Seiner Heiligkeit nicht entweihen, indem wir ihn aufschneiden, nur weil ein Feind der Kirche eine beleidigende Behauptung aufstellt.«
Vittoria errötete beschämt. »Ich … ich wollte nicht andeuten …« Sie hatte nicht respektlos erscheinen wollen. »Bitte verzeihen Sie, aber ich wollte damit nicht andeuten, dass der verstorbene Papst exhumiert werden soll …« Sie zögerte. Robert hatte ihr in der Chigi-Kapelle etwas erzählt, das ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Er hatte erwähnt, dass die Sarkophage der Päpste über der Erde blieben und nicht zuzementiert wurden – ein Atavismus, der auf die Zeit der Pharaonen zurückging, als man noch glaubte,